Montag, 30. Oktober 2023

Wiederholung

 



Du grübelst, deine Gedanken drehen sich im Kreis, es sind die immer gleichen. 
Deine Ängste, deine Befürchtungen, deine Sorgen, deine Überzeugungen, sind die immer gleichen. Sie wiederholen sich in Endloschleife, verfolgen dich am Tag, in der Nacht. Du findest keine Ruhe. Immer bist du am wiederholenden Denken.
Und du schweigst.
Du gibst deinen Gedanken keine Antworten.
Du glaubst ihnen ohne Widerrede. Glaubst, dass sie wahr sind. Folgst ihnen, weil dein Gehirn das schon immer tut. Weil es schon immer so war. Das immer gleiche Denken.
Je öfter du denkst, was du immer denkst, desto eingefahrener ist die neuronale Autobahn in deinem Denkapparat. Je öfter du diese Autobahn fährst, desto breiter wird sie. Je breiter die Autobahn ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Autopilot automatisch diese Autobahn nimmt.
Dein Gehirn bevorzugt alles was eingefahren ist, es liebt Wiederholungen. 
Es liebt Gewohnheiten. 
Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Handlung, die oft genug wiederholt wird, verselbstständigt sich und läuft automatisch ab.
Das ist einfach für dein Gehirn.
Du machst es ihm einfach.
Solange du ihm keine Antworten gibst, solange du ihm nicht widersprichst, wird dein Gehirn weiter nur das wiederholen, was es kennt.

Sonntag, 29. Oktober 2023

Aus der Praxis: Die Funktion zwanghaften Denkens

 

                                                                Malerei: A.Wende

 

 

Der Klient klagt ständig. Seine Arbeit gehe ihm nicht aus dem Kopf. Er könne an nichts anderes mehr denken und über nichts anderes mehr reden, sagt er. Auch in jeder gemeinsamen Sitzung ist das alleinige Thema seine Arbeit. Er beklagt sich, wie unerträglich der Chef ist, meint, dass die anderen Mitarbeiter auch Probleme mit ihm haben und dass der endlich weg muss, damit es ihm besser geht.

 Sein ganzes Denken dreht sich zwanghaft um den Chef und Arbeit, die wegen ihm so frustrierend ist.  In seinem Kopf ist permanentes Affengeschnatter, wie es die Buddhisten nennen, ein ruheloser Geist, der wie ein Affe von einem Ast zum anderen springt. 

In einem solchen Geisteszustand sind wir nicht mehr fähig klar zu denken. Wir sind gedanklich nicht da wo wir gerade sind. Der Körper ist anwesend, während der Geist ganz woanders ist. 

 

Die Abneigung und die Wut, die der Klient ständig mit sich herumschleppt, führen dazu, dass er nicht mit sich selbst im Einklang ist. Diese innere Disharmonie hat zur Folge, dass ihm die Aufmerksamkeit fehlt um in die Tiefe zu gehen und eine Lösung zu finden. Wir beschäftigen uns seit Wochen nur mit der Oberfläche des Problems und sind unfähig an die Substanz zu kommen, sprich: das tiefere Problem zu ergründen.

 

Ein Affengeist, der nicht selten zwanghaftes Denken nach sich zieht, ist also zu nichts gut, könnte man meinen. Aber so ist es nicht. Jedes zwanghafte Denken hat eine Funktion, nämlich, dass wir vom wahren Problem – also von der Tiefe, von dem, worum es wirklich geht, abgelenkt sind und uns dem nicht stellen müssen. Es wird abgewehrt.

 

Mein Klient macht sein ganzes Unglück an einem schlimmen Chef fest. Er projiziert und überträgt, was in seinem Leben an Unheilsamen ist – unter anderem ein Suchtproblem, ein massives Selbstwertthema und zwischenmenschliche Probleme in Beziehungen – auf das Außen. Das zwanghafte Denken lenkt ihn von dem ab, was er wirklich anschauen müsste, damit sich an seinem emotionalen Zustand und seiner Lebenssituation Zustand etwas ändern kann.

 

Als ich ihn frage, wenn sie nicht bereit sind, ihren Chef und ihre Arbeitssituation zu akzeptieren, warum suchen Sie sich dann nicht einen anderen Job?, schüttelt er nur müde den Kopf.

 

 Leave it or love it. Machen sie etwas anderes oder akzeptieren sie was ist, sage ich.

 

Auf keinen Fall sei er dazu bereit. Weder das eine noch das andere geht. Er beharrt darauf, dass der Chef weg muss und klagt weiter.

Okay, was könnten Sie bei sich selbst ändern, wenn das auf keinen Fall geht?, frage ich weiter.

 

Ich habe keine Probleme, der Chef ist das Problem, wenn der geht, ist alles gut, kommt als Antwort.

Und, was soll ich jetzt machen?

 

Love it, geht nicht, leave it, geht nicht. Change it, sage ich. Das würde bedeuten, dass wir beide in die Tiefe gehen.

 

Wie oft, geht er mich aggressiv an, soll ich Ihnen noch sagen, ich bin nicht das Problem!

 

Ja, sage ich, sie sind vielleicht nicht das Problem, aber Sie haben Probleme, um nur eins zu nennen, ihr Alkoholproblem.

 

Ich habe kein Alkoholproblem. Was soll ich denn machen, wenn der Job mich kaputt macht, meine Beziehungen nicht funktionieren und ich jeden Abend alleine da sitze? Dann muss ich mich halt runterbeamen. Da reicht eine Flasche Wein nicht um das alles zu schlucken, kontert er.

 

Mit runterbeamen ist runtertrinken gemeint, was er natürlich nie sagen würde, denn dann müsste er seinen Blick vom schlimmen Chef auf sich selbst richten.

Der Klient zeigt keine Bereitschaft. Sein innerer Widerstand ist nicht zu lösen. Die fehlende Bereitschaft in die Tiefe zu gehen ist ein massives Hindernis, an dem weder er, noch ich, noch wir beide gemeinsam weiterkommen.

 

Wenn keine Bereitschaft vorhanden ist, wenn es nur Gründe gibt, warum etwas nicht geht und keine Wege gesehen werden, um etwas zu verändern, ändert sich nichts.Das Problem kann nicht gelöst werden.  

Es bleibt an der Oberfläche und erfüllt damit weiter die Funktion die tiefere Ursache zu verdrängen, weil diese für den Klienten gefühlt unaushaltbar erscheint. Mit einer solchen Haltung dreht sich die unheilsame Spirale nach Unten. Der Geist wird mit immer mehr Frust, Wut und Widerstand gefüttert. Es kommt zu mentalem und körperliche Energieverlust, im Zweifel sogar zu psychischen und/oder körperlichen  Beschwerden. Beide Probleme – jenes, was an der Oberfläche ist und jenes, das im eigenen Inneren ist, kumulieren zur massiven Krise mit hohem Leidensdruck. Das ist dann oft der Moment in dem Menschen erstmals bereit sind etwas zu ändern oder auch nicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mittwoch, 25. Oktober 2023

Grübeln - Fühlen statt Denken

 



Die Gedanken kreisen, wie können nicht aufhören zu grübeln, ein ständiges Affengeschnatter im Kopf. Es ist schwer das abzustellen. Manche Dinge beschäftigen uns so sehr, dass unsere Gedanken darin im wahrsten Sine des Wortes gefangen sind und wir in ihnen. Wir finden den Schlüssel nicht um den Gedankenkäfig aufzuschließen.
Wir versuchen es mit dem Gedankenstopp, es funktioniert nicht, wir versuchen es mit Achtsamkeitsübungen, mit Atmen, mit Meditieren, es funktioniert nicht. 
 
Gedanken, die immer wiederkehren und sich immer wieder um das Gleiche drehen, können zwanghaft werden. Meist geschieht das, wenn wir für etwas keine Lösung finden, wenn wir mit etwas nicht abschließen können, was unabänderlich in der Vergangenheit passiert ist, wenn wir uns ständig nach einem Warum fragen und antwortlos zurückbleiben. Immer ist es etwas, das wir nicht akzeptieren können. Etwas in unserem Leben, das wir, so wie es ist, nicht fassen können oder nicht haben wollen.
 
Wenn zwanghaftes Grübeln und negative Gedanken unseren Ihren Alltag bestimmen, ist das enorm belastend. Wir sind im Dauerstress und nicht bei uns selbst.  
Wir verlieren das Jetzt und sind irgendwo in der Zukunft oder in der Vergangenheit, wir sind nicht präsent. Wir nehmen gar nicht mehr wahr was jetzt ist, wir leben wie in Trance und verlieren den Bezug zur Realität. Wir nehmen das Gute und Schöne, das es in unserem Leben auch gibt nicht mehr wahr oder wir nehmen es wahr, aber es berührt uns nicht.
Wie ein Zombie laufen wir durch die Tage und funktionieren nur noch, aber gefühlt leben wir nicht mehr. Die Macht der negativen Gedanken schnürt jede Leichtigkeit und alle Freude ab und kann im worst case in Ängsten, Panikattacken oder einer Depression enden.
Höchste Zeit etwas zu tun. 
 Aber was denn?, wir haben doch schon alles versucht.
Ja, aber vielleicht nicht konsequent genug. 
 
Alles was wirken soll braucht Wiederholung, Übung und Kontinuität. Methoden gegen negative Gedanken und Grübeleien, erfordern Zeit und Übung, um eine positive Wirkung zu erzielen.
Es hilft nichts, wenn wir ab und zu meditieren, ab und zu eine Atemübung machen, ab und zu den Gedankenstopp machen und es dann wieder sein lassen, weil es nicht gleich klappt. Es hilft nichts, wenn wir ab und zu ein Dankbarkeitstagebuch schreiben und es dann zur Seite legen, weil wir keinen Bock mehr haben. Es hilft nichts, wenn wir unser Tagebuch nicht regelmäßig führen. Es hilft auch nichts uns ständig abzulenken. Spätestens wenn die Ablenkung vorbei ist, sitzen wir wieder im Gedankenkäfig. 
 
All diese Methoden brauchen Disziplin, Wiederholung und Kontinuität. Man kann sich auch nicht zwingen etwas zu akzeptieren oder loszulassen, damit das Denken und Grübeln endlich aufhört, denn Akzeptanz und Loslassen ist ein Prozess.
Es ist vollkommen normal, dass wir manche Dinge nicht so schnell verarbeiten wie wir es gerne hätten, denn dass wir das nicht können, hat ja einen Grund. Unsere Gefühle nämlich. Die lassen sich nicht wegdenken. Sie sind da und sie haben ihre Berechtigung, auch wenn uns jemand etwas anderes erzählen will. Auch wenn wir mit dem Verstand genau wissen, dass wir uns unsere destruktiven Gedanken sparen können, weil sie nichts ändern und wir nur leiden, die Gefühle machen da nicht mit.
 
Darum kann es hilfreich sein uns, wenn wir belastende Gedanken nicht los werden, zu fragen: Welches Gefühl steckt dahinter?
Und uns dann dem Gefühl zuwenden und es da sein lassen, bis es sich auflöst. Und es löst sich auf, wenn es da sein darf. Wenn wir den inneren Widerstand aufgeben und es da sein lassen.
Ein Beispiel: Eine Beziehung zu Ende. Wir grübeln über diese Beziehung nach, wir fragen uns warum alles kam wie es ist, was schief gelaufen ist, was wir uns gegenseitig angetan haben, was uns verletzt hat und und und. Das sind endlose Fragen ohne befriedende Antworten. Ein endloses, sinnloses Grübeln, das an der Trennung nichts ändert. Und im Grunde wissen wir ja, warum sie gescheitert ist.
Wenn wir uns aber fragen: Was sind meine Gefühle hinter all den Gedanken?, werden wir gewahr: Da ist Schmerz, da ist Trauer, da ist Sehnsucht nach den guten Tagen, nach dem Menschen, der am Anfang so wunderbar war und dann nicht mehr oder wir haben Sehnsucht nach Beziehung überhaupt. Da ist das Gefühl von Verlassenheit und Einsamkeit, da sind Gefühle von Angst, Groll, Wut, Schuld oder Scham.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gefühle richten, brechen wir aus dem Denken aus – wir kommen bei uns selbst an und dem, was wirklich ist – nämlich unser emotionaler Zustand. Und den erkennen wir an. Mehr nicht. Einfach anerkennen.
 
Ja ich fühle Trauer. Es ist okay!
Ja, ich fühle Schmerz. Es ist okay!
Ja, ich fühke Wut. Es ist okay!
Es ist okay, weil es normal ist so zu fühlen. Es darf sein. Was ich fühle darf sein. Ich muss das nicht wegmachen.
Und dann wenden wir uns dem zu, was wir jetzt für unsere Gefühlslage tun können.
Welches Bedürfnis ist jetzt da?
Und wie kann ich es mir erfüllen?
Was genau brauche ich jetzt?
Bei Trauer z.B. dürfen wir Weinen und Trost suchen. Wir steigen aus dem Grübeln aus und kommen bewusst ins Fühlen und dann ins Handeln, zu unserem Besten, um zu genesen.

Samstag, 21. Oktober 2023

Aus der Praxis: "… Ich bin, was ich beschließe zu werden“


 

 

 

Für alle Menschen, die Traumata und/oder Schicksalsschläge erlebt haben, ist die Genesung ein Prozess. Dieser Prozess dauert in der Traumaarbeit meist mehrere Jahre und umfasst vieles. Erlebtes durcharbeiten und neu bewerten, Glaubenssätze identifizieren und sich von ihnen disidentifizeren, Selbstwertgefühl und Selbstberuhigungskompetenz stärken, innere und äußere Blockaden beseitigen, Verstrickungen erkennen und lösen, und und und.
Eine Menge Arbeit, eine Menge Anstrengung und vor allem - die Zuversicht nicht verlieren ist in diesem Prozess essentiell wichtig. Dieser Prozess verläuft nicht linear, sondern eins fließt ins andere. Er ist auch keine einmalige Angelegenheit mit klar definiertem Anfang und Ende, dieser Prozess beginnt immer wieder von neuem. Jeder Heilungsprozess ist individuell und hängt von jedem einzelnen Menschen selbst ab. Er hängt nicht von der Stärke oder Anzahl von Traumata ab, auch nicht von der Wucht eines Schicksalsschlages, sondern wie der Betroffene, das, was ihm widerfährt, empfindet, oder wie es der Traumaexperte Dr. Gabor Mate in seinem Buch „Vom Mythos des Normalen“ auf den Punkt bringt: "Trauma – aus dem Griechischen für „Wunde“ – „ist nicht das, was dir passiert; es ist das, was in dir als Ergebnis dessen passiert, was dir passiert. Es ist nicht der Schlag auf den Kopf, sondern die Gehirnerschütterung, die ich bekomme."
Genauso ist es beim Schicksalsschlag, jeder Kopf, jede Seele empfindet anders. Jeder Organismus ist anders, jede Erziehung ist anders, Gene und Bindungserfahrung sind anders, jeder Körper ist anders, jede Haltung zum Leben ist anders, jeder Geist ist anders, kurz - kein Mensch gleicht dem anderen. Die einen sind hart im Nehmen, die anderen fragil wie Glas. Auch die Fähigkeit der Resilienz ist nicht jedem gegeben und sie kann sich nach zu vielen Schicksalsschlägen und traumatischen Erfahrungen sogar verlieren. Das ist dann der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen lässt: ein Mensch bricht zusammen, der zuvor alles Schwere gemeistert und überwunden hat.


Wenn wir Trauma erleben mussten, sitzt das fest. Es löst sich nicht von selbst. Es kann zu einer PTBS kommen, bei manchen lebenslang. Es ist nicht alles heilbar, das müssen wir demütig anerkennen. Und nicht jeder ist heilbar, denn Genesung hat viel mit der Person selbst zu tun. Aber sind wir deshalb ein Leben lang an Vergangenes gefesselt? Die Antwort ist: Nein! Es gibt Wege, uns zu entfesseln – die Frage ist nur: Was das bedeutet und zwar allein für uns selbst. Welche Vorstellungen wir davon haben.
 

Heilung bedeutet nicht – alles wird wie früher und es bedeutet auch nicht Neuwerdung, wie manche meinen. Heilung kann auch bedeuten – genesen. Das Wort ist mir persönlich lieber als das große Wort „Heilung“. Was kaputt ist wird nicht mehr heil, aber wir können die Wunde versorgen, damit sie sich schließt und nicht mehr schmerzt, oder vielleicht ab und an, wenn das Wetter umschlägt, so wie wir es von körperlichen Narben kennen. Wir lernen damit zu leben, mit dem was unveränderbar ist und hören auf es ändern zu wollen. Wir hören auf mit: „Es soll endlich weggehen, ich muss das endlich loslassen!“
Manches geht nicht weg und manches lässt sich nicht loslassen.
Aber es lässt sich anders sehen und neu bewerten. Wir hören auf uns damit zu identifizieren, wir erkennen es an, weil es zu unserer Biografie gehört, auch wenn es schmerzhaft war. Wir hören auf uns als Opfer zu denken und zu fühlen, auch wenn wir Opfer waren. Klingt paradox, hilft aber. Zum einen mitfühlend anerkennen: Ich war Opfer und zum anderen: Ich bin jetzt kein Opfer mehr, weil ich jetzt nicht mehr ohnmächtig, sondern handlungsunfähig bin – ich bin jetzt der Mensch, der gestalten kann.


„Ich bin nicht das, was mir passiert ist, ich bin, was ich beschließe zu werden“ schrieb Carl Gustav Jung


Und damit reiht er sich in all jene Menschen ein, die Opfer waren wie z.B. Viktor Frankl, Edith Eger, Dr. Gabor Maté, denen Grausames widerfahren ist. Diese Menschen sind bewusste, kluge, empathische Menschen, die sich entschieden haben, sich über ihre Traumata und die, die sie verursacht haben, zu erheben. Sie beschlossen zu „werden“.
Warum kann das nicht jeder? Ich habe mich das oft gefragt. Oder zunächst: Warum können diese Menschen das?
Unter anderem, weil sie vergeben haben, ist meine Antwort. Sie haben den Tätern vergeben. Sie haben sich sich selbst zugewandt, sie haben sich für ihre Genesung entschieden und sie haben sich einer Aufgabe verschrieben, die Aufgabe anderen zu helfen, als Psychoanalytiker, als Psychiater, als Arzt, als Therapeutin, als Autor, als Autorin. Sie haben einen Sinn gewählt, der über sie selbst hinaus geht. Der Focus dieser Menschen liegt auf der Aufgabe, die sie sich gestellt haben und nicht auf ihrem Trauma. Er liegt darauf aus diesem Trauma zu lernen, an ihm zu wachsen, es zu nutzen, es zu wandeln und andere, mittels ihrer Erfahrungen und ihres Wissens, zu unterstützen auch der zu werden, der sie sein wollen.


Bitte nicht falsch verstehen – das soll nicht heißen, alle anderen machen etwas falsch. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, aber es gibt hilfreich und nicht hilfreich. Es ist immer der eigene Weg, der zur Genesung führt, der, der sich stimmig anfühlt, der Schritt für Schritt fühlbar und erlebbar Genesung bringt. Es ist ein: den Weg gehen und nicht aufhören ihn zu gehen. Es gibt nicht die eine Methode, die allen Menschen gleich hilft. Es gibt viele Methoden und Wege, aber was entscheidend ist, das sagt meine Erfahrung über all die Jahre meines Wirkens ist Bereitschaft, Geduld und die Fähigkeit dem, was war, einen Sinn zu verleihen und dem Jetzt einen selbstgewählten Sinn zu geben – und sei es der, zu genesen.
 

Jede Art der Abwehr, jedes: „Ich will das so nicht haben!“, jedes: „Ich bin Opfer und werde es immer sein, ist eine Blockade, die Genesung unmöglich macht. Denn damit würde man den Kern des Schmerzes umgehen.


Man kann seine Geschichte nur selbst aufarbeiten. Und man muss es auch wirklich wollen. Man kann sich Hilfe suchen beim Aufarbeiten, auch das muss man wirklich wollen. Und man muss die Hilfe annehmen wollen. Nur was wir aufgearbeitet haben kann sich wandeln. Es kann eine neue Form annehmen, auch wenn der Inhalt der gleiche bleibt.
Neulich sagte eine Klientin zu mir: Hätte meine Mutter mich nicht gehasst und geschlagen und hätte mein Vater nicht gesoffen, wäre ich beziehungsfähig geworden. Ich hätte ein gutes Leben gehabt.“ Sie ist so davon überzeugt, dass das Schlimme, was ihr widerfahren ist, der Grund für alles ist, was sie im späteren Leben nicht erfahren durfte, dass sie zwanghaft jedes Mal, sobald ich mit ihr gemeinsam versuche die Dinge neu zu bewerten, sofort zurückfällt in ihre Überzeugung. Es darf nicht gut sein! Es war zu furchtbar. Damit wird es auch nicht gut oder zumindest besser. Durch den Groll und das Festhalten an der Opferrolle fügt sie sich selbst weiteren Schmerz zu und baut eine undurchdringliche Mauer auf. Aus Schmerz wird Leiden. Wie kann sich so eine Liebesbeziehung entwickeln, wie kann sich so das Leben zum Besseren wenden, wenn diese Blockade vorhanden ist? Die Blockade schreit ja förmlich: „Ich bin machtlos!“


„Ich bin nicht machtlos!“ Das ist die Wahrheit, wenn ich sie glauben will, wenn ich die Bereitschaft habe, zu glauben. Dann kann Genesung beginnen. "… ich bin, was ich beschließe zu werden“. Damit beginnt der Weg aus der Ohnmacht in die Handlungsbereitschaft.
Es geht nicht um Wegmachen oder Neuwerden – es geht darum aus dem, was war, das zu machen, was werden soll. Es geht nicht um neu erfinden oder ums unbedingte Loslassen – es geht um die Integration des Traumas, als Teil unseres Seins und es geht darum dieses Sein selbst zu gestalten um der Mensch zu werden, der wir sein wollen.
Ja, das ist in der Tat schwer, aber nichts ist unmöglich. Daran glaube ich. Es sei denn, ich sage: „Auch wenn ich weiß, dass ich noch könnte, ich weiß nicht, ob ich noch will.“ Auch das ist eine Entscheidung, die ich mir selbst vorbehalte, wenn ich einmal nicht mehr will.  
 
 
 


Mittwoch, 18. Oktober 2023

Spaltung

 

                                                                      Foto: www

 
Das menschliche Bewusstsein und die Gesellschaft erleben gerade eine extreme Veränderung. Es kommt mehr und mehr zu einer großen Spaltung der Menschheit. Eingeleitet wurde diese Spaltung durch die Coronapandemie, die die Menschen weltweit voneinander getrennt hat, physisch und in der Folge emotional und auf Seelenebene. Freundschaften sind zerbrochen, Familien sind zerbrochen, Beziehungen jeder Art sind zerbrochen. Die Menschen haben sich in zwei Lager gespalten anstatt gemeinsam die Krise zu bewältigen. Statt Verbundenheit und gegenseitige Unterstützung waren Angst, Krieg, Kampf und Hass die Energien dieser Jahre.
 
Wir haben uns gesellschaftlich entzweit, wir haben Andersdenkende attackiert und ausgegrenzt oder wir haben die anderen einfach nicht mehr wahrgenommen, weil sie anders denken. Dieser Prozess zeigt jetzt seine Auswirkungen. Die Gesellschaft strukturiert sich vollkommen um. Das menschliche Gesellschaftssystem ist seit der Pandemie auf Angst, Aggression und Feindseligkeit aufgebaut, die aus unbewältigter Angst entsteht. Andersdenkende werden weiter als Bedrohung wahrgenommen und müssen bekämpft und am Besten vernichtet werden. 
 
Die einen halten sich für die Guten und was ihrem Denkrahmen nicht entspricht, wird als Böse bezeichnet. Die anderen meinen die Wahrheit zu kennen und bezichtigen die anderen der Manipulation, während sie exakt das Gleiche tun. Wieder andere meinen die Welt retten zu müssen und die magische Medizin zu besitzen und bekämpfen alle, die sie nicht schlucken wollen. Wieder andere predigen Wasser und trinken Wein. 
 
Anstatt unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu achten, zu pflegen und zu stärken um als Gemeinschaft die Krisen dieser Zeit zu bewältigen, breiten sich Individualismus, Egoismus, Narzissmus, Vereinzelung und in der Folge eine kollektive Einsamkeit aus. Sobald ein Gesellschaftssystem auf Angst aufgebaut ist, sucht sich die Evolution einen anderen Weg. Wie der aussieht, erleben wir gerade. Um uns herum ist mehr und mehr Zerstörung.
 
Die Mehrzahl der Menschen begreift nicht, dass unsere Stärke und Kraft nicht in der Individualität sondern in der Gemeinschaft liegt. Das Bewusstsein, dass wir alle miteinander verbunden sind, ist verloren. Solange wir dieses Bewusstsein nicht wiedererlangen, werden wir nicht zusammenfinden, wir werden immer schwächer, individuell und kollektiv. Wir brauchen keine Kriege, wir löschen uns als Gemeinschaft selbst aus. 
 
Die Fragen, die wir uns jetzt stellen können, lauten: 
Wozu will ich meinen Beitrag leisten? Wer will ich in dieser Zeit sein?

Montag, 16. Oktober 2023

Frieden

 

                                                                  Art: Banksy
 
Viele wollen ihn und wundern sich warum es ihn nicht gibt:
Frieden.
Es wird in dieser Welt keinen Frieden geben.
Frieden verwirklicht sich in den Herzen der einzelnen Menschen.
In so vielen Herzen herrscht Unfrieden.
In so vielen Herzen herrscht Unzufriedenheit, Undankbarkeit, Selbstsucht, Gier, Neid, Wut, Empathielosigkeit, Intoleranz, Leere, Bewusstlosigkeit, Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit.
Wie soll eine Welt so Frieden finden?

Sonntag, 15. Oktober 2023

Existenzschuld – Verbeulte Kinderseelen


                                                                      Zeichnung: A.Wende 

 

Unser Selbstbild speist sich aus den Erfahrungen, die wir als Kind mit unseren Eltern und anderen Bezugspersonen gemacht haben. In der Zeit bis zu Adoleszenz bildet sich heraus was wir innere Überzeugungen nennen. Aus diesen inneren Überzeugungen über uns selbst und die Welt werden Glaubensätze, die darüber bestimmen wie wir uns selbst, andere Menschen und die Welt wahrnehmen. Sie beeinflussen unser Denken, unser Fühlen und unser Handeln bis ins Erwachsenenalter. Sie sind so mächtig, dass sie sich hartnäckig der Veränderung entgegenstellen, auch wenn wir uns ihrer längst bewusst sind.
In einer Entwicklungsphase, wo unser Gehirn noch „denkt“, dass alles, was auf der Welt passiert, mit uns selbst zu tun hat, führt das zu falschen Inneren Gesetzen. Diese Inneren Gesetze wirken wie unbewusste und somit ungeprüfte, tiefe Programmierungen, die blind befolgt werden.
Unsere inneren Überzeugungen sind in unserem Gehirn fest installiert. So fest, dass es oft jahrelanger Therapie und kontinuierlicher Arbeit an uns selbst bedarf um die daraus entstandenen Glaubenssätze zu relativieren oder gar auszulöschen. Die Erfahrung zeigt: Ganz weg gehen sie nicht. Sie sind ein Teil von uns, aber wir können lernen angemessen damit umzugehen und unser Leben nicht ewig von diesen inneren Gesetzen beherrschen zu lassen. Dazu gehört viel Achtsamkeit und Übung.
Wenn wir uns selbst und die Welt durch den Filter unserer Inneren Überzeugungen sehen leiden wir unter einer Verzerrung dessen, was wirklich ist - wir nehmen nicht wahr, was ist, wir nehmen wahr, was wir über uns selbst und die Welt denken.
Das zu wissen ist elementar wichtig, wenn wir uns unseren Glaubensätzen nähern um sie zu hinterfragen und sie zu entmachten.
 
Was wir denken ist nicht wahr, auch wenn es sich genauso anfühlt.
Es gibt gute und destruktive Glaubenssätze. Die einen sind hilfreich um unsere Leben zu meistern, die anderen sind zerstörerisch. Die zerstörerischsten Glaubenssätze sind meiner Erfahrung nach diese beiden: "Ich bin nichts wert." Und: "Ich sollte besser nicht geboren sein."
Beide führen zu einem Lebensgefühl, das geprägt ist von Unsicherheit, Wertlosigkeit, Selbstabwertung, Schuld, Scham, Angst, Wut, Trauer, Verzweiflung, Melancholie, Schmerz und Resignation. Auch wenn wir uns dieser Gefühle im Alltag nicht immer bewusst sind beherrschen sie unser in-der-Welt-sein. In guten Zeiten weniger, in Krisenzeiten können sie uns ins Bodenlose stürzen.
Menschen, die in ihrem tiefsten Inneren davon überzeugt sind, dass sie nichts wert sind, Menschen, die glauben, sie wären besser nicht geboren, leben kein glückliches, erfülltes Leben. Irgendwann im Laufe der Zeit setzen sich auf diese Überzeugungen weitere destruktive Glaubensätze: „Ich habe nichts Gutes verdient. Ich bin nicht liebenswert. Keiner will mich haben. Das Leben ist gegen mich. Die Welt ist schlecht. Ich bin ein Versager. Ich tauge nichts.“
Ein Kopf und eine Seele, die voll ist von diesen Überzeugungen, leidet unvorstellbar.
Das ist traurig. Das ist zutiefst lebensfeindlich und das schließt jede Möglichkeit glücklich zu werden aus. Wer denkt, dass er nichts wert ist, behandelt sich selbst genauso - nicht wertschätzend. Er lässt sich genauso behandeln - nicht wertschätzend. Er behandelt sich ein Leben lang genauso, wie man ihn als Kind behandelt hat, bzw. wie er sich selbst empfunden hat, und damit führt er den emotionalen Missbrauch, ohne sich dessen bewusst zu sein, fort.
 
„Dasein ist als solches schuldig“, schrieb Martin Heidegger in Sein und Zeit.
So in etwa empfindet ein Mensch, der glaubt, er wäre besser nicht geboren worden. Dieser Mensch, trägt eine große Scham und eine schmerzhafte Existenzschuld in sich und somit in sein Leben. Die eigene Existenz wird unbewusst radikal infrage gestellt. In extremen Fällen ist dieses Dasein eine Selbstbestrafung für das Versagen gegenüber dem Ich-Ideal. „Ich bin nicht lebenswert“ ist Ausdruck der inhärenten meist unbewussten Destruktivität. Betroffene befinden sich permanent in einer destruktiven Scham-Schuld Spirale. Das kann so weit gehen, dass diese Menschen sich für sich selbst nicht nur schämen, sondern sich auch gnadenlos selbst verurteilen, verletzen, selbst schädigen, bis hin zu massivem selbstzerstörerischem Verhalten und schließlich sogar Suizid.
Existenzschuld ist die Schuld, die aus der bloßen Tatsache entsteht, zu existieren.
In den meisten Fällen basiert Existenzschuld auf dem kindlichen Gefühl eine Last für die Bindungsperson(en) zu sein oder sie erwächst aus der realen Erfahrung, dass die Mutter oder der Vater einen nicht haben wollte. Das Kind fühlt sich schuldig eine Belastung zu sein. Wer sich der Existenz seiner selbst schuldig fühlt, tut nicht selten alles um Abbitte zu leisten. Egal welche Verdrängungs, Kompensations - oder Abwehrmechanismen er anwendet - er schädigt sich vor allem selbst.
 
Wie kann ein erwachsener Mensch so etwas tun?
Er kann.
Er kann, weil seine Kinderseele verbeult und ramponiert wurde. Und diese verbeulte Kinderseele ist noch bis ins hohe Alter in ihm lebendig. In dieser Kinderseele ist die Welt von damals stehen geblieben. Diese Kinderseele steckt in einem erwachsenen Körper, einem erwachsenen Geist und ist nicht mit gewachsen. Scheu und ängstlich, unsicher und traurig, wütend, autoaggressiv, depressiv und verzweifelt, regiert sie sein Empfinden, seine Beziehungen, sein Leben - aus den Erfahrungen heraus wo ihr Zuhause war.
Also alles beim Alten.
So darf es nicht bleiben.
So soll es nicht bleiben.
Darum ist es überlebensnotwendig für diese verbeulte Kinderseele aus ihrer Trance zu erwachen.

Es gibt Wege um es zu schaffen.
Es braucht Bereitschaft.
Es braucht professionelle Hilfe.
Es dauert.
Es braucht Geduld mit uns selbst.

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Sich selbst aushalten

                                                                    Foto: www

 
Die meisten Menschen sind im Außen. Viele Menschen finden durch das, was sie tun und diejenigen, mit denen sie es tun, Halt. Sie halten sich an das Außen. Sie finden Halt im Beruf, in Beziehungen, in Tätigkeiten, in Hektik und Aktionismus. Und dann bricht plötzlich etwas von dem, was Halt gibt oder gar alles weg. Stille ...
Man ist auf sich selbst zurückgeworfen, auf sich selbst reduziert. Man hat den äußeren Halt verloren und was jetzt? Was bleibt ist ein unbestimmtes Gefühl, das man nicht fassen kann.
Jetzt ist man gezwungen sich selbst auszuhalten, wohl oder übel, denn man hat keine Wahl. Die innere Unruhe kann so groß werden, dass man es kaum aushält. Der leere Raum kann so bedrückend eng werden, dass man das Fürchten bekommt. Und nichts will man lieber, als dass das schnell wieder weggeht.
„Ich will das nicht. Ich will da raus“, schreien Geist, Seele und Körper.
Aber es geht nicht, jetzt ist es so wie es ist.
Kaum auszuhalten, ich mich, mit mir selbst. Kaum auszuhalten die Gedanken und Gefühle, die aus mir selbst kommen, nach oben kriechen, jetzt, wo da nichts mehr ist, was mich von mir selbst ablenkt.
„Ich kann mich selbst nicht aushalten“, sagte neulich eine Klientin. Sie ist nur eine von vielen, die es nicht können. 
 
Sich selbst aushalten, was heißt das eigentlich?
Es heißt mit mir selbst in Gesellschaft zu sein. Und da beginnt das Problem. Mit wem bin ich da in Gesellschaft? Wer bin ich?
Was erzähle ich mir und was höre ich, wenn ich mir etwas erzähle? Was fühle ich in meiner Gesellschaft für mich selbst? Was denke ich, in meiner Gesellschaft über mich?
Der Kopf ist auf einmal frei für mich selbst, wenn da nichts mehr ist, was mich von mir selbst ablenkt. Wenn der Kopf frei ist vom Außen hat das Gehirn Kapazitäten frei. Es tauchen Erinnerungen auf. Situationen und Erlebtes wird reflektiert. Die Gedanken schweifen hier hin und dort hin und finden kein Ziel. Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges mischt sich durcheinander. Der Mensch beginnt nachzudenken über sich selbst und seine Identität. Dann kommen tiefe Fragen. Und es kommen tiefe Gefühle. Und die können einem verdammt zusetzen. Von innerer Ruhe, Klarheit und innerem Frieden keine Spur. Aber genau das wär´s doch, jetzt wo man in eigener Gesellschaft ist und keiner etwas von einem will. Keine Erwartungen, keine Anforderungen, nichts zu erfüllen, endlich Ruhe, Stille.
„Ich will doch einfach nur sein.“
Auch so ein Satz, den ich öfter höre.
Nur man selbst sein.
Das Problem ist, dass kaum jemand wirklich weiß, wer dieses Selbst ist. Man kann sich unendlich viele Konstruktionen machen. Haben auch schon unendlich viele Leute gemacht, Konstruktionen über das wahre Selbst. Gesehen hat es noch keiner, im Hirn gefunden hat es auch noch keiner, aber angeblich erreicht haben es einige, z.B. spirituelle Meister, allerdings nur laut ihrer eigenen Aussagen.
 
Das Selbst ist nach C.G. Jung, die dem Ich übergeordnete Ganzheit des Menschen. Das Ich ist demnach der bewusste Teil des Selbst, und als Teil des größeren Ganzen kann dieses jenes nie begreifen. Das ist der springende Punkt: Wir können dieses Selbst, dieses transpersonale Zentrum der Psyche nicht begreifen. Darum tun wir uns auch so schwer mit uns selbst. Denn nichts verunsichert und befremdet uns mehr, als das, was wir nicht begreifen und fassen können, egal wie sehr wir nach Erklärungen suchen – es bleibt da ein Etwas, zu dem wir keinen Zugang finden. Also suchen wir weiter – uns selbst.
Wir beginnen da wo wir uns fragen: Was ist „zu mir gehörend“ und was „fremd“?
Um herauszufinden: Wer bin ich im Kern?
Schwierig. Um den Kern zu erfassen, müsste man das Ganze erfassen, und dann das Ganze wieder trennen, also in all die fremden Anteile, die wir übernommen haben, identifizieren.
Geling auch bisweilen teilweise.
Dennoch bleibt die Frage: Wer ist es denn, der trennt?
Ist es nicht wieder ein Teil des Ganzen? Und welcher Teil davon? Das Selbst oder was wir für uns selbst halten?
Ist das Selbst also nichts weiter als eine „Ich-Illusion“, die das Ich kreiert, je nachdem wie es darauf blickt, es deutet, es konstruiert?
Möglich. Wir wissen es nicht.
 
Und wie dann sich selbst aushalten? Wenn ich verdammt noch mal nicht weiß, wer dieses Selbst ist?
Vielleicht so:
„Ich kann nicht sagen, wer ich bin, aber mehr und mehr erkenne ich, wer ich nicht bin.“
Diese Worte sind aus dem ZEN.
Wir können nicht sehen, wer wir sind, aber wir können erkennen, wer wir nicht sind. Das ist der Anfang des Weges, getragen von Sehnsucht.
Die Sehnsucht ist der Weg zu uns selbst.
Und diesem Weg folgen wir.
Dann brauchen wir keine Gurus, keine Meister, keine Konstruktionen - wir brauchen nur uns selbst. In dem Maße wie wir uns uns selbst zuwenden, kommen wir zum Zentrum, ins eigene Herz und dort leuchtet die Antwort auf. 

Samstag, 7. Oktober 2023

Freiheit, ein ziemlich hoher Preis, denn Freisein bedeutet immer auch Verzicht

 



Das mit der Freiheit geht mir seit Tagen nicht aus dem Kopf.
Irgendwie ist es schwer, frei sein. Frei sein wollen wir alle, na ja nicht alle, aber die, die die Sehnsucht danach haben, die sich ein Höchstmaß an Freiheit geschaffen haben, mit einem meist ziemlich hohen Preis, allerdings, denn Freisein bedeutet immer auch Verzicht auf so manches, was die Unfreien haben.
Freiheit heißt für mich zunächst, ich kann denken was ich will.
Gedankenfreiheit. Das ist schon viel, denn in den Gedanken ist alles möglich, auch das Unmöglichste. Vielleicht sind da sogar die wahren Abenteuer, die nämlich, die man sich nicht zu leben, aber zu denken traut. Das ist der Punkt: sich trauen, mutig sein. Mut hat viel mit Freiheit zu tun. Mut, der zu sein, wer man ist, zu leben, wie man will und dann der Mut die Konsequenzen für dieses Wollen zu tragen.
Bin ich mutig? Manchmal denke ich, ja, bin ich, dann wieder denke ich, vielleicht habe ich einfach keine Lust mich dem "normalen Leben" zu stellen, oder sogar Angst davor. Gut, dann bin ich aus Angst mutig, im Endeffekt ist das Ergebnis das Gleiche.
 Binde dich an nichts, was du nicht sofort wieder loslassen kannst, auch das ist Freiheit, nicht anhaften an etwas oder jemanden, nichts erwarten und auf nichts warten, was ein anderer für dich tun soll, kann, will, wird, sondern das tun, was du aus dir selbst heraus tun kannst in deinem Einflussbereich. Selbstabhängig statt abhängig.
Die eigenen Potenziale nutzen, den eigenen Werten, der eigenen Wahrheit folgen, auch das ist Freiheit. Was in mir ist und raus will, ausdrücken. Was sich nicht ausdrückt, drückt sich ein, verknotet sich irgendwo in der Seele und im Körper und macht krank.
Das Ungelebte ist ungesund. Vielleicht sogar ungesünder als Zigaretten rauchen und ab und an zu viel Wein trinken.
 
Freiheit ist für mich Selbstausdruck über die Grenzen der äußeren Beschränkungen hinaus. 
Klingt radikal, ist es auch, denn im Zweifel will das Außen das nicht zulassen oder mitleben, oder beschränken, was sich ausdrücken muss und will. Und am Ende steht man ziemlich allein da mit der Freiheit, auch das ist ein Aspekt der Freiheit.
Aber letztlich ist jeder allein, am Anfang und am Ende und zwischendurch. Das verdrängen wir gern, weil es schmerzt. Doch der Schmerz gehört auch zur Freiheit. Eben weil sie radikal ist. Das Radikale ist nicht sanft, ist nicht handsome, nimmt Verluste in Kauf - ergo schmerzt es.
Auch das Unfreie schmerzt.
Nur anders. Das gräbt sich ein, frisst sich in Kopf, Herz und Seele und am Ende ist da diese Erstarrung, wo nichts mehr fließt, wo Leben nur noch ein Funktionieren ist und das Wünschen und die Sehnsucht den Träumen überlassen wird.
 
Träume sind der Urgrund der Freiheit, dort ist ihre Quelle, dort wird sie geboren, in unseren Träumen, in unseren Visionen von Etwas, was noch nicht ist und was sein könnte und was es vielleicht nie geben wird. Macht aber nichts, denn allein das Träumen macht Sinn.  
Weil es das, was ist, hinterfragt.
Hinterfragen hat viel mit Freiheit zu tun, denn die Zweifel stören den Ist-Zustand, maxchen das Denken weit und schaffen Möglichkeiten. Möglichkeiten sind Gottes Geschenke an uns. Um diese zu empfangen muss man sie sehen. Sie sind da, immer und überall. Am Präsentesten sind sie in uns selbst, diese Möglichkeiten. Sie warten geradezu darauf geträumt, gedacht und gewagt zu werden.
 
Innere Freiheit - ein Zustand der Entspannung.
Sie hat eine Qualität, die viel mit Eigenverantwortung zu tun hat, dem Willen, das Leben eigenverantwortlich zu gestalten.
Diese Haltung macht frei, weil man niemand mehr Rechenschaft schuldig ist, außer sich selbst, Autonomie des Subjekts.
Im Wagnis des Gestaltens des eigenen Lebens liegt die Option der größtmöglichen Freiheit, trotz aller Beschränkungen, die die Umstände uns diktieren und in denen wir gefangen sind.
Und dieses Wagnis erfordert eine Entscheidung. Wenn der Wunsch nach der Freiheit stark genug ist werden wir diese Entscheidung fällen - nur dann.
Ansonsten bleibt es beim Träumen.


Mittwoch, 4. Oktober 2023

Individualismus - Nachtrag zum Thema Selbstisolierung

                                                                  Foto:www


"Was ist mit uns geschehen, dass es so viele betrifft? Was ist auf kollektiver Ebene irgendwann mit uns geschehen?" Eine sehr gute Frage, die eine Leserin, aufgrund meines Textes über Selbstisolation, gestellt hat. Ich habe nachgedacht, ich denke schon lange darüber nach, denn ich erlebe immer mehr einsame Menschen, die zu mir kommen. 

Fakt ist: Unsere Gesellschaft versingelt immer mehr.
Fakt ist: Wir bewegen uns in Richtung kollektive Einsamkeit.

Aber wann hat das begonnen?
Es hat begonnen, als wir in das Stadium des modernen Individualismus eingetreten sind.
Manche meinen, das sei so seit der Coronapandemie. So ist es nicht. Die Pandemie und die Maßnahme, Menschen voneinander zu isolieren, hat das soziale Virus „Individualismus“ nur verstärkt und es bewusster gemacht. Nicht ohne Grund, wie ich meine: Damit wir endlich hinsehen, wo wir kollektiv hindriften. Geholfen hat es wenig, auf politischer Ebene ist das Thema Einsamkeit, im Gegensatz zu England, das längst ein Einsamkeitsministerium hat, bei uns nicht angekommen.

Schon lange vor der Pandemie sprechen Psychologen von einem Trend zur Vereinzelung.

Hans-Joachim Maaz geht in seinem Psychogramm: „Die narzisstische Gesellschaft“ auf Ursachenforschung, was Individualismus und Narzissmus kollektiv mit uns machen.
In seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“, geht aktuell der Publizist Martin Hecht diesem Thema auf den Grund. Er spricht vom radikalen Ich, das unsere Demokratie bedroht und warnt davor, dass der moderne Individualismus zunehmend zu einer Gefahr für den Zusammenhalt im Kollektiv wird.
Diana Kinnert setzt sich in ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ mit alter und neuer Einsamkeit auseinander und stellt fest: Eine neue Einsamkeit greift, unabhängig von Corona, immer weiter um sich. Die Gründe hierfür sieht sie darin, dass unsere Gesellschaft auf Konsum statt Intimität, Flexibilität statt Verbindlichkeit, und immer mehr Gewinn statt Stabilität ausgerichtet ist.

Höher, schneller, weiter – das ist das Lebensmotto vieler. Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und persönliche Freiheit werden als hohes Gut angesehen.Jeder ist sich selbst der Nächste, was das eigene Ich und dessen Verwirklichung stört, muss weg.
Haben statt sein.
Damit hat sich schon Erich Fromm in seinem Buch "Haben oder Sein" im Jahre 1976 auseinandergesetzt und eindringlich davor gewarnt, dass eine Gesellschaft, die vom Streben nach Besitz und markt- und konsumorientierten „Haben“ dominiert wird, scheitern wird.
Das zeigt sich jetzt immer deutlicher.
Der Individualismus, der kollektive Narzissmus, der Selbstoptimierungswahn und die Egozentriertheit vieler Menschen fordert ihren Preis: Der Mensch entfremdet sich von sich selbst und damit in der Folge von seinem Nächsten. Er dreht sich nur noch um sich selbst, er bespiegelt sich selbst und am Ende muss er feststellen: Individualismus macht allein.

Aber was ist Individualismus überhaupt?
Individualismus definiert eine Anschauung und Geisteshaltung, die dem Individuum und seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt. Eine Haltung also, die auf die Entfaltung und das Wohlergehen der eigenen Persönlichkeit ausgerichtet ist und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wenig Raum lässt. Die Folge: Eine individualistisch orientierte Gesellschaft, die sich durch lose, unverbindlichere soziale Bindungen auszeichnet.

Das eigene Ich wird zum Maß aller Dinge. Und so reden sie auch, die Meisten: von sich. Und so denken sie auch die Meisten: an sich. Ich, ich, ich
Und dann kommt lange nichts oder nur das, was dem Ich nützlich ist und was es brauchen kann.
Eine Geisteshaltung, die natürlicherweise ihren Preis hat: nämlich die Zersplitterung eines Gemeinsamkeitsgedankens und der Verlust des Bewusstseins des Einzelnen für das Ganze.
Verbundenheit fehlt, ein menschliches Miteinander fehlt, lebendiger Kontakt, der mit allen Sinnen erlebt wird, fehlt. All das wird ersetzt durch die virtuelle Welt, die uns vorgaukelt – wir sind verbunden.
Alles Schimäre weiter nichts!
Denn hunderte Freunde auf Facebook oder tausende Follower auf Instagram simulieren lediglich eine illusionistische Verbundenheit, die in der realen Welt nicht existiert.
Flashfull Fantasy, die an der Realität zerplatzt, dann nämlich, wenn uns bewusst wird, wie allein wir da vor unseren Handys und PC´s sind, während wir das Leben unserer sogenannten Freunde betrachten, liken und kommentieren, Menschen, die wir meist nicht einmal kennen.

Der Mensch selbst ist nicht nur Konsument, er ist selbst zum Konsumgut geworden.  

Er konsumiert und wird konsumiert. Tinder z.B., das Online Warenhaus in dem ich mir, nach dem Motto: Wisch und weg und Match! einen One Night Stand bestelle, denn eine echte Beziehung wollen die meisten gar nicht. Das Leben mit dem eigenen Ich ist anstrengend genug.
Es geht noch krasser.
Manch einer verliebt sich in eine(n) KI-Chatbot, der/die ihm vorgaukelt, er sei in einer echten Beziehung. Eine Beziehung, die nur seine eigenen Bedürfnisse erfüllt, nichts von ihm fordert und ihm die tägliche Dosis Honig ums Maul schmiert um sein Ego zu streicheln, auf dass es weiter wachsen möge.
Ich, ich, ich …


Das moderne Ich holt sich seine Bedeutung vornehmlich virtuell. 

Geredet wird auch nicht mehr viel, wenn nicht unbedingt nötig, es wird What´s appt, zugetextet, wie ich es nenne. Texten ist weniger anstrengend und zeitaufwendig als ein echter Dialog mit einem leibhaftigen Gegenüber. Vornehmlich wird mitgeteilt, es werden Gifs und flache Sprüche versendet – ein Mist, den kein Mensch braucht. Alles um das eigene Selbstgefühl zu stärken.
Man textet einander, man kann sich einreden, dass man im Innern des anderen präsent ist, eine Bedeutung in seinem Leben zu haben, auch wenn der andere einer ist, den man noch nie im richtigen Leben gesehen hat. Unbemerkt bleiben, nicht vorhanden sein für andere, ist das Schlimmste. Aber in Wahrheit ist es bei immer mehr Menschen genauso. Wer seine Bedeutung und damit sein Selbstwertgefühl auf diese Weise zu stärken versucht, baut auf Sand, er stützt sich auf etwas, das so schnell verrinnt, wie sein Getexte. Zurück bleiben Individualisten, die sich mit der Einsamkeit abfinden müssen, wenn sich nicht radikal etwas ändert.

Die Heilung des Individuums hat nicht viel Sinn ohne das Streben nach einer besseren Gesellschaft. 

Wieviel Sinn hat es, Individuen von seelischen Krankheiten zu heilen, aber nicht vor den Gefahren zu warnen, die durch eine individualistisch-narzisstische Gesellschaft drohen, die eine gesunde Gesellschaft zunichte machen? Unsere Aufgabe ist es einander zu ermutigen, hinzuschauen, uns wieder einander zuzuwenden und uns unserer Verantwortung für das Ganze bewusst zu werden, uns ihr zu stellen und sie zu übernehmen. Tun wir das? Nein. Die meisten tun es nicht. Viele sind gleichgültig oder tun so als sei alles in Ordnung.

Montag, 2. Oktober 2023

Aus der Praxis: Selbstisolation

 

                                                     Malerei: Edward Hopper


Du hälst die Welt und die Menschen nicht aus und gleichzeitig sehnst du dich nach Zugehörigkeit und menschlicher Zuwendung. Immer wieder neu machst du Versuche und gehst in Kontakt, nur um festzustellen, da ist niemand, mit dem du wirklich reden kannst, der dich versteht und dir achtsam zuhört, ohne gleich von sich selbst zu reden. Du findest niemand, mit dem du teilen kannst, was dir wichtig ist und was dich bewegt. Da ist kein Mensch, dem gegenüber du dich äußern kannst mit dem, was du auf dem Herzen hast und dem, was dich bewegt. Da ist Niemand, der fähig ist in die Tiefe zu gehen. Dahin wo deine Welt ist, die, die dich von anderen trennt. Immer weiter trennt, schmerzhaft trennt. Du fühlst dich einsam innen.
Manche sagen dir: Denk nicht zu viel. Du bist anstrengend, kompliziert. Du hast zu hohe Erwartungen, zu hohe Ansprüche. Leb einfach mal! Lebe, liebe Lache!
Du findest solche Sprüche lächerlich.
Nichts verstehen die. 
 
Nach und nach wirst du jemand, der sich von den Anderen abtrennt, der sich ganz von den Anderen absetzt und in die Selbstisolierung geht. Du denkst, du machst das freiwillig und wunderst dich vielleicht wie leicht es dir fällt, dich von allen zu trennen. Aber irgendwo tief in dir drin ist der Teil, der weiß, warum du das machst. Dieser Teil weiß nicht wie er sich anders helfen kann. Er ist traurig und enttäuscht, vielleicht sogar verzweifelt, denn: Wer will so leben – isoliert und mit niemand verbunden? 
 
Du redest es dir schön, sagst dir: Lieber allein als schlecht begleitet, was auch stimmt, denn so ersparst du dir immer neue Hoffnungen und Enttäuschungen, aber viel lieber wärst du in guter Begleitung, die sich aber nicht finden lässt und du wirst noch trauriger, noch einsamer innen. Dein Leid drückt dich nach Unten, immer weiter nach Unten. Irgendwann gibst du alle untauglichen Versuche auf und bleibst allein – kontaktlos, abgekapselt, abgeschieden, isoliert. 
 
Weißt du, deine Fähigkeit, dich von Menschen abzuschotten und dich selbst zu isolieren, ist eine Trauma Reaktion, die darin wurzelt, dass du nie jemanden hattest, auf den du dich verlassen konntest. Du isolierst dich selbst, weil du als Kind allein mit deinen Gefühlen umgehen musstest. Das ist dein alter Überlebensmodus.
Zeit dir Hilfe zu holen.