Freitag, 30. September 2022

Endlich

 

                                                                Foto: A. Wende


Als ich endlich begriff, dass der Schmerz so alt ist wie ich selbst.
Als ich endlich begriff, dass das, was in mir weint, Angst hat, traurig und verletzt ist, so alt ist wie ich selbst.
Als ich das endlich begriff, begann ich den Weg zurück zu gehen.
Ich ging durch ein tiefes Tal, durch dunkle Wälder, reißende Flüsse und über schwindelnde Höhen.
Als ich ankam sah ich mich selbst.
Klein, verlassen, ängstlich und einsam.
Ich kniete mich nieder, setze mich an meine Seite und hörte mir lange zu.
Ich sah in meine traurigen Kinderaugen.
Und was ich fühlte war Liebe.

Donnerstag, 29. September 2022

Aus der Praxis: Die Menge macht das Gift

 

                                                                      Foto: www

 
Wir werden nicht unverletzt durchs Leben gehen.
Jeder von uns hat Verletzungen erlebt und jeden Tag können neue dazu kommen. Große und kleine. Und jede Verletzung kann zu einem Trauma werden. 
 
Trauma ist nicht das, was geschieht, sondern wie wir auf das, was geschieht, reagieren. 
 
Jeder von uns reagiert anders, auf seine ureigene Weise. Was den einen unbeeindruckt lässt oder wachsen lässt, kann für den anderen eine Welt zusammenbrechen lassen.
Im Laufe des Lebens widerfahren den Meisten von uns große und/oder kleine Traumata. Die kleinen nennt man auch Mikrotraumen. Auch diese können zu bleibenden Schäden in der Seele führen. Mikrotraumen sind für unser Leben von großer Bedeutung, denn sie formen unsere Gedanken und unser Empfinden. Sie beeinflussen wie wir uns selbst sehen, wie wir andere sehen, wie wir das Leben sehen, wie wir auf die Dinge reagieren und sie formen unsere Gewohnheiten. 
 
Mikrotraumen schaffen neuralgische Punkte. Sie schaffen Schwachstellen in der Psyche.
Diese scheinbar kleinen Verletzungen richten mehr an, als wir glauben. Je mehr dieser Mikrotraumen wir erfahren, desto größeren Schaden richten sie an. Sie sind wie ein Schwelbrand, der irgendwann zu einem Großfeuer werden kann, wenn sie uns nicht bewusst sind. So können zum Beispiel ständige Kränkungen in einer Beziehung auf Dauer krank machen. So können sich wiederholende Konflikte irgendwann explodieren und zur Katastrophe führen. Eine scheinbar kleine Sache kann so groß werden, dass aus einer Mücke ein Elefant wird und das Gegenüber überhaupt nicht versteht, was plötzlich los ist. 
 
Aus scheinbaren Kleinigkeiten, aus kleinen Mikrotraumata, können psychosoziale, psychische und psychosomatische Probleme entstehen.
Mit anderen Worten all die kleinen Verletzungen wirken potenzierend oder anders ausgedrückt: Die Menge macht das Gift. Darum ist es so wichtig auch kleine Verletzungen zu achten, sie zu erkennen, entsprechend damit umzugehen und sie zu verarbeiten, damit ihre Summe, die sich im Laufe des Leben anhäuft, nicht zu einem Zusammenbruch der Seele führt, von dem sich dann keiner erklären kann woher er kommt.

Dienstag, 27. September 2022

Aus der Praxis: Nicht das Ich - das Es hat die Macht.

 

                                                                     Foto:www

„Oft genug habe ich im Lauf meines Lebens getan, wofür ich mich nicht entschieden hatte, und nicht getan, wofür ich mich entschieden hatte. ES, was immer es sein mag, handelt; ES fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will, macht gegenüber dem Vorgesetzten die Bemerkung, mit der ich mich um Kopf und Kragen rede, raucht weiter, obwohl ich mich entschlossen habe, das Rauchen aufzugeben, und gibt das Rauchen auf, nachdem ich eingesehen habe, dass ich Raucher bin und bleiben werde.
Ich meine nicht, dass Denken und Entscheiden keinen Einfluss auf das Handeln hätten. Aber das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht und entschieden wurde. ES hat seine eigene Quelle“, schreibt Bernhard Schlink in seinem Buch „Der Vorleser“.
 
Schlink beschreibt, was viele von uns gut kennen.
Wir wollen etwas oder wollen etwas nicht, aber da ist etwas in uns, dass uns dazu bringt anders zu fühlen und zu handeln, als wir es mit dem Verstand wollen, auch wenn wir wissen, dass es falsch oder sogar unheilsam für uns ist. Das liegt daran, dass die frontale Hirnrinde das limbische Verlangen nur schwer im Zaum halten kann. Das Gehirn ist zwar imstande, sich intellektuell von Gedanken und Überzeugungen zu lösen, emotional ist das aber kaum möglich.
Dieses ES, von dem es Schlink schreibt, ist das Unterbewusstsein, dieser geheimnisvolle, schwer durchdringbare Ort, wo unsere tief emotionalen, unterbewussten Überzeugungen und Verhaltensprogramme sitzen. 
 
Das Unterbewusstsein ist die Summe aller Vorstellungen, Erinnerungen, Eindrücke, Motive, Einstellungen und Handlungsbereitschaften, die in uns gespeichert, aber nicht bewusst aktiv sind. Im Unterbewusstsein sind all die Informationen gespeichert, die wir über uns selbst und die Welt gesammelt haben, individuell und kollektiv. Alles was im Moment aktiv ist, ist uns zwar bewusst, unterbewusst beeinflussen aber all die inaktiven Elemente unserer Psyche unser tägliches Denken, Fühlen und Handeln. Mit anderen Worten: Es findet ständig eine Kommunikation zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein statt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
 
Durch unsere Erlebnisse und Erfahrungen werden Denk- und Gefühlsmuster programmiert, die immer wieder die gleichen Verhaltensweisen und Reaktionsmuster hervorbringen. Die alte Programmierung läuft automatisch ab, immer in der gleichen Weise, wie ein Computerprogramm. Das kann ungute Folgen haben. Das ist vor allem dann der Fall, wenn negative oder destruktive emotionale Programmierungen unser Leben beeinflussen. Dazu gehören besonders auch Traumata.
ES ist mächtig und es ist schwer, es mit dem Verstand zu zähmen oder es zu verändern. Das gelingt nur beschränkt, denn das limbische System, das zwischen den Hälften des Großhirns sitzt, ist mit dessen Denkregionen fest verknüpft, Die dort gespeicherten Daten färben jede Erkenntnis, jedes Erleben und jede Absicht mit Emotionen und manipulieren so unseren Verstand. ES bringt uns dazu überwiegend emotional geprägte Entscheidungen zu treffen. 
 
Unsere Gefühle und Gedanken sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Hirnforschung hat hinreichend bewiesen: Unser Gehirn ist zwar imstande, sich intellektuell von alten Programmierungen zu lösen – emotional ist das jedoch kaum möglich. Ein Fakt, den wir akzeptieren sollten, wenn wir uns zum hundertsten Mal fragen: „Wenn ich doch weiß, wie ich die Dinge anders sehen kann, wie ich anders reagieren, denken und handeln kann, wenn ich doch weiß, dass ich okay bin, liebsnwert, wertvoll, wieso fühle ich es nicht?“
Die Antwort: Weil nicht das Ich, sondern das Es die Macht hat.
 
Das bedeutet aber nicht, dass wir die Machtverhältnisse nicht ändern können – zu unserem Besten.
Wir können manches ändern, aber eben nicht alles. Wir können manches wollen, aber nicht alles haben. Unsere Macht über unser Unterbewusstsein ist eben begrenzt. Das ist okay. Indem wir jedoch Kontakt nach Innen aufnehmen und unser Unterbewusstsein erforschen, so weit es möglich ist, können wir uns Fähigkeiten und Möglichkeiten erschließen, die bei einer rein automatisch ablaufenden Kommunikation zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein unentdeckt bleiben würden.
Wir werden uns, unserer Selbst bewusster. Das ändert vieles. 
 

Sonntag, 25. September 2022

Fluchtwege

 

                                                                       Foto: www


Ob wir uns wütend, verletzt, traurig, gekränkt, verloren, ungeliebt fühlen oder ob wir am verzweifeln sind, weil das Leben uns gerade haufenweise Zitronen schenkt und kein Licht am Ende des Tunnel sichtbar ist, wir Menschen suchen immer einen Ausweg um mit diesen Zuständen klar zu kommen. Wir suchen Wege um Unliebsames, Belastendes und Überforderndes in den Griff zu bekommen, um Schmerz zu vermeiden und nicht zu leiden. Trotz aller Unterschiede im Wesen, kann man beobachten, dass alle Menschen auf bestimmte Formen auf Probleme zu antworten, zurückgreifen.
Das sind Folgende:
1. Flucht in Arbeit, Leistung, Beschäftigung,Tätigsein
2. Flucht in Krankheit
3. Flucht in Süchte
4. Flucht in die Fantasiewelt
5. Flucht in Geselligkeit
6. Flucht aus der Gemeinschaft, Rückzug, Isolation, Einsamkeit
 
Rationalisierung, Somatisierung, Betäubung, Idealisierung, Verleugnung, Ablenkung, Rückzug sind Fluchtwege, die Menschen ergreifen, wenn sie einem Problem oder einem Konflikt ausweichen, weil sie ihn nicht sehen wollen oder weil sie glauben ihn nicht lösen zu können. 
Diese Fluchtwege sind allerdings nicht der rettende Ausgang in eine bessere Welt, es sind leider nur kleine Fluchten, die kurzzeitig als Entlastung empfunden werden, langfristig aber den Konflikt, bzw. das Problem aufrechterhalten, es verstärken und/oder neue Probleme dazukommen lassen.
Jeder von uns entwickelt seine eigenen Fluchtmuster. Dabei wird in der Regel Eins überbetont. Welches das ist hängt vor allem von den Lernerfahrungen ab, die wir als Kind gemacht haben.
Was damals hilfreich war, muss es aber heute nicht mehr sein und ist es meist auch nicht mehr. Die alten Reaktionsmuster sind jedoch beharrlich und lassen sich nur schwer auflösen, weil sie eben einst hinreichend gut funktioniert haben. Das hat unser Denkapparat abgespeichert und ins Unterbewusste versenkt, welches dann bei Alarm automatisch nach Oben ploppt und das alte Muster unreflektiert abspult.  
 
Die Meisten von uns sind sich nicht bewusst wie wir auf Probleme antworten.
Macht Sinn sich das einmal anzuschauen.
Ich zum Beispiel reagiere auf Überforderung mit Flucht aus der Gemeinschaft. Wenn es mir schlecht geht, ziehe ich mich in mich selbst zurück. Ich breche den Kontakt mit dem Außen weitgehend ab und verkrieche mich in meine Höhle bis es mir besser geht. Das funktioniert einerseits für mich selbst gut, andererseits ist das für Menschen, die mir nahe stehen nicht gut, denn sie fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes stehen gelassen, auch wenn ich ihnen erkläre, warum ich das so mache. Und das ist ungut.
Ich mache das so, weil ich es als Kind so gemacht habe. Es war mein Fluchtweg aus einer unheilsamen Situation. War ich in meinem Zimmer, hatte ich meinen Schutzraum. Damals hat mich der Rückzug gerettet, heute rettet er mich zwar immer noch, aber ich gehe das Risiko ein, Menschen zurückzuweisen, die mir viel bedeuten. Im worst case könnte mein Fluchtweg dazu führen, dass das, was ich als hilfreich empfinde, dazu führt, dass am Ende ein noch größeres Problem auf mich wartet – ein einsames Leben nämlich. „Wobei das durchaus auch seine Vorteile hat“, grinst gerade ein Introjekt in mir. Spaß beiseite.
 
An meinem Beispiel ist gut zu erkennen, dass es sinnvoll es ist, sich mit den eigenen Fluchtwegen zu befassen, sich die Falle, die sie bergen, bewusst zu machen und zu überlegen, wie wir unser Muster dahingehend korrigieren oder so verändern, dass es uns nicht mehr schadet, als es uns nützlich ist.

Dienstag, 13. September 2022

Verkopft

 

                                                                        Foto: www

 
Alles ist Energie in Bewegung. Auch unsere Gedanken und Überzeugungen sind Energie. Wir haben die Fähigkeit Energie in Materie zu verwandeln - das ist Schöpfertum. Jeder Maler, jeder Musiker, jeder Bildhauer, jeder Schriftsteller, jeder Künstler weiß das, weil er es tut, Tag für Tag.
Was wir bewusst und unbewusst an starker Energie aussenden trifft auf einen Resonanzboden. Je mächtiger ein Gedanke oder eine Überzeugung ist, desto stärker schwingt der Resonanzboden. Entscheidend für die Wirkung der Gedanken und für die Qualität der Resonanz, die sie erzeugen, ist das Unbewusste.
Warum?
 
Unsere Gedanken und Gefühle werden zu neunzig Prozent aus den Unbewussten gespeist. Nur etwa zehn Prozent von dem, wie wir als Person denken und agieren, ist vom Bewusstsein gesteuert. Dies hat die Hirnforschung hinlänglich erwiesen.
Glaub nicht alles, was du denkst!
Wenn wir z.B. bewusst positiv denken wollen, unser Unterbewusstes aber von etwas ganz anderem überzeugt ist, wird uns das Positive nicht begegnen, sondern wir werden vielmehr das erfahren, was wir unbewusst über eine Sache fühlen. 
 
Glaube versetzt Berge. Fragt sich nur welcher Glaube?
Der, den wir denken wollen oder der, der uns denkt?
Wir fühlen uns so wie wir denken und dann handeln wir nach diesem Gefühl. Und meist begegnet uns dann das im Leben woran wir im tiefsten Unbewussten glauben - das Schicksal außen vor gelassen - weil unsere Wahrnehmung sich nach unserem Glauben und nach unseren unbewussten Überzeugungen ausrichtet.
Was mit enormer Energie von Innen nach Außen wirkt und wie ein Bumerang zu uns zurückkommt, sind unsere unbewussten Überzeugungen und diese entstehen aus gefühlten Erfahrungen.
Diese gefühlten Erfahrungen, die tief in unserem Limbischen System verankert sind, haben die Angewohnheit sich in Überzeugungen zu verwandeln und sich resonante Erfahrungen zu suchen um sich selbst zu bestätigen und sich zu erfüllen. Wir erschaffen also eine hoch schwingende Energie und zwar mittels unserer tiefen inneren Überzeugungen über uns selbst und das Leben. Die meisten dieser Überzeugungen haben wir nicht gewählt, man hat sie uns beigebracht, als wir noch nicht fähig waren sie auf ihre Richtigkeit und Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Sie sind das Erbe unserer Kindheit. Ein Erbe, nach dem wir uns selbst, andere, die Dinge und das Leben beurteilen.
 
Kein Urteil hat weitreichendere Folgen als das, welches wir über uns selbst fällen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Wahrheit über uns selbst kennen.
Das bedeutet im ersten Schritt: Unsere Überzeugungen über uns selbst zu erforschen und zu überprüfen, darauf ob sie hilfreich sind oder nicht. Manche von uns tun das, oder haben es längst getan. Manche haben einige Therapien und Coachings hinter sich und müssen feststellen, dass die alten Überzeugungen immer noch an der Seele haften wie klebriges schwarzes Pech. Das geht nicht ab. Das pappt und wir pappen fest an dem, was uns im Leben blockiert, obwohl wir doch wissen, was Sache ist.
Der Kopf hat es längst kapiert, aber es ändert sich nichts Wesentliches. Genau dieser Kopf aber ist es, der das Pech so klebrig macht. Solange wir nicht fühlen was in uns los ist haben wir keine Chance dem Unbewussten auf die Spur zu kommen um es zu wandeln. Verkopfte Therapie, verkopftes Coaching ist nicht hilfreich. Es geht ums Fühlen. Sich selbst radikal fühlen. Egal was da gefühlt wird und diesen Gefühlen nicht davonzulaufen Richtung Kopf, der ja alles so gut weiß. 
 
Es geht um das tiefe sich Einlassen auf den Grund der eigenen Seele – kopflos und unreflektiert - mit dem Instinkt, den der Kopf hat verkümmern lassen mit all seinen Analysen und Reflektionen.
Davor schrecken die Meisten zurück.
Und das klebrige Pech pappt weiter.
Und die pappige Energie wirkt weiter.
Und nichts wandelt sich.

Samstag, 3. September 2022

Hilfe!

 



Neun Uhr am Morgen. Ich komme aus der Bäckerei.
Vor der Bäckerei steht eine ältere, verwahrlost aussehende Frau. Völlig verzweifelt schreit sie: "Hilfe!"
Ich frage Sie, wie ich Ihr helfen kann.
"Die Taube, da! Sehen sie, die Taube, sie stirbt!"
Ich blicke auf das Pflaster. Unten sitzt eine weiße Taube mit einem zerfetzten Flügel.
Ein junger Mann kommt aus der Bäckerei und reicht der Frau eine Flasche Wasser, sie soll bitte einen Schluck nehmen und sich beruhigen. Ich sage: "Es gibt einen Taubenrettungsdienst, den ich jetzt anrufe. Der Taube wird geholfen."
Die Frau schreit: "Sie ist ein Baby, sie darf nicht sterben!"
Der junge Mann und ich versuchen weiter die Frau zu beruhigen. Es gelingt uns nicht. Sie schreit unaufhörlich.
 
Weil ich unterwegs kein W-Lan habe und der junge Mann auch nicht, bitte ich einen alten Herrn, der vor der Bäckerei an einem Tisch sitzt, die Nummer der Taubenrettung zu googeln, was er sofort macht. Die Frau sitzt mittlerweile mit der verletzten Taube in den Händen an einem anderen Tisch.
Sie lallt: "Ich bin betrunken, aber das Baby darf nicht sterben. Bitte, bitte helfen sie mir!"
Der alte Herr am Nebentisch findet die Nummer der Taubenrettung nicht, also rufe ich die 112 an. Ein freundlicher Polizist sagt: "Wir kümmern uns darum." Ich gebe ihm die Adresse, an der wir uns befinden. Ich bedanke mich bei dem Polizisten, drehe mich um, aber die Frau ist verschwunden.
 
"Ich konnte sie nicht aufhalten", sagt der junge Mann, sie ist weg mit der Taube auf dem Arm."
Wir sehen uns eine Weile sprachlos an. "Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee", sage ich, gehe in die Bäckerei und holen mir einen.
Der junge Mann holt sich auch einen.
Wir setzen uns an einen Tisch.
"Tja", sagt er: "Was soll uns das jetzt sagen?"
Ich denke kurz nach: "Was uns sagen kann? Es sagt uns, dass es vergeblich ist, einem Menschen zu helfen, der nicht bereit ist unsere Hilfe anzunehmen."
Er nickt: "Wie traurig."
"Ja, das ist traurig", antworte ich.
"Aber wissen Sie, was ich auch sehe?"
Er lächelt: "So viele Menschen hier haben der Frau ihre Hilfe angeboten. Sie haben alle geholfen. Und das fühlt sich gut an, ich hatte schon fast den Glauben an das Gute im Menschen verloren."

Donnerstag, 1. September 2022

Hör auf dich selbst zu verlassen

 



„Ich fühle mich einsam.“
Das höre ich oft in meinen Sitzungen.
So viele Menschen fühlen sich einsam.
Sie fühlen sich einsam, egal ob sie in einer Beziehung sind oder nicht, egal wie viele Bekannte und Freunde sie haben. Sie fühlen sich innerlich einsam.
Einsamkeit ist ein Gefühl, vollkommen unabhängig von den Umständen, in denen wir leben.
Es gibt Menschen, die alleine leben und sich nicht einsam fühlen und es gibt Menschen für die schon eine kurze Zeit des Alleinseins das Gefühl von tiefer Einsamkeit mit sich bringt.
Sich einsam fühlen hat nichts damit zu tun, dass wir jemand anderen vermissen.
Sich einsam fühlen bedeutet: Wir vermissen uns selbst.
Wir vermissen uns selbst, weil wir uns selbst verlassen haben oder nie zu uns selbst gefunden haben.
Wir haben keine Verbindung zu uns selbst.
Wir haben keinen Zugang zu dem Menschen, der wir sind.
Wir ertragen uns selbst nicht. Wir halten es mit uns selbst nicht aus. Wir fühlen uns mit uns selbst in schlechter Gesellschaft.
Das schmerzt.
 
Und weil dieser Schmerz unaushaltbar erscheint, laufen wir ihm davon und suchen Bindung und Verbindung im außen.
Wir suchen in Tinder, in Dating Apps, Single Börsen und sonstwo. „Da muss doch jemand sein, der mir das Gefühl nimmt, das so unaushaltbar ist. Da muss doch einer sein, der mir Halt gibt."
Und wieder verlassen wir uns selbst. Wieder suchen wir im Außen, was wir in uns selbst nicht finden können.
 
Es ist eine Sucht. Der Kern jeder Sucht ist die Suche nach etwas im Außen, das uns ganz machen soll.
Aber es gibt nichts im Außen, das uns ganz macht. Das ist eine Illusion. Kein anderer, keine Substanz, keine Pillen, nichts davon kann uns ganz machen.
Das können nur wir selbst.
Indem wir uns endlich uns selbst ganz zuwenden.
Uns selbst finden, erkennen und ganz annehmen.Tun wir das nicht sind wir ewig Süchtige, ewig Abhängige vom Außen.
Wir leben im Mangel und ziehen Mangel in unser Leben.
Wir leben in der inneren Verlassenheit und ziehen Verlassenheit in unser Leben.
Wir sind einsam, solange wir uns selbst verlassen.
 
Das ist es, was uns der Schmerz der Einsamkeit sagen will: Hör auf dich selbst zu verlassen!
Verbinde dich mit dir selbst!
Sei für dich da. Jetzt, jeden Moment. Mit jedem Atemzug.
Gib dir das, was du dir von anderen wünschst
Freunde dich mit dir selbst an.
Verbinde dich mit dir selbst.
Sei gütig mit dir selbst.
Halte dich selbst.
Fühle dich selbst ganz.
Schenk dir das, was du so dringend brauchst: Zuneigung und Liebe.
Nimm dieses einsame Kind in dir endlich auf den Schoß und sei für es da. Immer.
Hör auf dir zu erzählen, dass du einsam bist.
Wende dich dir selbst mitfühlend zu, und umarme dich mitsamt deinem Schmerz.
Er ist dein Lehrer, der dir den Weg zeigt.
Den Weg nach Innen zu dem wunderbaren Wesen, das du bist.
Dann bist du ganz, egal ob da jemand ist oder nicht. Egal wir viele da sind oder niemand.
Dann verliert die Einsamkeit ihren Schmerz.
Und irgendwann begegnet dir ein anderer, der auch ganz ist.
Und wenn nicht, bist du für dich da.
Immer, weil du dich selbst nie mehr verlassen wirst.