Montag, 31. Mai 2021

Ich weiß, dass ich nichts weiß ...

 

                                                                      Foto: A.W.


Manche sind sich sicher.
Sie fühlen sich sicher, in ihrem Glauben alles zu wissen.
Sie meinen sogar zu wissen, was sie nicht wissen können.
Nicht wissen können, weil sie nicht erfahren haben, was sie meinen zu wissen.
Sie wissen nur, was sie zu wissen denken.
Sie fühlen sich sicher indem sie Konzepten folgen.
Konzepte geben ihnen Sicherheit.
Sie folgen Konzepten und meinen sich sicher in ihren Konzepten.
Sie folgen Konzepten, weil sie nicht sicher sind.
Sie brauchen Sicherheit um sich sicher zu fühlen.
 
Manche sind unsicher.
In nichts sind sie sich sicher.
Konzepte geben ihnen keine Sicherheit.
Sie folgen keinen Konzepten.
Sie finden keine Sicherheit in etwas, was sie nicht erfahren haben.
Sie machen Erfahrungen.
Erfahren heißt: Wissen. 
 
Wissen heißt: nichts wissen.
Ich weiß, das ich nichts weiß. (Sokrates)
Nichtwissen hinterfragt, was du zu wissen meinst.
Im nicht Wissen öffnet sich der Weg, die Wahrheit zu erkennen.

Freitag, 28. Mai 2021

Vorstellungen und Glaubenssätze

 



Glaubenssätze und Vorstellungen hat jeder.
In jedem Glaubensatz, besonders in jenen, die dir als solche nicht bewusst sind, liegt eine große Kraft - im Positiven wie im Negativen.
Glaubensätze sind hilfreich, wenn sie dich stark und frei machen, wenn sie dich schwächen und krank machen, sind sie unheilsam und zerstörerisch. 
 
Jede Vorstellung, der du ohne wirkliche Überzeugung gerecht werden willst, zehrt an deiner Kraft.
Zu lassen, wovon du nicht wirklich überzeugt bist, zu lassen, wie es dir nicht gefällt, ist heilsam. Wenn du dir mehr Energie wünscht, ist es besonders wichtig, dich darauf zu besinnen, was du im tiefsten inneren bist, ohne deine negativen Glaubensätze. Wer also bist du, wenn du das, was du an Negativem über dich denkst, weglässt? 
 
Indem du dich selbst (er)kennst und ernst nimmst, kannst du lernen, auch mehr zu leben, was du im tiefsten Inneren bist.
Glaubenssätze verändern sich nicht durch das bloße Wissen darum. Sie verändern sich nicht durch Affirmationen. Das ist so als übermale man ein Bild. Das Bild verändert sich, es zeigt ein neues Bild, hat eine neue Oberfläche, aber der Grund des Bildes ist unverändert.
Um Denkstrukturen grundlegend zu ändern, musst du dir ihrer erst einmal bewusst werden. Und wenn du dir ihrer bewusst bist, kannst du entscheiden bewusst neue Erfahrungen zu machen.
 
Nur neue Erfahrungen können Glaubensätze verändern. 
Aber nur bestimmte Glaubensätze ermöglichen wiederum bestimmte neue Erfahrungen.
Nur wenn du tust, was dir wirklich entspricht, kann sich ändern, was du nicht bist.

Donnerstag, 27. Mai 2021

Willst du Krieg oder Frieden?

 



Sei wie du sein willst, sei wie du bist, denke, was du denkst, aber trage es nicht auf dem Rücken anderer aus, die deine eigene Welt in Frage stellen. 
 
In dem Maß wie wir auf unsere Sicht von Welt beharren, in dem Maß wie wir uns oder andere in eigene Vorstellungen und Normen pressen, indem wir verurteilen, was uns nicht in den Kram passt, entfernen wir uns vom Mitgefühl und von der Liebe. 
 
Wir wollen andere ändern.
Damit wir uns besser fühlen können, damit wir im Recht sein können. Damit akzeptieren wir weder uns selbst noch andere.
Das versperrt uns den Weg zu anderen und zum eigenen Schöpfungspotenzial.
Wenn wir friedlich zusammenleben wollen, müssen wir uns so akzeptieren wie wir sind - und nicht unsere Vorstellungen und Bedürfnisse auf dem Rücken anderer ausleben. 
 
Ich lasse mich sein und ich lasse dich sein.
So können wir gut zusammenleben.
Wir können nicht gut zusammenleben, wenn wir von anderen verlangen so zu sein wie wir selbst sind.
Wenn wir fordern andere müssen so sein wie wir, dann, weil sie unsere Sicht von Welt irritieren und in Frage stellen.
Je mehr wir sie dafür angreifen, desto unsicherer sind wir uns unserer selbst, desto weniger Halt haben wir in uns selbst, desto größer ist die Angst, die eigene kleine Maulwurfswelt könnte in Frage gestellt werden.
Wir führen Krieg.
Je vehementer der Angriff gegen Andersdenkende, desto größer die eigene Angst, desto größer die Anhaftung an Konzepte, desto größer das Festhalten, desto enger das Herz, desto größer ist der Krieg, der im eigenen Inneren stattfindet. 
 
Wer innen Frieden fühlt, führt keinen Kampf im Außen.
Frieden ist, wenn wir den anderen als gleichwertig achten und ihm seine Position zugestehen.
Liebe ist, wenn wir den anderen voller Achtung sein lassen, anstatt ihn auf die eigene Seite zerren zu wollen.

Sonntag, 23. Mai 2021

Was weißt du schon von mir?

 

                                                              Foto: www
 
 
Es gibt diese Menschen, die glauben, dich zu kennen.
Sie meinen, dich zu kennen.
Und weil sie meinen, dich zu kennen, geben sie ihre Meinung ab, über dich.
Und sie meinen dir damit etwas sagen zu können über dich, etwas was du vielleicht nicht weißt, etwas, was dir vielleicht nicht bewusst ist, was sie meinen zu wissen über das, was dir nicht bewusst ist.
Sie geben eine Meinung ab.
Nichts weiter.
Wahr ist, keiner kennt dich.
 
Du erzählst ihnen vielleicht wie du dich fühlst, und sie geben eine Meinung ab, wie sie fühlen über das, was du fühlst.
Sie wissen nicht, was du fühlst.
Sie fühlen, was sie über dich fühlen.
Nichts weiter.
Wahr ist, kein Mensch fühlt den anderen.
 
Und es gibt diese Menschen, die wissen, dass keiner den anderen kennt.
Sie hören dir zu und sie geben keine Meinung ab.
Sie hören dir wirklich zu, ohne dir zu sagen, was sie meinen, über dich.
Sie wissen, dass nur du fühlst, was du fühlst und sie fühlen mit dir.
Vielleicht stellen sie dir Fragen, um dein Gefühl besser mitfühlen zu können.
Nichts weiter.
Wahr ist, diese Menschen bringen dich weiter.

Mittwoch, 19. Mai 2021

Feindseligkeit

 

                                                                  Malerei: A.Wende


Diskutieren ist anstrengend, in Coronazeiten ist es sogar mehr als anstrengend. Wir haben eine Meinung, einen Standpunkt und wir möchten uns mitteilen und gehört werden, aber unser Gegenüber macht dicht. Es ist nicht bereit sich konstruktiv mit uns auseinanderzusetzen, es geht ihm nur darum Recht zu haben. Alles was wir sagen wird mit platten Aussagen weggewischt, im Zweifel werden wir in eine Ecke gestellt, im schlimmsten Falle als Coronaleugner, Covidiot, Schwurbler oder Verschwörer bezeichnet, nur weil wir nicht dem Mainstream folgen und es uns erlauben eine abweichende eigene Meinung zu haben und diese auch noch kund zu tun. Die Stimmung ist angespannt, wir fühlen uns unwohl, wir spüren die Diskussion wird immer aggressiver und führt unweigerlich in die Eskalation.
 
Das Thema Corona und alles, was damit zusammenhängt, spaltet die Menschen, das hat fast jeder von uns schon am eigenen Leibe erfahren. Es spaltet und trennt bis in die kleinste Zelle unseres menschlichen Miteinanders. Das geht soweit, dass Feindschaften entstehen unter Menschen, die einst Freunde waren und das macht auch vor Familien nicht halt. Das zu erleben ist erschütternd, aber es macht uns auch klar wie sehr wir in einem Dilemma gefangen sind, das unser menschliches und soziales Miteinander im Zweifel dauerhaft beeinflussen und schädigen wird und damit das Erleben und das Verhalten jeden Einzelnen. 
 
Viele machen gar nicht mehr die Anstrengung zu diskutieren. Sie behalten ihre Gedanken und ihre Meinung für sich, weil sie nicht anecken wollen, weil sie nicht streiten wollen, weil sie es nicht riskieren wollen angegriffen oder gar aus der vertrauten Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.
Die Freiheit des Wortes ist eine gefährdete geworden. Sie ist bedroht von der Angst in Konflikt zu geraten. Sie ist bedroht von Aggression und Feindseligkeit. 
 
Feindseligkeit ist eine Form der Aggression, deren Ziel es ist eine andere Person direkt zu schädigen. Feindseligkeit entsteht wenn man merkt, dass sich die Welt oder andere nicht so verhalten wie man es gern hätte. Sie ist eine Form, die Dinge so zu „hinzubiegen“, dass sie wieder in das eigene Wahrnehmungskonzept passen. Der Mensch begreift nur das, was er selbst erfährt. 
 
Feindseligkeit vergiftet das Klima sozialen Miteinanders. Als ob alles nicht schon schwer genug wäre. Es herrscht Unfrieden unter den Menschen. Die Geschichte lehrt, dass Menschen zum Frieden nicht fähig sind. Immer schon gibt es Kriege, immer schon kämpfen Meinungen, Glaube und Überzeugungen gegeneinander, immer schon wollen Menschen ihren Glauben und ihre Überzeugungen mit allen Mitteln durchsetzen, immer schon geht es darum die eigene Sicht von Welt zu behaupten und dafür zu kämpfen, dass sie zur absoluten Wahrheit wird – im kleinen wie im Großen.
 
Die Geschichte zeigt auch, dass Menschen in Katastrophensituationen prosozialer und altruistischer handeln. In Ausnahmesituationen wird im ersten Schock zunächst solidarisch gehandelt, aber je länger dieser Ausnahmezustand andauert und je unsichtbarer die Bedrohung ist – wie in diesem Falle durch ein unsichtbares Virus - in egoistische Verhaltensweisen driften. Nach dem Motto: Ich bin mir selbst der Nächste. 
 
Erinnern wir uns an den Anfang der Krise. Während in Italien die Helfer beklatscht wurden, gab es bei uns Kämpfe um das Toilettenpapier, es wurden Nahrungsmittel gehortet und Maskenverweigerer waren nicht bereit sie zu tragen. Andererseits gab es Hilfsangebote, Menschen wurden zu „Helden“ indem sie auf dem heimischen Sofa saßen um die Alten und die Risikopatienten zu schützen. Das ist längst Vergangenheit. Was sich herauskristallisiert ist: Die Krise fördert in erster Linie den Egoismus und die Selbstsucht. 
 
Das Verhalten der überwiegenden Zahl der Menschen in Deutschland, so eine Bevölkerungsschutzstudie der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften unter der Leitung von Prof. Henning Goersch, ist geprägt von ausschließlicher Fokussierung auf den eigenen Vorteil. Die Gesten der Solidarität und der Hilfsbereitschaft sind längst ermüdet – der überwiegende Teil der Bevölkerung kämpft für sich allein und alles was die eigene kleine Welt und den eigenen Denkrahmen bedroht, wird angefeindet. So bedrohen besonders auch andere Meinungen diese eingerahmte Welt.
 
Warum ist das so?
Weil sie das scheinbare Gefühl von Sicherheit bedrohen, weil sie diese höchst fragile Scheinsicherheit ins Wanken bringen, weil das Angst macht, noch mehr Angst als da schon ist. Menschen neigen, wenn sie Angst haben, dazu sich an das zu halten was die Meisten für richtig halten und tun. In der Masse fühlen sie sich aufgehoben, einbezogen, integriert, sicher. Sie fühlen sich nicht allein und um die Verbundenheit nicht zu riskieren suchen sie nach Gleichgesinnten die ihnen das Gefühl geben in der richtigen Spur zu laufen. In der Angst wird die Suche nach Verbündeten überlebenswichtig, denn wer allein ist, geht im Zweifel unter. Wer aus der Sippe ausgeschlossen wird hat schlechte Karten. Das sitzt fest verankert im kollektiven Unterbewussten. Wer die Sippe bedroht, auch das sitzt im kollektiven Unterbewussten, ist der Feind und dieser muss vernichtet werden.
Klingt brutal ist aber so. In diesem brutalen Klima leben wir jetzt. Egoistisches, antisoziales Verhalten und Feindseligkeit gehören zu unserem Lebensalltag. Am Anfang hieß es: Corona ist die Chance die Menschheit wachzurütteln. Diese Chance so scheint es, haben wir vergeigt.

Dienstag, 18. Mai 2021

Für die Feinfühligen, die Sensiblen, die Mitfühlenden ...

 


                                                    Self-compassion entails being warm and understanding toward ourselves when we suffer, fail, or feel inadequate, rather than ignoring our pain or flagellating ...

      Kristin Neff 

 

Es gibt sie immer wieder, diese Tage, an denen ich mich klein und machtlos fühle. Ich habe das Gefühl ich kann zu wenig tun, ich fühle mich ohnmächtig angesichts des Absurden, das die radikale Veränderung der äußeren Welt in unser aller Leben gebracht hat. Zwischen den Sitzungen sitze ich oft an meinem Schreibtisch und schaue auf den Fliederbaum dessen lila Blüten, kaum haben sie sich entfaltet, schon wieder verwelken. Diese gefühlt stillstehende Zeit vergeht zu schnell, so wie die Fliederblüten zu schnell ihre farbige Pracht verlieren. In diesen Momenten umfängt mich Trauer ob der Vergänglichkeit allen Lebens. Mehr denn je zuvor habe ich begriffen, wie kostbar die Zeit hier auf der Erde ist. Ich habe nur dieses eine Leben und dieses eine Leben ist zu kostbar, um darin nicht ganz lebendig und ich selbst zu sein.

Ich ertappe mich dabei wie ich manchmal die Hoffnung verliere, den Glauben an das Gute, an ein Besseres und wie die Zweifel an der längst überfälligen Einsicht der Menschen, dass wir so nicht weitermachen können, meine Zuversicht wegwischen. Ja, auch ich, die ich anderen Menschen Unterstützung und Kraft gebe, ertappe mich dabei, mich in solch dunklen Gedanke zu verlieren. Auch ich bin betroffen, getroffen von der Veränderung dessen, was einmal mein Leben war. Ich spüre wie stark mich das Ungesunde im Außen beeinflusst und meinen Alltag zu einer nie gekannten Anstrengung macht. Und zugleich spüre ich, in all den Gesprächen mit Menschen, wie sie immer erschöpfter, hoffnungsloser und müder werden. Ich spüre wie sie das Gefühl für sich selbst und den eigenen Lebenssinn verlieren und wie sie mit aller Anstrengung versuchen ihn doch aufrechtzuerhalten oder neu zu erfinden.

Da fehlt so viel. Und damit meine ich nicht die offenen Geschäfte, die Cafés, die Reisen. Da fehlt Kontakt, da fehlen Impulse, da fehlt gelebtes Leben inmitten von Menschen. Da fehlt Leichtigkeit, da fehlt was uns Inspiration schenkt, da fehlt lebendige Kunst, Höhen im Alltag, die uns aus der Monotonie erlösen. Da fehlen so viele vertraute Möglichkeiten einander zu sehen und gesehen zu werden, einander nahe zu kommen, einander zu berühren, natürlich, frei und unbeschwert. Das macht viele Menschen innerlich einsam, auch wenn sie nicht alleine leben. Ich habe in all den Jahren meiner Arbeit noch nie so viele Menschen, die sich einsam fühlen, erlebt. Egal ob jung oder älter. Und noch nie war es so schwer zu helfen, denn der Weg aus der Einsamkeit heißt: in Kontakt gehen. Ins Außen gehen, lebendige Begegnungen herstellen und sich verbinden. Miteinander reden, lachen, leben, teilen, lieben.

In der Verbindung mit anderen spüren wir uns selbst, wir werden gespiegelt, wir werden reflektiert und reflektieren uns selbst. Viele von uns schauen jetzt nur noch in den eigenen Spiegel und sehen immer dieses Selbst, das sich aufzulösen scheint in seinen Konturen, weil es zu lange schon sich selbst überlassen ist in der Selbstbespiegelung. Und dann höre ich Worte wie: Ich habe zu wenig Selbstwertgefühl, weil ich das nicht schaffe so allein mit mir selbst. Ich bin nicht stark genug, ich genüge mir nicht, ich liebe mich nicht genug. Ich bin undankbar weil ich doch ein Dach über dem Kopf habe und mich ernähren kann. Ich falle in ein Loch.

Und dann sage ich: Bullshit, das ist nicht wahr! Auch der selbstsicherste, stärkste und sich selbst liebende Mensch braucht Menschen, braucht Aufmerksamkeit, braucht Zuneigung und Nähe, braucht Interaktion die über einen Computerbildschirm hinausgeht ins sinnliche Erleben, braucht andere, um sich selbst zu spüren.

Es ist vollkommen normal und gesund auf das Absurde, das wir gerade erleben, auf diese Weise zu reagieren. Das Außen ist nicht gesund und Gesunde reagieren stark auf das Ungesunde. Je sensibler, je feinfühliger wir sind, desto stärker reagieren wir. Die Feinfühligen, die Empathen, die Hochsensiblen sind es, die leiden. Sie sehen und erleben sich nicht als getrennt von den anderen und der Welt. Sie empfinden sich als ein Teil des Ganzen und wenn ein Teil des Ganzen erkrankt, erkrankt mit ihm auch das ganze System. Das das spüren diese Menschen, manche sogar körperlich.

In ihrer Einsamkeit, geboren aus dem Gefühl erzwungenen Getrenntseins, liegt Trauer, ein tiefes Mitgefühl für all die, denen es jetzt gar nicht gut geht. Sie können sich nicht ablenken indem sie sich in ihren heimischen Kokon vergraben, es sich gut gehen lassen, und so tun als habe das Leid ihrer Mitmenschen nichts mit ihnen zu tun. Sie sind dazu einfach nicht fähig. Sie fühlen zu viel. Zu intensiv, zu sehr mit und sie wollen etwas tun, denn wahres Mitgefühl, will das Leid lindern. Es kann nicht einfach zusehen und bei sich bleiben. Aber das ist genau das, was mitfühlende Menschen jetzt lernen müssen. Das ist schwer. Weil es für sie die große Umkehr ihres Seelenweges ist, den sie immer verfolgt haben, instinktiv und ohne nachzudenken.

Jetzt müssen sie den Weg zu sich selbst gehen um zu seelisch und mental zu überleben. Sie müssen - und ja, jetzt sage ich „müssen“ – sich selbst schützen lernen um nicht zu resignieren ob der Ohnmacht und der Trauer, die sie spüren. Sie müssen lernen das Mitgefühl sich selbst in dem Maße zu schenken, wie sie es anderen schenken. Das heißt nicht, weniger mitfühlend zu sein, das bedeutet nicht innen kalt zu werden oder egoistisch – es bedeutet den Focus darauf zu legen, sich selbst gut zu versorgen, mit sich selbst zu fühlen. Als allererstes. Ganz bewusst.

Ich weiß das ist schwer, denn dadurch geht das Einsamkeitsgefühl, geht die Ohnmacht, geht die Trauer nicht weg. Aber diese Gefühle sind dann nicht mehr so belastend, dass sie die Energie für das eigene Leben wegfressen.

Wie das geht?

Neulich sagte ein weiser Mann zu mir: Da ist dieses Loch in all den Sensiblen und Feinfühligen – und weißt du, die Wahrheit ist, das geht nicht weg, denn es ist ein existentielles Gefühl, geboren aus einem frühen Trauma, aber um das Loch herum da ist etwas und darauf müssen wir schauen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 16. Mai 2021

Über das Verzeihen

 

                                                                        Foto: A. Wende

Wenn man jemand alles verziehen hat, ist man mit ihm fertig.

Sigmund Freud


 

Verzeihen, wie geht das?
Ich selbst bin jemand, der schwer verzeihen kann. Das beginnt da, wo ich mir selbst nicht verzeihe für all die Dinge, die ich anderen angetan habe oder mir selbst. Nicht, dass ich es nicht versucht habe. Ich habe es versucht, immer wieder, wenn mich ein Mensch tief gekränkt hat. Geholfen hat es nichts. Bis ich begriffen habe, warum diese Versuche untaugliche Versuche waren. Ich habe begriffen, dass Vergebung nicht zu erzwingen ist, auch wenn man verzeihen will. 
 
Verzeihen wollen geht nicht.
Wenn ich etwas tun will, muss ich verstehen, was ich tun will. Bei diesem Gedanken wird mir bewusst, dass ich nicht genau weiß, was ich tun muss um verzeihen zu können. Wie also soll ich etwas tun, wenn ich nicht weiß, was ich da tun will?
 
Was bedeutet verzeihen? Und was ist, wenn ich in den Zustand des nicht verzeihen Könnens gelange?
Wodurch entsteht er, was war da, bevor das Verzeihen als Aufgabe im Raum steht, im Raum der Seele, denn da ist der Platz, wo man es findet, das Verzeihen. Der Kopf kann denken: Ich will verzeihen, aber wenn die Seele nicht bereit ist, hilft das Denken nicht.
Vor dem Verzeihen gibt es etwas, was wir einem anderen oder uns selbst übel nehmen.
Wir nehmen ein Übel an. Ein Übel, das wir einem anderen getan haben oder ein Übel, das ein anderer uns angetan hat. Das Übel ist eine Verletzung, eine Kränkung, etwas, das unsere Grenzen massiv verletzt hat, eine Zurückweisung, eine Lüge, ein Betrug oder eine Grausamkeit. 
 
Etwas übel nehmen bedeutet etwas Übles übernehmen.
Dieses Üble macht etwas mit uns, etwas, was uns im Herzen und in der Seele weh tut. Etwas Übles verzeihen ist schwer. Denn es bedeutet: Wir dürfen dem anderen das Üble nicht weiter übel nehmen. Aber wahr ist: Es gab ein Übel und dieses Übel ist nicht wegzudenken und schon gar nicht weg zu fühlen.
 
Wir fühlen uns verletzt, wir denken es nicht.
Was wir fühlen ist für uns wahr. Was wir fühlen hat seine Berechtigung, was wir fühlen darf sein. Erst Gedanken verändern Gefühle. Manche Gefühle aber lassen sich durch Gedanken nicht verändern, auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen, weil wir wissen, dass es unheilsame Gedanken sind und nicht hilfreich für uns.
Unsere Gefühle mögen den, der uns Übles zugefügt hat, nicht berühren, denn er fühlt nicht, was wir fühlen. Er kann es nur zu verstehen versuchen und das ist nicht das gleiche. Der uns verletzt hat, hat es in den meisten Fällen nicht gewollt. Wenn er uns nicht mit Absicht verletzt hat, wird er uns um Verzeihung bitten, die absichtsvolle üble Tat will kein Verzeihen.
Da steht ein Mensch vor uns und bittet um Vergebung.
Aber wir können nicht vergeben, wir fühlen das so.
Wir könnten um des Frieden Willens sagen: Ich verzeihe dir.
Aber das sind Kopfgedanken. Ist es damit wirklich gut, wenn die Wahrheit ist: Ich kann dir nicht aus ganzem Herzen verzeihen, jetzt nicht, später vielleicht, irgendwann oder vielleicht niemals.
In allen spirituellen Büchern, bei der Bibel angefangen, gilt das Verzeihen als Großmut, als eine hohe Tugend. Das hört sich groß an, so groß, dass es zu groß ist um es einfach zu tun.
 
Ein gekränkter, verletzter Mensch ist alles andere als groß, wenn er im tiefsten Inneren getroffen wurde.Er fühlt sich klein, Er fühlt sich in seinen Grundfesten erschüttert, er fühlt sich gedemütigt und ohnmächtig.  
Er muss zunächst mit sich selbst klarkommen und mit dem, was die Verletzung mit ihm macht. Sie fragmentiert im schlimmsten Fall seine ganze Person. Er wird innere Gespräche führen, um das verletzende Ereignis zu verarbeiten und zu bewältigen. Wie lange diese Bewältigung dauert hängt von jedem Einzelnen ab, von seiner seelischen und psychischen Struktur, seinen Werten, seinen Moralbegriffen, seiner Vulnerabilität, seinen biografischen Erfahrungen, seinen Glaubenssätzen, seiner Resilienz, seiner Fähigkeit dem Leben und den Mitmenschen zu vertrauen, von seinen Bewältigungsstrategien und seinen inneren und äußeren Ressourcen. 
 
Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch verarbeitet Kränkungen und Verletzungen anders.
Keiner Mensch gleicht dem anderen ist und nichts ist zu verallgemeinern. Etwas anderes zu glauben ist ein Phantasma, das an der Realität des Lebens zerbricht. So ist auch die Fähigkeit des verzeihen Könnens individuell verschieden.
Und doch es gibt eine Gemeinsamkeit bei aller Verschiedenheit wenn es um das Verarbeiten einer Kränkung geht: Ein verletzter Mensch braucht den Rückzug. Er braucht Zeit um seine Wunden zu lecken, wie ein verwundetes Tier, das sich in seine Höhle zurückzieht. Ein verletzter Mensch braucht seine Höhle um sich mit der Verletzung auseinanderzusetzen, um zu sehen, wie tief sie ihn erschüttert hat, um zu begreifen, was er daraus lernen kann, um herauszufinden, ob er die Verletzung nutzen kann, um etwas über sich selbst oder den, der ihn verletzt hat, zu erkennen, was er bisher nicht "gesehen" hat. Dann ist es möglich an der Verletzung zu wachsen.
 
Rückzug bedeutet Distanz einnehmen. Distanz zu dem, was geschehen ist und Distanz zu dem, der verletzt hat. Ohne Distanz rumort die Verletzung weiter.
Sie quält nicht nur die eigene Seele, sondern auch die Beziehung zu dem Menschen, der uns verletzt hat. Da ist Nähe kontraproduktiv, denn der Verletzte ist nicht nur erschüttert, er ist auch, nach dem ersten Schmerz, wütend. Wütende Menschen können erst einmal nichts fühlen, außer Wut. Im schlimmsten Fall wächst aus dieser Wut blanker Hass und manchmal sogar Rachegedanken. Das ist nachvollziehbar, wenn auch unheilsam, denn Rache schaufelt immer zwei Gräber. Sie bindet uns an den Täter und durch Rache wiederrum werden auch wir zum Täter. Das ist in hohem Maße zerstörerisch. Auch wenn die Rache niemals aktiv ausgeübt wird, Gedanken der Rache zerfressen von Innen. Wir verbittern. 
 
Verzeihen braucht Zeit und Distanz. Und dann?
Dann zeigt sich irgendwann ob man aus tiefstem Herzen verzeihen kann. Der, der verletzt hat, kommt in diesem Prozess zunächst nicht vor. Man kann einem anderen auch innerlich verzeihen, aber - auch wenn man dem anderen innerlich verziehen hat, bedeutet das nicht, dass man die Nähe zu ihm wieder will. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Auch wenn wir dem anderen verzeihen, ist es möglich, dass wir ihm nicht mehr vertrauen können. 
 
Verlorenes Vertrauen ist das Fallbeil für eine Beziehung.
Wo das Vertrauen verloren ist bleibt eine Wunde, bleibt der bittere Nachgeschmack der Enttäuschung und da ist Angst - wer uns einmal tief verletzt hat, kann es immer wieder tun. Die Erfahrung lehrt - dem ist meist auch so, denn bevor die eine entscheidende Verletzung kommt, waren zuvor viele andere kleine oder größere Verletzungen.
Verzeihen ist ein Neuanfang auf der Basis von Vertrauen. Ist diese Basis aber tief erschüttert, gibt es nur noch den Abbruch der Beziehung. 
 
Verzeihen ist ein langer Prozess. Wir können ich nicht willentlich beschleunigen oder herbeiführen. Geben wir uns Zeit, haben wir Geduld mit uns, fordern wir nichts von uns, was wir nicht können. Trauern wir bis es wieder leichter ist im Herzen. Egal wie lange es dauert.
Verzeihen heißt nicht, es gut heißen. Das Ungute ist, was es ist - ungut.
Verzeihen bedeutet: Loslassen von der Verletzung um unserer Selbst willen.
Was aber, wenn wir nicht verzeihen können, auch wenn viel Zeit vergangen ist? Dann verbittern wir und zerbrechen innerlich.
Niemals verzeihen können, bedeutet dem "Übeltäter" mitsamt dem Übel verbunden zu bleiben, es bedeutet in der Rolle des Opfers stecken zu bleiben und das bedeutet, dem "Täter" weiter Macht über uns zu geben. Es bedeutet Ohnmacht und Starre.
Solange es Menschen gibt, werden sie verletzen, sich selbst und einander.
Eine traurige Wahrheit, aber auch das ist Leben.
Was bleibt wenn wir das anerkennen über die Trauer hinaus? Versöhnung mit dem Leben selbst, so wie es nun mal ist.



Samstag, 15. Mai 2021

Aus der Praxis – Der Sündenbock oder das "böse" Kind

 

                                                                       Malerei: A. Wende 

 

Die Jagd nach dem Sündenbock ist die einfachste. Dwight D. Eisenhower

 

Das Gefühl von Schuld ist schwer aushaltbar und sucht daher immer nach einem Ventil.

Da ist es eine Entlastung für die Seele, wenn dieses schwer aushaltbare Gefühl auf einen vermeintlich Schuldigen abgewälzt oder verlagert werden kann - auf den Sündenbock, der an allem schuld ist. Kein Mensch und kein Kollektiv will sich schuldig fühlen. Das Abwälzen von Schuld auf andere ist so alt wie die Menschheitsgeschichte, es ist eine menschliche Konstante, die sich durch alle Gesellschaften und Religionen zieht.

 

Sündenbock-Rituale sind uralt und dennoch gehören sie nicht der Vergangenheit an, bis heute werden sie gelebt.

Die Geschichte ist reich an Beispielen für die Suche nach Schuldigen, denen man alles Übel anhängen kann. In den Medien begegnen sie uns Tag für Tag. So postuliert der Kulturanthropologe René Girard, der sich dem Thema Sündenbock in seinem Werk ausgiebig gewidmet hat, gar die Existenz einer fundierenden Erfahrung, die gezeigt hat, dass die Gewaltspirale eines Kollektives durch die Opferung eines Sündenbocks unterbrochen wird. 

 

Zitat: „Wenn die Gewalt in einer Gruppe einen Punkt erreicht, in dem alle die Gewalt aller nachahmen und das Objekt, das die Rivalität ausgelöst hat, „vergessen“ ist, stellt das Finden eines als schuldig empfundenen Individuums eine einheitsstiftende Polarisierung der Gewalt dar. Die Tötung oder die Ausstoßung des zum „Schuldigen“ erkorenen Sündenbocks reinigt die Gruppe von der Gewaltseuche, weil diese letzte – gemeinsam vollbrachte – Gewaltanwendung keine Rache mit sich bringt. Da auch das Objekt, das die Krise ausgelöst hat, vergessen ist, ist die Reinigung durch die Opferung des Sündenbocks vollständig. Insofern die Auswahl des Sündenbocks eine mutwillige oder auch zufällige ist, ist der Sündenbock austauschbar: Seine Bedeutung für die Gruppe besteht in der durch ihn wiederhergestellten Einmütigkeit. Gleichzeitig ist aber der vernichtete Sündenbock in seiner „heilbringenden Abwesenheit“ einzigartig und unaustauschbar.“

 

Kulturanthropologisch gesehen stammen wir also aus Zeiten, die Sündenböcke benötigt und benutzt haben.

Bedauerlicherweise haben wir nichts dazu gelernt. Die Geschichte lehrt: Der Mensch ist auch hier unveränderbar. Er ist nicht fähig und nicht willens Verantwortung für die eigene Fehlbarkeit und die eigene Schuld auf sich zu nehmen, weil er nicht fähig ist diese Gefühle auszuhalten. Er braucht den Sündenbock als Objekt der Abwehr des Unaushaltbaren in sich selbst.

 

So schreibt der Neurologe und Psychiater Ulrich Bahrke, stellvertretender Leiter der klinischen Ambulanz am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt: „Grundsätzlich braucht es in menschlichen Gruppen ab und an Sündenböcke, damit auf diese Weise die erlittene Aggression durch eine Gegenaggression gemildert oder gesühnt werden kann. Immer dann, wenn besondere Schmerz- oder Leidsituationen auftreten, kommen bei den Betroffenen Aggressionen und Schuldgefühle auf, die irgendwo verortet werden müssen.“ 

 

Auf den auserwählten Sündenbock wird alles Schlechte des Eigenen projiziert.

Im richtigen Leben heißt das, wer einmal als Sündenbock auserkoren wird, hat schlechte Karten. So neigen auch Familien dazu sich, bewusst oder unbewusst, einen Sündenbock zu erwählen und das ist das eigene Kind. Dieses Kind, oft ein schwieriges Kind, das irgendwie „anders“ ist, dient als Projektionsfläche für negative Seelenzustände und traumatischen Erfahrungen der Erwachsenen, die diese nicht bearbeitet und gelöst haben. Das Kind wird funktionalisiert um das eigene Verdrängte „Schlechte“ nicht anschauen und aushalten zu müssen. Es wird zum Sündenbock. Dem schwächsten Glied werden somit Gedanken, Gefühle, Eigenheiten und negative Verhaltensweisen eines oder mehrerer Familienmitglieder übertragen.

 

Nicht erst seit C.G Jungs Theorie der Schatten wissen wir: Was uns an anderen missfällt oder was wir an anderen hassen ist fast immer das, was wir selbst uneingestanden sind oder haben. Verdrängtes hat die Neigung von außen zu uns zurückzukehren, mehr noch, wir ziehen dies geradezu an. Zitat Jung: „Wir sind überzeugt, dass gewisse Leute alle jene schlechten Eigenschaften haben, die wir in uns selbst nicht finden, oder dass sie alle jene Laster leben, die natürlich niemals unsere eigenen sein könnten. Wir müssen immer noch äußerst vorsichtig sein, um nicht unseren eigenen Schatten allzu schamlos zu projizieren, und sind immer noch überschwemmt von projizierten Illusionen.“

 

So ist es, wie die Praxis zeigt, möglich, dass das Kind stellvertretend für die das verdrängten Schatten eines oder mehrerer Familienmitglieder diese Schatten auslebt und fatalerweise damit unbewusst die ihm auferlegte Sündenbockrolle erfüllt.

 

In Wahrheit aber ist das „böse“ Kind das Symptom eines kranken Familienkonstruktes.

Je mehr das Konstrukt das „Böse“ verdrängt, desto mehr erfüllt das Kind dieses. Es hält dem Konstrukt den Spiegel vor. Ohne Worte, durch seine Taten und Verhaltensweisen schreit es: "Schaut hin, schaut in den eigenen Spiegel und tut etwas! Helft mir!“

Der stumme Schrei bleibt meist ungehört. Die Spiegelfunktion wird nicht erkannt, sondern führt vielmehr dazu das „böse“ Spiel zu steigern. Der kindliche Spiegel wird „zerschlagen“, durch Stigmatisierung, Demütigung und/ oder Ablehnung. Im schlimmsten Falle durch emotionale oder körperliche Misshandlung. 

So bekämpft mancher Vater seine eigene Schwäche im Sohn, indem er ihn klein macht oder als schlecht bezeichnet, so kritisiert manche Mutter genau die Untugend an ihrer Tochter, die sie in sich selbst verachtet. Auch Erwartungen, die Eltern ihren Kinder gegenüber hinsichtlich der Schullaufbahn oder hegen, beruhen nicht selten auf der Projektion eigener Wunschträume, die sich nicht erfüllt haben.

 

Wer seinem Kind immerfort Lügen vorwirft, der nimmt es selbst mit der Wahrheit nicht genau.

Wer in seinem Kind nur Schlechtigkeit sieht, trägt Schlechtigkeit in sich.

Wer ständig moralisierend über das eigene Kind den Stab bricht, dem fehlt es selbst es an Moral.

Wer sich ständig durch das aggressive Verhalten des Kindes angegriffen fühlt, trägt Aggression in sich selbst.

 

Der kindliche Sündenbock wird überflutet von stetiger Vorverurteilung, Schuldzuweisungen, Ablehnung und Missgunst. Das Kind kann sich nicht wehren und wehrt sich auf seine kindliche Art, indem es sich selbst verurteilt, sich für schlecht hält und so handelt. Das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung beherrscht sein Leben. Es empfindet sich als Sünder und entwickelt einen Sündenbock-Komplex. Egal was es tut, es erlebt sich durch die Reaktion und die Behandlung der Eltern immer wieder als das "schwarze Schaf",  das an allem die Schuld hat und es trägt die Schuld auf seinem kleinen Rücken, im Zweifel, bis er bricht. Es schämt sich seiner selbst, weil es den Erwartungen der anderen nicht genügt. Es ist einsam und verzweifelt. Es fühlt sich schlecht, schuldig und wertlos. Soziale Kontakte zu Gleichaltrigen werden nicht gelebt, denn es hält sich für nicht wertvoll genug um mit den anderen sein zu dürfen. Manche dieser Kinder werden zum Klassenkasper um wenigstens überhaupt wahrgenommen zu werden.

 

In manchen Fällen entwickelt sich so mit zunehmendem Alter ein delinquentes Verhalten.  

Der Sündenbock beginnt dann z.B. die gefühlte innere Leere mit Gegenständen zu füllen. Er beginnt zu stehlen oder er schlägt zu, weil er unbewusst versucht die unterdrückten Aggressionen gegen die übermächtigen Eltern durch Gewalt zu kompensieren, oder er entwickelt den Drang sich selbst auf die verschiedensten Arten zu verletzen um das von den Eltern konditionierte Muster von Schuld und Sühne an sich selbst zu vollziehen.

 

Alle diese unheilsamen Reaktionsweisen und Handlungsmuster sind der verzweifelte Versuch, die unerträgliche Ohnmacht gegenüber den übermächtigen Eltern und das unaushaltbare Gefühl von Schuld zu wandeln um auf unheilsame Weise die eigene Macht wieder zu erlangen.

Die Folge: Das „Problemkind“ wird zum massiven Problem der Familie.

In Wahrheit aber hat es ein Problem, das die Eltern ihm aufgeladen haben und symptomatisiert so das kranke Konstrukt. Fatalerweise gießt es damit Wasser auf die Mühlen seiner „Richter“.  Es erfüllt und bestätigt die ihm übertragene und erwartete Funktion des Sündenbocks. Es erfüllt sie, weil es nicht anders kann. Die Folge: Die anderen behalten Recht und müssen nicht bei sich selbst schauen und an sich selbst arbeiten, denn: Das Kind ist doch das Problem, was sie ja schon immer wussten.

 

Das Böse, in den Sündenbock evakuiert, der als Behälter dient und entgiftend und reinigend wirkt, entledigt die anderen bei sich selbst zu beginnen und ihre eigenen Komplexe zu bearbeiten. Und es hält sogar durch die Übertragungsprojektion ein eigentlich zerstörtes Familienkonstrukt, das sich ohne den Sündenbock längst aufgelöst hätte, zusammen. 

 
Wann aber endet das böse Spiel?

Es endet dann, wenn die Erwachsenen sich sich selbst zuwenden, dann, wenn sie bereit sind zur Einsicht, dass das Problem bei ihnen liegt und das "schlechte" Verhalten des Kindes nur die Folge einer oder mehrerer Ursachen ist, für die es nicht verantwortlich zu machen ist. Es endet dann, wenn Erwachsene beginnen Verantwortung für ihre Schatten zu übernehmen.

Und der Sündenbock?

Ein Sündenbock ist dann kein Sündenbock mehr, wenn die Menschen sich seiner Unschuld bewusst sind.


 

Donnerstag, 13. Mai 2021

Verwirrung

 

                                                                 Foto: A.Wende

 
Mein Klient ist verwirrt. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, ich bin mir in nichts mehr sicher, sagt er. So geht es vielen von uns. Wir sind verwirrt. Und wir denken, wie schlimm es ist, verwirrt zu sein, denn in der Verwirrung fühlen wir uns unsicher. Wir wissen nicht mehr was oder wem wir glauben sollen, was richtig und was falsch ist. Wir können keine Entscheidung treffen, wir sind in einem Zustand des Suchens und haben den Kompass verloren.
Es ist okay, dass sie verwirrt sind, sage ich zu meinem Klienten.
Achten sie Ihre Verwirrung, seien sie ihr dankbar.
Aber wieso denn, ich komme mir so dumm vor.
Alle anderen sind so sicher. Nur ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich finde mich in diesem Chaos nicht mehr zurecht. 
 
„Vielleicht bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der völlig durcheinander ist. Jeder scheint sich so sicher zu sein, außer mir.”
Diese Worte sind von dem weisen Laotse
 
Verwirrung ist sich nicht sicher sein. Keine Klarheit zu haben.
Aber sich nicht sicher sein, bedeutet nicht, dumm zu sein.
Die Unklugen sind meist sicher. Sie glauben sie wissen, aber sie wissen nicht.
Ein kluger Mensch zögert, er denkt nach, er ist unsicher, er zögert, er wägt ab.
Ein unkluger Mensch ist nie unsicher und zögert nie.
Er folgt dem, was man ihm als Sicherheit verkauft und hinterfragt nicht. 
 
Wissen und Klarheit entstehen niemals aus Sicherheit.
Wissen und Klarheit entstehen aus Zweifel, aus Unsicherheit, aus Verwirrung.
Nur das Verwirrte ruft dazu auf entwirrt zu werden.
Nur das Unklare sucht die Klarheit.
Verwirrung bedeutet, ich erkenne das Chaos.
Es verwirrt mich, weil es in sich selbst die Verwirrung ist.
 
Verwirrung bedeutet, dass es mit dem bloßen Denken nicht mehr weitergeht. Der Denkapparat kann keine Sicherheit mehr bieten.
Der Weg zur Entwirrung kann also nicht über den Kopf gehen.
Dann muss man den Kopf ausschalten. Das Denken ausschalten.
Wenn keine Gedanken da sind, kann es keine Verwirrung geben.
Dann ist da nur der Moment, das reine Sein im Moment.
Dann ist da der Atem, der ruhig fließt.
Dann ist Ruhe im Kopf in diesem Moment und keine Verwirrung.
Und dann ist da Klarheit: Dieser Moment ist alles, was sicher ist.
Man findet keine Sicherheit, wenn man den Verstand loslässt.
Aber man findet Klarheit.

Sonntag, 9. Mai 2021

Muttertag

 


Liebes Kind, 
 
wie viel Liebe, Dankbarkeit, Mitgefühl, Achtung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung schenkst du deiner Mutter?
Wie viel Liebe, Dankbarkeit, Mitgefühl, Achtung und Wertschätzung schenkst du dir selbst?
Kannst du deine Mutter akzeptieren wie sie ist oder war?
Kannst du sie sein lassen wie sie ist?
Hast du eine Idealvorstellung von deiner Mutter, wie sie zu sein hatte oder zu sein hat, die du nicht loslassen kannst?
Wirfst du ihr vor, dass sie Fehler gemacht hat und macht?
Erwartest du mehr als sie dir gegebenen hat oder geben kann?
Trägst du ihr etwas nach?
Kannst du ihr verzeihen, wenn sie keine hinreichend gute Mutter war oder ist?
Kannst du ihr nachsehen, was sie in deinen Augen falsch gemacht hat?
Glaubst du, dass sie für alles in deinem Leben die Verantwortung trägt?
Kannst du akzeptieren, dass deine Mutter auch nur ein Mensch ist mit ihrer eigenen Geschichte, ihren Gefühlen und Bedürfnissen, ihrem Licht und ihrem Schatten und ihren Grenzen?
Kannst du akzeptieren, dass deine Mutter ihr eigener Mensch ist?
Kannst du dir vorstellen, dass du genau diese Mutter hast, um der Mensch zu sein, der du bist?
Und wenn deine Mutter dieses irdische Leben verlassen hat, spürst du, dass ihre Essenz bleibt, hörst du ihre Stimme, siehst du ihr Lächeln und fühlst du ihre Liebe?
Bist du im Kampf mit deiner Mutter oder Frieden?
Bist du im Kampf mit dir selbst oder im Frieden?
 
Und wenn du selbst Mutter bist.
 
Liebe Mutter,
 
wie viel Liebe, Dankbarkeit, Mitgefühl, Achtung und Wertschätzung schenkst du deinem Kind?
Wie viel Liebe, Dankbarkeit, Mitgefühl, Achtung und Wertschätzung schenkst du dir selbst?
Denkst du, du bist eine hinreichend gute Mutter oder denkst du, du bist nicht gut genug?
Denkst du, dass du dein Bestes gegeben und getan hast, das was dir möglich war und noch immer dein Bestes gibst und tust?
Denkst du, dass du Fehler gemacht hast und immer wieder Fehler machst?
Machst du dir Vorwürfe, nicht alles getan zu haben?
Kannst du akzeptieren, dass auch du nicht perfekt bist?
Kannst du dein Kind in Liebe loslassen und es seinen Weg gehen lassen, auch wenn er nicht deinen Wünschen, Vorstellungen und Erwartungen entspricht?
Kannst du dir vorstellen, dass du genau dieses Kind hast um von ihm zu lernen?
Kannst du es bedingungslos lieben?
Ihm vertrauen?
Denkst du, dass du allein die Verantwortung dafür trägst, für das, was dein Kind erfahren hat, getan hat, tut oder nicht tut und was aus ihm geworden ist?
Wie viel Selbstmitgefühl hast du für dich, wenn du nicht alles für dein Kind gut machen konntest, weil auch du Grenzen hast und weil es seine eigenen Entscheidungen getroffen hat, die vielleicht nicht so gut waren?
Wie gut sorgst du für dich, so wie du gut wie du für dein Kind sorgst?
Vergleichst du dein Kind mit anderen?
Vergleichst du dich selbst mit anderen Müttern oder mit deiner Idealvorstellung einer Mutter!
Kannst du akzeptieren, dass du auch nur ein Mensch bist mit Licht und Schatten?
Kannst du akzeptieren, dass dein Kind sein eigener Mensch ist?
Und wenn dein Kind dieses irdische Leben Erde verlassen hat, spürst du, dass seine Essenz bleibt, hörst du seine Stimme, siehst du sein Lächeln und fühlst du seine Liebe?
Bist du im Kampf mit deinem Kind oder im Frieden?
Bist du im Kampf mit dir selbst oder im Frieden? 
 
Mögen alle Mütter und Kinder in Liebe sein. Jeden Tag.

Samstag, 8. Mai 2021

Was denkst du über dich selbst?

 
                                                        Foto. A. Wende
 
Ein Mensch ist das, worüber er den ganzen Tag nachdenkt.
 
Ralph Waldo Emmerson
 
 
In meiner Arbeit mit Menschen kommen wir irgendwann an den Punkt, wo ich die Frage stelle: Was denken sie über sich selbst?
Und meistens höre ich dann nach einem längeren Schweigen nichts Gutes. Sogar Menschen, die selbstbewusst und erfolgreich ihr Leben meistern, finden sehr viel an sich selbst, was sie nicht mögen. Und wenn wir tiefer graben kommen sogar Gefühle wie Selbstablehnung, Scham- und Schuldgefühle ans Licht. Oder sie finden sich nicht gut genug, nicht attraktiv genug, nicht liebenswert oder gar als Versager, obwohl ihnen viel ihm Leben gelungen ist und gelingt. Dennoch sind da all die unheilsamen Gedanken, die sie im Alltag verdrängen.
Sie stehen Morgens auf und schlüpfen in ihre Rolle. Sie verdrängen und überspielen diese unguten Gedanken und die dazugehörigen Gefühle und kommen meist ganz gut damit zurecht. Im Innersten haust da aber ein kleines Rumpelstilzchen, das ständig vor sich hin sagt: Ach wie gut, dass niemand weiß .... den Rest kennt ihr ja. 
Wie gut, dass niemand weiß, ist auch gut. Nicht jeder muss wissen, was wir im Tiefsten über uns denken. „Und wie´s da drinnen aussieht geht niemand was an“, sang meine Mutter immer, wenn sie traurig auf dem Sofa saß und all die schönen Pullover strickte, die wir Kinder gar nicht so schön fanden, aber anziehen mussten. 
 
Was niemand etwas angeht, geht aber dich etwas an, denn wie du über dich selbst denkst, danach richten sich deine Gefühle, deine Handlungen und deine Entscheidungen aus.
Der Stoiker Marc Aurel schrieb einst: „Das Leben eines Menschen ist das, was seine Gedanken daraus machen.“
 
Was du über dich selbst denkst, beeinflusst dein in-der-Welt-sein. Es beeinflusst wie du mit dir selbst umgehst, mit dem was dir widerfährt, was du daraus machst, wie du dein Leben gestaltest und wie du mit anderen umgehst. 
Gedanken haben eine immense Macht. Wir können uns sogar unglücklich denken oder glücklich.
Egal wie die Welt da draußen gerade ist, egal wir machtlos wir uns gerade fühlen, unsere Gedanken haben die Großmacht über unsere innere Welt. Und: unsere innere Gedankenwelt geht in Resonanz mit der äußeren Welt – wir bekommen sozusagen Feedback - die äußere Welt bestätigt dann meist unsere Gedanken, ganz einfach weil wir nur das wahrnehmen was sich unser Denkapparat da oben als Prioritäten gesetzt hat. Warum? Weil wir wie durch einen Filter nur noch das sehen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Und das wächst. 
 
Du kannst nichts dafür, wie du über dich denkst, denn du hast von Kindesbeinen an gelernt wie du über dich zu denken hast. 
Du bist voll von Leit- und Glaubenssätzen, voll von Konditionierungen und Programmierungen, die du übernommen hast, die du vielleicht noch nie hinterfragt hast oder nur halbherzig und die dich noch heute steuern. Darum ist es wichtig dir das gerade jetzt bewusst zu machen und herauszufinden was du in deinem Gehirn an Selbstüberzeugungen gespeichert hast, denn das ist genau das, was dich steuert.
 
Was wir jetzt alle nötig brauchen in dieser Zeit der Veränderung ist, dass wir an uns selbst glauben, dass wir hilfreiche, stärkende und heilsame Gedanken über uns selbst haben, denn unsere Gedanken beeinflussen auch unser Immunsystem, das seelische und das körperliche.
Wenn du magst und am Wochenende Zeit findest, könntest du dir dein Tagebuch oder ein weißes Blatt Papier hernehmen und oben hin schreiben:
Was denke ich über mich selbst?
Dann legst du los. Du schreibst alle Gedanken über dich selbst auf.
Dann schreibst du daneben:
Welche Gefühle lösen diese Gedanken aus?
Dann lege das Buch oder das Blatt zur Seite.
 
Am nächsten Tag liest du alles noch einmal.
Dann fragst du dich:
Ist das hilfreich für mein Leben, was ich da lese?
Ist das gut mit mir selbst sein?
Wohin führen mich diese Gedanken?
Was gestalte ich damit?
Wie fühle ich mich damit?
Wie handle ich, wenn ich so fühle?
Will ich weiter so über mich selbst denken und fühlen?
Verschließe ich mein Herz für mich selbst, wenn ich weiter so über mich denke?
Kann da Gutes auf mich zukommen, wenn ich weiter so denke? 
 
Und zum Schluss bist du dein eigener Coach:
Du fragst dich (wieder schriftlich):
Wie könnte ich besser, liebvoller, selbstmitfühlender, selbstbewusster über mich selbst denken?
Wenn du das getan hast, triffst du eine Entscheidung - für dich, für alle, die dich lieben und brauchen: Du entscheidest dich für heilsame Gedanken, die dir Kraft geben, die dir Mut schenken und den Glauben an dich selbst.
Jeden Tag aus Neue.