Mittwoch, 29. Juli 2020

Werde, der du bist oder vom Töten des Ego II

Foto: A. Wende

„Werde, der Du bist“, das proklamierte Nietzsche und hat es nicht geschafft. Sein ganzes Leben war ein einziger Kampf gegen seine hämmernden Kopfschmerzen und seine schmerzenden Augen. Es war eine Flucht und eine Suche, ein Wandern von einem Ort zum anderen, ein Kampf gegen seine innere Zerrissenheit, ein Leiden an seiner Einsamkeit in der Welt und ein Denken für die Welt, die er verändern wollte - für die Menschen und ihr Seelenheil, für die Liebe, die er selbst nicht leben konnte und all das Gute und das Glück, das er selbst nicht erreicht hat. Nietzsche war ein Mann der Worte, der erkennen musste, dass Worte zwar kraftvoll sind, denn ohne diese Kraft hätte er im eigenen Leben sicher nicht bestehen können, aber im Grunde sah er am Ende verbittert ein, dass Worte, außer dass sie das Bewusstsein immens erweitern, am richtigen Leben nichts Wesentliches verändern wenn man nicht danach leben kann. Das Leben will nicht nur geschrieben, nicht nur gesprochen werden - es will gelebt werden.

Tja, was also erwarten wir von uns, wir, die wir nicht so klug sind wie dieser kluge Geist und werden wollen, wer wir sind?
Wir erwarten zu viel. Wir fordern zu viel, wir fordern das Unmögliche von uns selbst. Immer und immerzu. In guten und in schlechten Zeiten. In gesunden und in kranken Zeiten.
Und was ist es in uns, was das fordert?
Natürlich das Ego. Das böse Ego, auf das alle schimpfen, wenn sie es beim anderen entdecken, damit sie es bei sich selbst nicht sehen müssen.

Einer sagte zu mir: Alles Wollen, das ist Ego. Es ist immer das Ich, das will und er sagte zu mir, dass nur der Frieden findet, der sein Ego tötet.
Ich habe mich gefragt, was ist das eigentlich genau – das Ego?
Ego ist ein Begriff, der synonym zum Begriff „Selbstbild“ verwendet wird. Das Problem an diesem Selbstbild ist: Egal, welches Selbstbild du von dir hast – es ist immer eine Illusion. Das bist nicht du. Es sind nur Eindrücke aus der äußeren Welt, Konditionierungen, Erfahrungen, innere Überzeugungen, die dein Selbstbild formiert haben. Dein Ego hat nichts mit deiner wahren Natur zu tun! Kam es aus der spirituellen Ecke meiner Denkmaschine.
Also im Klartext bedeutet Ego: Wer du selbst “denkst“, der du bist, das bestimmt dein Fühlen, dein Denken, dein Verhalten und welchen Wert du dir zuschreibst.

Wir kommen alle ohne Ego auf die Welt. Als kleines Kind haben wir keine Vorstellung davon, wer wir sind. Unsere Identität ist nicht formiert. In den Augen des kleinen Kindes ist die Bezugsperson und es selbst eins, es gibt keine Trennung in dieser Symbiose.
Erst im Laufe der Entwicklung, geprägt durch die Konditionierungen seiner Umwelt entwickelt das Kind ein Selbstbild, ein Ego. Diese Konditionierungen und äußeren Einflüsse gehen natürlich auch über das Kindesalter hinaus immer weiter. Und so ist das bei uns allen. Und so haben wir alle ein Ego. Aus einem Selbst, das keine Trennung kennt, das eins mit allem ist, wird ein Ego, das beginnt dieses Selbst zu erschaffen. Und so ist das wahre Selbst, das wir nicht kennen lernen, weil wir von Prägung überladen sind, überdeckt von all dem, was uns prägt. Man könnte auch sagen: Das Selbst ist ein unbeschriebenes reines Blatt, das beschrieben wird. Es nimmt alles auf, was ihm widerfährt und baut eine Geschichte daraus, von dem es glaubt sie sei wahr. Und es identifiziert sich damit. Und diese Identifikation ist dann das Ego.

Dieses Ego, dieses falsche Selbst, diese Illusion, die uns davor zurückhält unser wahres Selbst zu erkennen und damit zu entfalten. Das falsche Selbst bildet den Rahmen unserer Möglichkeiten in dem wir uns dann in unserem Leben bewegen und verwirklichen.
Das Ego sagt immer: „Ich bin“. Ich BIN dies und das. Anstatt zu sagen: Ich habe, ich handle, ich mache. Das Ego ist immer in der Identifikation. Auch was unsere Gefühle angeht. Ich bin die Angst, ich bin die Trauer, ich bin die Wut, anstatt – ich habe, ich fühle. Durch die Identifikation mit all dem, halten wir an diesem falschen Selbst fest und manifestieren es.

Aber ist es möglich, das Ego zu überwinden um unser wahres Selbst zu leben? Und macht es Sinn das Ego zu töten?
Stellen wir uns einmal vor, wir könnten die Identifikationen, die das Ego schafft, diese Illusion von uns selbst, einfach loslassen und frei entscheiden wer wir sind – also wer das überhaupt ist unser wahres Selbst.
Stellt sich die Frage: Wie etwas finden, was ob der frühen Konditionierungen erst gar nicht zum Vorschein kommen konnte. Wer bin ich, wenn ich nicht einmal die leiseste Erinnerung an mein wahres Sein habe, also an den, der ich im tiefsten Kern bin?
Wer bin ich ohne das, was man mir über mich selbst beigebracht hat, bevor man mich in einem Rahmen gepresst hat, bevor man mich mit Glaubensätzen überbordet hat, bevor man mich verletzt hat? Wer bin ich ohne dieses starre Selbstbild über das ich mich ein Leben lang schon definiere?

Wer bin ich ohne mein Ego?
Da meldet sich jetzt wieder die spirituelle Ecke in meiner Denkmaschine und sagt, was mein Herz in der Meditation manchmal fühlt: Du bist dein Körper, dein Atem und ... du bist Liebe, du bist reine Liebe. Du bist geboren um zu lieben und geliebt zu werden. Wie all die anderen Wesen, die geboren sind um zu lieben und geliebt zu werden, um Einander gut zu tun, mitfühlend zu sein, sich zu tragen und gegenseitig zu stützen. Das ist unsere wahre Natur.
Wie schön sich das anfühlt.
Nur leider schwer zu leben. Denn da ist ja das Ego. Das so massiv und nachhaltig installiert ist, das es das reine Lieben nicht mehr kann. Weil man es ihm aberzogen hat und weil es da draußen eine Welt gibt, die anders tickt. Eine Welt, die auf diese Liebe gar nicht antwortet, auch wenn wir sie im Überfluss verschenken. Weil sie voller Egos ist, die so weit gar nicht denken, ja sich dessen nicht einmal bewusst sind, das sie ein wahres Selbst überhaupt haben. Egos, die die Liebe mit Worten hoch halten, so hoch, das keiner mehr dran kommt. Sprachwort: Liebe.

Und um in dieser Welt zu überleben wäre es Selbstmord unser Ego zu töten.
Wir brauchen es. So wie das Kind, das lernt ICH zu sagen um ein eigener Mensch zu werden um sich aus der Symbiose zu lösen um überlebensfähig zu sein.
Unser Ego ist ein Teil unserer Ganzheit. Und es hat nicht nur „böse“ Seiten. Es ist mitunter sogar sehr hilfreich auf unserem Weg durch das Leben da draußen. Es ist okay ein Ego zu haben. Nur dürfen wir seine Macht, die wo sie unseren Denkrahmen einengt und uns schadet, hinterfragen. Wir dürfen den rigiden Rahmen unseres Selbstbildes aufbrechen indem wir die Identifikationen in denen wir leben hinterfragen, indem immer wieder und immer öfter außerhalb dieser Identifikationen agieren, indem wir etwas tun, was nicht unserem Selbstbild entspricht, sondern dem, was wir wirklich fühlen und sind. Auch wenn das Ego Angst bekommt, sobald wir das tun. Nutzen wir die Kraft unseres Selbst um diese Angst zu überwinden, denn diese Kraft ist gespeist durch die Liebe. Die Liebe ist die stärkste Kraft. Stärker als das Ego.

Sonntag, 26. Juli 2020

Was kann ich tun, damit ich mich besser fühle?

Foto: Alexander Szugger

Wir selbst haben mehr Einfluss als wir glauben, wenn es um unsere Zufriedenheit und unser seelisches Gleichgewicht geht. Dabei geht es nicht darum dauernd glücklich und super drauf zu sein. Es gibt Menschen die ihre Melancholie mögen, es gibt Menschen, die zufrieden mit ihrem Leben sind und trotzdem öfter traurig sind. Man kann seine Gefühle intensiv fühlen, auch die unangenehmen, sie da sein lassen und trotzdem nicht unglücklich sein.
Jeder von uns ist anders und jeder von uns hat aufgrund seines angelegten Charakters, der Gene und der Umwelt ein eigenes emotionales Empfinden. Es gibt die Introvertierten und die Extrovertierten, die Stillen und die Lauten, die Hochsensiblen und die Pragmatiker, die Chaoten und die Perfektionisten, die Ängstlichen und die Mutigen. Es gibt die, die gerne alleine sind und die, die ständig Menschen um sich herum brauchen, usw.

Aber auch wenn wir mit unserem Gemüt gut klar kommen, wir alle kennen emotionale Reaktionen und destruktive Gedanken und Überzeugungen, die uns immer wieder belasten und die wir gerne ändern möchten, weil wir darunter leiden oder weil sie uns sogar schaden.
In diesem Fall kann es helfen, etwas zu verändern.
„Don´t worry be happy“ ist alles andere als einfach, muss auch nicht sein, aber wir können es, wenn wir es wollen, öfter fühlen, denn es gibt Wege unsere Emotionen zu unserem Heil zu verändern.
Wie ist das möglich?
Die besten Belege dafür, dass eine Veränderung unseres Gemüts möglich ist indem wir unser Denken verändern, stammen aus den zahlreichen Studien über Meditationspraktiken. Diese Studien zeigen, dass man mit Meditation und Achtsamkeitstechniken eine höhere Konzentrationsfähigkeit, erhöhte Resilienz und mehr positive Emotionen erreicht.
Um Achtsamkeit zu trainieren, konzentrieren wir uns auf den Atem und lernen jedes Einatmen und Ausatmen bewusst zu erleben. Jedes Mal, wenn die Gedanken ins Destruktive abdriften oder uns Gefühle überfluten, konzentrieren wir uns auf den Atem. Auf diese Weise erlernen wir Selbstberuhigungskompetenz. Wer mehr positive Gefühle erleben möchte, kann Praktiken der liebenden Güte und des Mitgefühls einüben.


Meditation und Achtsamkeit verändern die Funktionsweise und die Struktur des Gehirns, wenn wir sie dauerhaft in unser Leben integrieren. Sie verändern unsere emotionale Beziehung zu uns selbst, zu anderen und zum Leben.

Eine hilfreiche Übungen um gesünder mit unheilsamen Gedanken und daraus resultierenden belastenden Gefühlen umgehen zu lernen, stammt aus der kognitiven Therapie.
Wir können lernen über negative Ereignisse und Situationen anders zu denken und zwar indem wir sie hinterfragen, relativieren und neu bewerten. Wir können lernen innere Überzeugungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und machen die Realitätsprüfung.
Das ist besonders dann hilfreich, wenn wir oft dieses destruktive „ IMMER oder Nie“ benutzen. Z.B. „Ich habe immer Pech!“. Dann überprüfen wir den Gedanken und fragen uns, ob das wirklich wahr ist und suchen nach Ausnahmen in denen wir kein Pech hatten. Wir werden mit Sicherheit die Unrichtigkeit dieses Gedankens feststellen. Niemand hat IMMER Pech.

Wir können lernen uns aus dieser Haltung, diesem Einssein mit unseren Gedanken zu lösen, auf Abstand zu gehen, sie anzuschauen in dem Bewusstsein, dass es erst mal nur Gedanken sind.  

Grundsätzlich geht es darum den einzelnen Gedanken oder Überzeugungen zu verändern. Tun wir dies, so werden wir uns der Tatsache bewusst, dass unsere Gedanken über die Realität nicht dasselbe sind wie die Realität selbst.
Das nennt man kognitive Neubewertung.
Mehrere Studien belegen, dass dieses Training Veränderungen im Gehirn bewirkt.
Der Spielraum unseres Gehirns ist also ziemlich groß, wenn es um Veränderungen geht. Unser Verstand ist ein herausragendes Instrument, wenn wir ihm abgewöhnen uns zu benutzen und ihn so einsetzen, das er uns mehr nützt als schadet.
Das Ausmaß der Veränderung allerdings hängt von der Intensität der Übung ab. Wer schnelle Erfolge erwartet der wird enttäuscht sein. Es dauert bis sich unsere Denkmaschine verändert, aber es ist möglich – mit Disziplin, Geduld und Übung.

Freitag, 24. Juli 2020

Angst und Liebe

Foto: Angelika Wende

"Wenn ich bislang etwas aus Corona gelernt habe, dann ist es, dass es nicht gut ist, wenn man Menschen in die Angst jagt", sagt Gerald Hüther in einem Interview in dem er sein neues Buch mit dem Titel „Wege aus der Angst“, das im September 2020 erscheinen wird, vorstellt.

Das berührt mich. Das bringt mich zum Nachdenken.
Und nein, ich bin kein Verschwörungstheroretiker und ich trage auch keinen Aluhut. Ich habe Respekt vor Corona. Ich habe Angst vor einer Infektion und ich arbeite täglich mit Menschen, die Angst haben. Ich kenne die Angst gut und ich weiß, was Angst mit uns macht.
Die größte Angst ist die Angst um uns selbst und das eigene Leben und um das Leben unserer Liebsten. Um diese Angst geht es seit Monaten. Sie ist unser täglicher Begleiter geworden. Bei den einen bewusst, bei den anderen unbewusst. Manchen gelingt es sie zu verdrängen, sie zu kompensieren, sie abzuwehren, aber sie ist da, in jedem von uns und sie treibt seltsame und auch bedrohliche Blüten.

Angst macht uns unfrei. Angst macht eng.
Die Weite des Denkens wird eingeschnürt. Der Blick reduziert sich auf eine bedrohliche Wirklichkeit, die im physischen Sinne lebensbedrohlich werden kann, denn trifft uns das Virus, wird uns im schlimmsten Falle die Luft zum Atmen abgeschnürt, wir ersticken.
Eine grausame Vorstellung, die uns über Monate wieder und wieder vorgeführt wurde. Die Bilder von Menschen, die am Beatmungsgerät um ihr Leben kämpfen, überfluten die Medien. Die Vorstellung eines elenden, schmerzhaften Erstickungstodes, wurde in unsere Köpfe gepflanzt und diese Vorstellung macht eine Heidenangst. Allein, ohne die Hand der Liebsten halten zu dürfen, müssen wir auf grausame und würdelose Weise sterben.

Diese Bilder sind in unseren Köpfen gespeichert und sie werden dort bleiben. Das nennt man Konditionierung.
Oft genug haben wir sie gesehen, oft genug sehen wir sie noch. Oft genug hören wir Berichte von schwer Erkrankten, deren Leben und Gesundheit nie mehr so sein wird wie vor Covid-19. Das sitzt. Das sitzt so tief, dass wir eine Angst in uns tragen, die uns nicht gut tut.

"Wer anderen Angst machen will, arbeitet mit der Vorstellung der Angst", sagt Hüther.
Wir leben jetzt mit diesen angstmachenden Vorstellungen. Wir tragen Masken, damit diese Vorstellungen der Angst nicht zu unserer Realität werden. Damit wir die Angst ja nicht vergessen. Wir halten Abstand und entfremden uns voneinander. Auch das macht Angst. Der Nächste ist der potenzielle Feind, ist eine potenzielle Bedrohung, er kann uns krank machen. Nähe und Berührung müssen gut überlegt sein. Wen lasse ich an mich heran? Lohnt sich die Nähe, wage ich Berührung und welchen Preis muss ich im Zweifel dafür zahlen?
Wir verlieren Wesentliches: Die Sinnlichkeit. Wir schauen in Augen, nicht mehr in Gesichter, wir erfassen keine Mimik mehr und damit nicht die Gefühle des Gegenübers. Es ist kalt da draußen mitten im heißen Sommer, eiskalt.
Dort wo Nähe entsteht, in den Straßen, beim Einkaufen, im Café, im Restaurant, im Park, im Schwimmbad, in Bussen und Bahnen. Überall begegnen uns Augen in denen Angst, Abwehr, Wut und/oder Traurigkeit liegen. Wir werden einander fremd und fremder. Wir sind Getrennte.
Mitfühlen, Verstehen ist schwer, wenn ich die Gefühle des anderen nicht sehen kann, in seinem Gesicht, denn dort sind sie zu finden.

Das Menschliche als solches wird entfremdet – wir sind Vereinzelte in einer von einem tödlichen Virus bedrohten Welt. Wir dürfen einander nicht nahe sein, jetzt wo wir genau diese Nähe so dringend brauchen.
Nähe, sich nah sein, sich verbunden fühlen mit anderen Menschen, ist ein Heilmittel gegen die Angst.
Diese Nähe hat man uns genommen.
Wozu führt das? Wozu führt es, dass wir uns getrennt durch Monitore besprechen, miteinander arbeiten? Wozu führt diese entmenschlichte Art zu leben?
Sie führt zu noch mehr Angst.

Die Weite der Möglichkeiten ist begrenzt, so begrenzt wie sie noch nie zuvor war. Die Freiheit des Miteinanders ist begrenzt.
Nichts mehr ist sicher, nichts mehr ist planbar. Wir haben den Halt verloren und hangeln uns Tag für Tag durch das unberechenbare Jetzt in eine unberechenbare Zukunft. Immer mit der Angst im Bauch, denn da ist sie längst gelandet - aus dem Kopf ins Gefühl.
Unser Jetzt - eine Zeit, die Angst hervortreibt und sie beständig anheizt. Die Todesangst, die wir aus gutem Grunde verdrängten, bäumt sich ganz groß auf. Wir werden darauf gestoßen. Und was fürchten wir mehr als den Tod?

Diese Angst wird befeuert. Medial. Am Anfang mit grausigen Bildern und täglichen Horrornachrichten, jetzt in kleinen täglichen Dosen. Auf das sie bleibe, auf dass wir in der Angst stecken bleiben.
Angst macht uns gefügig. Es kann so Vieles durchgesetzt werden, was ohne die Angst der Menschen niemals hätte durchgesetzt werden können. Und wehe es erhebt ein kritischer Verstand die Stimme, dann ist er ein Verschwörer, der mundtot gemacht wird. Die Zensur arbeitet auf Hochtouren. Videos Andersdenkender werden gelöscht. Kritische Beiträge werden in eine Ecke geschoben, in der es gefährlich ist zu sein, denn wer dort ist, ist ein Corona Gegner und nicht konform und damit gefährlich für das System. In Österreich sagt der Kanzler laut und deutlich: „"Menschen sollen Angst vor Ansteckung haben". Endlich einer der es ausspricht.
Das macht mir Angst. Das macht mir mittlerweile mehr Angst als das Virus.

Wohin hat uns die Angst gebracht, die wir haben sollen?
In die Auflösung aller normalen menschlichen Bindungsbedürfnisse. Der Körper des anderen ist vom eigenen fern zu halten, der Atem des anderen ist im Zweifel eine Bedrohung unserer Unversehrtheit, die Berührung im Zweifel tödlich.
Wie tödlich ist das Virus wirklich? Für wie viele von all den Menschen auf der Welt ist es das wirklich? Die Vorstellung die man uns in die Köpfe gesetzt hat, lautet: Für alle.

Ist das wirklich wahr?
Nein, es ist nicht wahr. Es kann tödlich sein, wie jedes Virus, wie jede bakterielle Infektion, wie jede schlimme Krankheit. Wahr ist. Das Leben ist tödlich. Immer. Jeden Tag kann uns der Tod treffen. Auch ohne das Virus. Aber jetzt hat der Tod einen Namen - einen auschließlichen Namen.

Wie wollen wir mit dieser Angst weiter leben?, fragt Gerald Hüter. Als Biologe merkt er an: Es wird keinen Impfstoff geben. Das Virus mutiert. Wir unterliegen einer Illusion, die an der Realität zerplatzen wird. Was schützt uns davor, dass wir uns Vorstellungen zu eigen machen, die andere in die Welt setzen, damit wir uns so verhalten wie sie es wünschen?, fragt er weiter. Und: Was ist die große Zukunftsqualifikation, die wir brauchen?
Darauf gibt er uns die Antwort: Wir müssen liebevoller mit uns umgehen. Wenn wir liebevoll mit uns selbst umgehen, gehen wir liebevoll mit anderen um und mit der Welt in der wir leben.

Liebe ist stärker als Angst. Liebe zu uns selbst und Liebe zu allem Lebendigen Aber wenn wir uns weiter in dieser Angstspirale verfangen, wenn wir uns weiter von der Angst infizieren und leiten lassen, wird die Liebe kaum eine Chance haben. Dann sind wir verloren.

Donnerstag, 23. Juli 2020

Absurd


Zeichnung: A. Wende


„Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen", schreibt Albert Camus. Das Absurde hat uns alle angesprungen. Mit Corona hat sich die Welt verändert. Für manche von uns ist die eigene Welt zusammengebrochen. Manche haben ihre Arbeit verloren und damit ihren Sinn, wenn sie dieses Arbeit geliebt haben. Manche haben anderes verloren, was ihnen Sinn gab. Manche das Gefühl der Sicherheit an die sie gelaubt haben und jetzt müssen sie erkennen - nichts ist sicher. Im Sinnverlust verlieren wir zum einen den Halt und zum anderen eine Identität an der wir festhielten. Die alte Kontinuität ist verloren. 

Was bleibt? Das, was uns von Innen hält. Aber was ist das? 
Camus reflektiert: Es braucht eine Lösung, in der man an die Existenz einer Realität glaubt, die über dem Absurden steht, und als solche eine Bedeutung hat. Aber damit flieht man vor der Realität. Camus verwirft diese Option. Für ihn gibt es nur einen Weg: Die Annahme des Absurden. Man lebt indem man das Absurde akzeptiert und trotzdem damit lebt ohne zu resignieren. Man schafft sich einen subjektiven Sinn im Sinnlosen. Das meint die Wiederherstellung des Verlorenen. So wie sein Sisyphos es tut. „Es gibt kein Schicksal, welches nicht durch Verachtung überwunden werden kann.“

Samstag, 18. Juli 2020

Gedankensplitter



Foto: Angelika Wende


Hoffnung ist eine evolutionäre Kraft, die uns am Leben hält. 
Sie verleiht uns die Fähigkeit auszuhalten und an bessere Zeiten zu glauben. 
Es ist wider unsere Natur nicht zu hoffen, doch manchmal ist der Tod der Hoffnung unsere Rettung - dann, wenn wir begreifen, dass da eine Hoffnung in uns ist, die nur zu Schmerz führt.

Freitag, 17. Juli 2020

Grenzsituationen

Foto: Angelika Wende

„Vergewissern wir uns unserer menschlichen Lage. Wir sind immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten. Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. Das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie“, schreibt Karl Jaspers.

Auch wenn die Grenzsituation eine ungewöhnliche Situation ist, in der die üblichen Mittel und Maßnahmen zu ihrer Bewältigung keine Anwendung mehr finden und der Boden auf dem wir gehen erschüttert ist, haben wir dennoch nicht alles verloren. 

Corona hat die ganze Welt in eine Grenzsituation gebracht. Der Fortbestand von vielem steht auf dem Spiel. Vieles von dem was für uns selbstverständlich war haben die Auswirkungen der Pandemie schon weggerissen. In solchen Grenzsituationen, herausgerissen aus der Normalität des Lebens, liegen die Dinge anders. Wir machen Erfahrungen, die wir uns noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen konnten. Und wir werden weitere machen, von denen wir glaubten, sie nie machen zu müssen.

Grenzsituationen reißen uns nicht nur aus dem gewohnten Leben sondern auch aus dem gewohnten Denken. 
Sie decken auf und machen sichtbar was wirklich ist. Grenzsituationen machen Angst, sie lassen uns zweifeln und zögern und sie lassen uns suchen – Wege um damit leben zu können. Indem wir die Unzuverlässigkeit des Lebens hautnah erfahren wandelt sich unser Bewusstsein – wir erleben etwas womit wir nicht gerechnet haben und wofür wir zunächst keine Alternativen haben.
Die Erschütterung unserer Existenz, von der Jaspers spricht, hat viele Auswirkungen.
Inmitten dieser Erschütterung die Ruhe zu bewahren ist eine Herausforderung und eine hohe Kunst. Wir sind es gewohnt, für alles schnelle Lösungen zu finden und stellen fest – hier ist uns eine Grenze gesetzt, die wir nicht so leicht überwinden, vielleicht sogar überhaupt nicht. Hier wird von uns etwas gefordert, was wir nicht gewohnt sind: Verzicht, Durchhaltevermögen, Abwarten, Aushalten, Geduld und Kreativität.

Grenzsituationen trennen auch die Spreu vom Weizen.
Wir erfahren auf wen und auf was wir uns verlassen können und was oder wen wir loslassen müssen.
Grenzsituationen stellen Fragen wie: Was ist in meinem Leben wirklich wichtig und wertvoll? Wo lohnt meine Energie und mein Einsatz und wo nicht?
Und vor allem: Was gibt mir Halt?
Manches oder mancher, von dem wir glaubten daran Halt zu finden löst sich in Wohlgefallen auf. Das schmerzt. Mitten im Schmerz der ohnehin schon schweren Situation, müssen wir erfahren wo wir uns etwas vorgemacht haben oder man uns.
Alle Lügen und alle Selbstlügen auf die wir unser Lebensfundament gebaut haben, entlarven sich. Unser auf scheinbar sicherem Boden errichtetes Haus fällt in sich zusammen. Im Zweifel stehen wir jetzt allein da, weil sich Menschen, die angeblich unsere Freunde oder sogar Geliebte waren, von uns entfernen, weil sich etwas finde, was ihnen mehr nützt als wir ihnen noch nützen können.
Das ist bitter. Das ist schmerzhaft. Das ist traurig. Das ist in der Erschütterung der Grenzsituation eine zusätzliche Erschütterung, die den Stärksten umhauen kann.

Was jetzt? Was rettet uns ? Was nutzen wir für den eigenen Trost? Woher nehmen wir die Kraft weiter zu machen?
Wir reagieren nicht wie das verletzte, verlassene, hilflose Kind in uns es tun will, verzweifelt, ohnmächtig, kopflos und voller Angst unterzugehen, wenn da niemand mehr ist. Das würde uns nur weiter den Boden unter den Füßen wegziehen. Wir treten erwachsen und offenen Auges in die Situation ein. Wir erkennen: Grenzsituationen erfahren und Leben ist dasselbe.
Egal wie schwer es gerade ist – das ist Leben, unser Leben.
Und damit erkennen wir an was ist. Egal wie es ist.
Wir erkennen an, dass es eine Illusion ist, dass das Leben dauernd in Ordnung sein muss.
„Situation wird zur Grenzsituation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt.“, schreibt Jaspers. Und so ist es.
Wir erwachen, wenn wir den Widerstand aufgeben und radikal akzeptieren was unveränderbar ist. Wir kämpfen nicht weiter gegen die Situation an, sondern wir nehmen sie an. Wir entspannen uns in die Dynamik der Situation hinein und geben den Kampf auf.
Und nein, das ist keine leichte Übung. Aber sie hilft. Ich weiß es, weil ich sie gerade selbst machen darf.

Mittwoch, 15. Juli 2020

Alleinsein


Foto: Angelika Wende


Freiheit, das ist Rhythmus, den ich selbst bestimme.
Alleinsein, das ist Autonomie.
Ich entscheide für mich allein.
Das ist ein Glück, ein Geschenk.
Ich kann tun und lassen, was ich will.
Alles Mögliche tun.
Alles Mögliche lassen.

Es ist Freiheit etwas zu lassen.
Es ist Freiheit von etwas zu lassen.
Mich sein lassen.

Ich bin allein und das macht mich stärker.
Nicht abhängig sein.
Unabhängig meinen Weg gehen.
In meiner Gangart.
In meinem Tempo.
Das ist nicht selbstverständlich.
Das erfordert Verzicht.
Ich verzichte auf alles Überflüssige.
Ich brauche so vieles nicht.

Ich verarbeite Altes anstatt Neues zu suchen.
Das Neue wird sich finden.
Im Alleinsein kann ich mich verlieren und mich finden.

Manchmal ist mir langweilig.
Es tut gut.
Ich darf mich langweilen so lange ich will.
Manchmal fühle ich mich leer und voll zugleich.
Manchmal fühle ich Angst und Kraft zugleich.
Manchmal fühle ich Trauer und Freude zugleich.
Manchmal fühle ich Sehnsucht und Ankommen zugleich.
Manchmal vermisse ich den Geliebten.
In der Leere bleibt er anwesend.

Ich spüre mich.
Mich und die Stille in der Stille.
Ich spüre die Ruhe die in mir wird, tiefer, echter.
Sie darf bleiben.

Stille macht ruhig innen.
Alleinsein macht stiller.
Still sein in einer lauten Welt.
Mein Denkraum ist frei von den Worten anderer.
Meine Worte gehören mir.
Meine Momente gehören mir.
Sie machen Sinn, auch wenn ich nichts tue.

Selbsttranszendenz

Malerei. Angelika Wende

Der Mensch ist in der Lage, aus einem reinen Zweckwissen in ein größeres Sinnwissen überzugehen.
Für diesen Prozess ist Selbstdistanzierung allerdings die notwendige Bedingung.
Selbstdistanzierung bedeutet die Fähigkeit zu kultivieren eigenes Handeln, Denken und Fühlen, als auch persönliche Werte, über sich selbst als Zentrum des Interesses hinaus, in die Welt zu geben.
Das ist ein bedeutender Aspekt individueller und kollektiver Krisenintervention.
Selbsttranszendenz ist die Fähigkeit des Geistes, sich über sich selbst hinaus auf die Aufgaben und Fragen zu beziehen, die das Leben dem Menschen in der Krise stellt.
Selbsttranszendenz ist Selbstvergessenheit, eine Haltung mit der der Mensch seine Zentrierung auf das eigene Ego aufgibt, und sich öffnet für seine Möglichkeiten der Werteverwirklichung im Sinne des Ganzen - und zwar gerade dann, wenn durch eine Krise seine Welt und die seiner Mitmenschen erschüttert wird.


Dienstag, 14. Juli 2020

Kannst du es sehen?


 
 
 
Kannst du es sehen?

Kannst du es sehen wie die ganze Welt Kopf steht?
Kannst du es sehen wie viele Wahnsinnige die Welt regieren?
Kannst du es sehen wie viele Millionen Menschen Hunger leiden und im Dreck leben?
Kannst du es sehen wie Menschen ermordet werden wegen ihrer Hautfarbe?
Kannst du es sehen wie Mütter, Väter und Kinder im Krieg sterben?
Kannst du es sehen wie viele Menschen um zu Überleben ihr Land verlassen müssen?
Kannst du es sehen, wie viele Tiere gequält und abgeschlachtet werden?
Kannst du es sehen, wie viele Menschen ihre Arbeit verlieren und keine mehr finden?
Kannst du es sehen wie die Hoffnung auf ein besseres Leben schwindet?
Kannst du es sehen wie viele Menschen auf der Straße sitzen und hungern?
Kannst du es sehen wie viele Menschen seelisch leiden und kaputt gehen?
Kannst du es sehen wie krank die Erde ist und wie sie langsam zugrunde geht?
Kannst du sehen wie Hunderttausende Menschen erkranken und sterben?
Kannst du es sehen wie die einen leiden und die anderen feiern?
Kannst du sie sehen die Gier und den Eigennutz, der sich ausbreitet?
Kannst du es sehen wie Respekt, Menschlichkeit und Mitgefühl verschwinden und der Egoismus immer größer wird?
Kannst du es sehen wie viele weiter schlafen, anstatt endlich zu erwachen?
Kannst du es sehen, das Leugnen das sich der Wahrheit widersetzt?
Kannst du es sehen wie Menschen sich schaden und bekämpfen anstatt zusammenzuhalten?
Kannst du sie sehen, die Zeichen, dass es so nicht weiter geht?
Sag mir, kannst du es sehen?
Ich kann es sehen.
Willst du es sehen?


Sonntag, 12. Juli 2020

Narzissmus oder ... Es gibt immer einen Besiegten in der Liebe




Don Juan, Malerei: Angelika Wende

Wer sich in einen Narziss verliebt, hat das Gefühl eine der romantischsten Liebesgeschichten seines Lebens zu erfahren. Der Narziss kommt, strahlt und siegt. Es macht Zoom und du bist ihm verfallen. Er verführt dich nach allen Regeln der Kunst mit dem Charme und dem Charisma eines Don Juan, überwältigend, unwiderstehlich, faszinierend. Dein Hirn setzt aus und dein Herz und dein Bauch schreien: Liebe ihn.
Du bist sein. Du willst sein sein. 

Doch der anfängliche Liebeszauber dauert nicht lang. So hoch wie du geflogen bist, so tief beginnst du langsam zu fallen. Du spürst, dass da etwas Unheilsames mit dir geschieht, aber du willst es nicht glauben.  
Es war doch gerade noch alles so wunderbar, er war doch so einfühlsam, so liebevoll. Er hat dich auf Händen getragen und alles was an dir ist, schön und begehrenswert gefunden. Er hat dich bezaubert, verzaubert, du fühltest dich geliebt so wie du bist und endlich angekommen.
Ja, in der Hölle!
Aber das hast du nicht gemerkt, vor lauter Liebe, vor lauter Leidenschaft und Bewunderung für diesen Mann, der so außergewöhnlich ist und dein Leben so bunt und so voll gemacht hat mit allem wonach du dich schon so lange gesehnt hast.
Deine Sehnsucht hat dich verbrannt! 
Aber das hast du nicht wissen wollen, denn es war doch so intensiv. 
Die Abwertungen, die Ignoranz, die Unerreichbarkeit über Tage, die dann kam, wenn du mal nicht gespurt hast, hast du nicht sehen wollen.
Es hat dich nur noch sehn - süchtiger gemacht. Du bist ihm hinterhergerannt, hast um Verzeihung gebeten für deine Fehler, die keine waren, für deinen Bedürfnisse, die ihn überfordert haben und ihm deine Venen hingehalten, auf dass er daraus trinke, was er am Nötigsten braucht: Deine Lebensenergie. Ohne sie kann er nicht überleben, aber das ist dir nicht bewusst, denn du glaubst ohne ihn nicht mehr leben zu können, weil du längst an der Nadel hängst.

Längst bist du süchtig nach der Intensität, die nur er dir gibt und die du so lange gesucht hast. Dein ganzes System giert jetzt danach.
Dein Adrenalin, dein Cortisol, dein Noradrenalin haben sich schleichend daran gewöhnt immer ganz oben zu sein und dann, wieder unten, fehlt der Stoff, fühlst du dich schwach und müde und krank. 
„Du brauchst ihn!“, schreit dein Körper, schreit dein Herz, aber dein Bauch weiß, dass das, was du da brauchst, eine verdammt giftige Injektion ist, aber der Körper und der Kopf und das Herz wollen mehr davon.

Längst hat er die Maske des Mr. Perfect abgenommen und sein wahres Gesicht gezeigt. Er hat dich wie Dreck behandelt und du fühlst dich wie Dreck und du benimmst dich so.
Er hat dir gesagt wie klein und schwach und dumm und wertlos und wie bedürftig du bist. Er hat dich belogen, betrogen, benutzt. Wenn du ihn gebraucht hast, hat er dich im Regen stehen lassen, weil andere oder anderes gerade wichtiger war. Wenn du dich beklagt hast, hat er zu dir gesagt: „Such dir Hilfe, du bist krank. Er hat dir ein X für ein U vorgemacht und gab es Streit, warst immer du schuld. 
Das mit der Schuld kennst du, wie vieles andere, was er mit dir macht. Du weißt woher, aber du willst es nicht wissen, weil du dann anfangen müsstest dich mit dir selbst zu befassen und das willst du nicht, weil du endlich willst, was du nie bekommen hast: Liebe, die du  für dich selbst nicht spüren kannst. 

Du hast dich selbst nicht mehr wahrgenommen als die, die du einmal warst  - eine wunderbare Frau mit einem klaren Verstand, die ihr Leben meistert.  
Er hat dich beschimpft und bestraft, wenn du dich gewehrt hast oder auf deine Meinung bestanden hast. Er hat deine Wut und deine Verzweiflung Hysterie genannt und dir seine Wut ins Gesicht geschrien oder hinein geschlagen, wenn du noch immer nicht gefügig warst. Er hat dir gedroht dich zu verlassen und mit deiner größten Angst gespielt, ohne ihn nicht mehr leben zu können und nie mehr glücklich zu sein und einsam und verlassen wie das Kind, das du einst warst.
Du hast es geglaubt, weil der Glaube an dich selbst längst gebrochen war wie dein Herz. 

Du hast dich verloren in seinem kranken Universum, in dem du nur einen kleinen Platz hattest und nie die Nummer Eins warst, weil du nicht gut genug, nicht schön genug, nicht groß genug warst für ihn, den Größten, den Klügsten, den Besten, den Supermann, der alle nach seine Pfeife tanzen lässt und wer nicht spurt, fliegt raus.
Du hast ihm verziehen, wenn er wieder ankam, nach Ausflügen in andere Betten, weil es doch nur Sex war und mit dir und seiner Liebe zu dir, absolut nichts zu tun hatte. Und du sollst nicht so spießig sein, das ist nicht sexy und du bist doch die Allerbeste.
Ja, die Beste mit der er das machen kann, was er braucht um überhaupt existieren zu können.  Dich klein machen, damit er sich groß fühlen kann und seine Kleinsein nicht spüren muss, das ihn vernichten würden, was er instinktiv weiß und um jeden Preis vermeiden muss.

Du hast es ihm gegeben das grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit, ohne dass er verhungert wie ein Wolf, der nichts zum Reißen findet.
Du hast es gestillt sein Verlangen nach übermäßiger Bewunderung.
Du hast gesehen, wie er sich selbst idealisiert, voll von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz und Unwiderstehlichkeit.
Du hast ihm zugehört bei seinem endlosen Reden über sich selbst und bist immer leiser geworden. Du hast ihm bestätigt wie besonders und einzigartig er ist, weil du dann Zuwendung bekommen hast und dann wieder genommen und zurückgewiesen. Ein ewiges On – und Off, weil das das Spiel ist, das das Stück am Laufen hält.
Du bist an der Seite gestanden wie ein verstoßenes Kind, wenn er seinen Tanz mit großen Gesten aufgeführt hat um von außergewöhnlichen oder angesehenen Menschen Applaus zu bekommen und dich gefragt, was du da eigentlich verloren hast, aber du bist geblieben und hast dem Tanz zugesehen und ihn vielleicht sogar wieder attraktiv gefunden und dich als besonders, weil er ja nur dich braucht. 
Dass er dich liebt hast du längst nicht mehr gespürt, aber gehofft, dass er sich besinnt, weil du immer für ihn da bist und loyal und bedingungslos in deiner Liebe und alles für ihn tust, damit es ihm gut geht. Dein eigenes Gutgehen hast du gar nicht mehr wahrgenommen, weil es dir längst so beschissen ging, dass du vergessen hast, was dir gut tut.

Du hast längst gemerkt wie ausbeuterisch er ist und dass er aus allem und jedem  nur seinen Nutzen zieht um die eigenen Ziele zu erreichen und keine inneren Werte hat und Selbsttranszendez ein Fremdwort.
Du hast es erfüllt, sein hohes Anspruchsdenken und seine Erwartung bevorzugt behandelt zu werden und sein Bestehen auf das Erfüllen seiner Bedürfnisse war für dich Pflicht. Hast du es einmal nicht getan, wurdest du bestraft, sanktioniert, gedemütigt oder abgewertet. 

Du hast es instinktiv gewusst. Nützt du ihm nicht mehr, wird er dich fallen lassen  sobald er einen Ersatz gefunden hat und gedacht, das überlebst du nicht, weil er längst zum Mittelpunkt deines Universums geworden ist und du dich selbst nur noch als kleinen Punkt darin wahrgenommen hast, der am Verlöschen ist.
Du warst immer für ihn da, denn er erträgt es nicht allein zu sein, weil ihm dann der Spiegel fehlt in dem er sich selbst bewundert, weil in ihm selbst nichts ist als eine tiefe emotionale Leere und eine große Angst. Du hast es gewusst, dass er sein Sein nicht aus sich selbst, sondern nur aus anderen bezieht, weil er nichts hat, was ihn von Innen hält und hast ihn gehalten und dir vorgaukelt, dass er dich hält, wo du längst schon gefallen warst. Du hast gewusst, dass er keine Empathie hat und nicht willens und nicht fähig ist, deine Gefühle zu spüren und sie zu achten, weil es nur sein Wollen gibt und sonst nichts. Nie hat er deine Bedürfnisse geachtet und nie ist es ihm gelungen sich mit ihnen zu identifizieren und sie dir zu erfüllen, was man tut, wenn man liebt. 

Er kann nicht lieben, aber du wolltest nicht wahr haben, dass das menschenmöglich ist, weil dein Zuneigunsghunger so groß ist und weil du dachtest, dass Liebe alles heilt.
Auch seine Wunden, die seine Kindheit ihm beigebracht hat, wolltest du heilen.
Seine beschissene  Kindheit, die er dir wieder und wieder vorgejammert hat und du hast mitgelitten und im Tiefsten gedacht: Deine beschissen Kindheit ist keine Rechtfertigung dafür, als Erwachsener ein Arschloch zu sein, und dich für diesen Gedanken verurteilt.

Manchmal war er ja für dich da. Immer wieder hat dich mit Liebeschwüren überschüttet und das hat dir wieder diese verblödete Hoffnung gegeben, dass alles gut wird, wenn du nur lange genug aushälst. So gut und so schön wie am Anfang und von der Erinnerung gelebt, während dein Leben ein bloßes Drüberleben war über all den Horror, den du ertragen hast für die paar Brosamen an Zuwendung und wegen all der Zeit und Kraft die du investiert hast. 
Dein Zuneigungshunger, der so alt ist wie du, ist immer größer geworden und du nie satt, denn deine Bedürfnisse und deine Gefühle hat er nur dann zur Kenntnis genommen, wenn sie für ihn relevant waren. Längst hat dein Bauch begriffen, dass er nicht in der Lage ist eine liebevolle, wertschätzende, respektvolle Beziehung zu führen, weil er unfähig ist echte Gefühle zu empfinden. Dir war klar, dass er Gefühle nur vorgaukelt um seine Ziele zu erreichen. Dir war klar, dass er kein authentisches Interesse an dir hat und dich ausschließlich zur Erreichung eigener Bedürfnisse und Zwecke braucht. Er hat sich lieben lassen.

Aber dein Kopf hat sich immer wieder geweigert, und gesagt: „Was nicht sein kann, darf nicht sein!“
Und gedacht: In ihm drin steckt doch dieser wunderbare Mann, der dich einst auf Händen in den siebten Himmel getragen hat. Noch während du längst am Boden lagst und den Himmel nur von Unten gesehen hast und Stoßgebete nach oben gesandt, hast du gehofft, es möge doch endlich gut werden, wieder so gut, wie es war. Und die Erinnerung an das Schöne und Gute, das nie wahr war, hat dich festgezurrt in einer Vergangenheit, die eine Illusion war und nie mehr dein Jetzt sein wird. Du wolltest es nicht fassen, weil es unfassbar ist, was geschehen ist und nicht aufgeben wollen, denn du hattest ja nur noch ihn.

Und da liegts du am Boden und nimmst wahr: Er hat dich verbraucht. Er hat dich gebraucht und du hast dich brauchen lassen. Und jetzt bist du leer und ausgesaugt und nicht mehr zu brauchen.
Er wird gehen, das weißt du, das weiß dein Kopf, dein Bauch und dein Herz, wenn du die Zeichen am Himmel lesen kannst und das kannst du. Warum sonst erfasst dich die Panik sterben zu müssen vor lauter Angst ohne ihn leben zu müssen?
Dir wird deine Machtlosigkeit bewusst.
Du willst schreien und nach Hilfe rufen, aber da ist keiner mehr, den du um Hilfe bitten kannst, weil du dich von allen isoliert hast, weil es nur noch ihn gab und sonst nichts. Deine Freunde haben dir gesagt wie ungut er für dich ist und du hast dich von ihnen abgewandt, weil du es nicht hören wolltest aus lauer Scham über deinen Selbstbetrug und deine Abhängigkeit. 

Jetzt bist du allein.

Und du denkst du bist verrückt geworden. Und dass er Recht hatte, denn das hat er dir doch immer gesagt, dass du die Verrückte bist.
Er hat dich manipuliert, deine Versionen von Wahrheit verdreht bis du ganz schwindlig warst und ihm geglaubt hast.
Du hast die Schlacht verloren.
Es gibt immer einen Besiegten in der Liebe: Den, der mehr liebt. (Franz Blei)
Und das bist du.
Du hast ihm geglaubt.
Du hast deinen Glauben an dich selbst verlassen.
Du hast ihm vertraut, weil es dir gefällt zu vertrauen und weil man dir vertrauen kann.
Und jetzt vertraust du dir selbst nicht mehr, weil du nur noch eine leere Hülle bist, die kein Innenleben mehr hat, die keine Freude mehr fühlt und keine Kraft und der Wille ist erloschen. Wie tot innen und kein Leben mehr in Sicht, das jemals besser sein könnte, weil du denkst, dass du es nicht verdient hast.
 
Du irrst dich!

Es gibt ein besseres Leben.
Also steht auf und geh ...
Rapple dich auf, nimm dieses liebeshungrige Kind in dir an die Hand und geh ...
Geh und hör auf dich als Opfer zu begreifen, denn dein Bauch hat es gewusst, immer, die ganze Zeit.
Steh auf und geh ...
Und ja, es ist hart und ja, es tut weh.
Und ja, es wird dauern bis du wieder aufrecht gehst.
Und wenn du alleine nicht gehen kannst, hol dir bitte Hilfe.


Donnerstag, 9. Juli 2020

Es ist schwer sich aus Verhältnissen herauszulösen, die einem die Luft nehmen.

Foto: Paula Modersohn-Becker www

„Es ist gut, sich aus den Verhältnissen herauszulösen, die einem die Luft nehmen“, schreibt die Malerin Paula Modersohn-Becker in ihr Tagebuch. Paula hat es getan, sie hat sich für einen Moment in der Zeit herausgelöst aus der bedrückenden Beziehung zu ihrem Ehemann, dem Maler Otto Modersohn. Sie ging nach Paris, bezog ein kleines Zimmer in dem Ateliergebäude in der „n° 9 Rue Campagne Première“ im Hinterhaus und studierte Kunst. Sie lebte spartanisch von einer kleinen Erbschaft und verliebte sich leidenschaftlich. Paula war glücklich, sie lebte ihren Traum: Ein freies, kreatives Künstlerleben.

Aber dann holte sie die Geldknappheit ein und sie ging zurück zu Modersohn. Sie versuchte, ihre Pflichten als Ehe- und Hausfrau und Stiefmutter der jungen Elsbeth mit ihren künstlerischen Ambitionen zu vereinen. Die Ehe befreite Paula von dem Zwang, einem ungeliebten Beruf nachgehen zu müssen, um für ihren Unterhalt zu sorgen, machte sie aber zutiefst unglücklich. Paula brachte nach einer schweren Geburt ihre Tochter Mathilde zur Welt. Der Arzt verordnete ihr Bettruhe. Als sie erstmals aufsteht setzt eine Embolie ein, an der sie im Alter von 31 Jahren verstirbt. „Wie schade!“, so Otto Modersohn, seien ihre letzten Worte gewesen.

Warum erzähle ich diese Geschichte?
Weil sie zeigt wie schwer es ist sich aus den Verhältnissen herauszulösen, die einem die Luft nehmen und wie tragisch es ist in diesen Verhältnissen auszuhalten oder sie wieder herzustellen, aus Angst es alleine im Leben nicht zu schaffen. Paula geht zurück zu einem Ehemann, der nicht zu ihrem Wesen und nicht zu ihren Werten passt, der von ihr erwartet, was sie nicht leisten kann, eine brave Ehefrau und Mutter zu sein, wo doch ihre Liebe, ihre Leidenschaft, ihr ganzes Sein, dem Malen gehört. Sie gibt sich selbst auf für eine vermeintliche Sicherheit und zahlt einen hohen Preis: Ihr eigenes Leben. Sie erstickt an einer Lungenembolie, die ihr im wahrsten Sinne die Luft nimmt.

Viele Menschen ersticken lieber an Verhältnissen in denen sie sich arrangieren, weil sie es nicht schaffen, sich für sich selbst und ein handgeschustertes Leben zu entscheiden.
Sie nehmen Dinge und Umstände in Kauf, die sie unglücklich und krank machen, nur um nicht die Verantwortung für ihr eigenes Leben in die Hand nehmen zu müssen. Meist sind es Frauen, die wie Paula, die Bequemlichkeit einer trostlosen Beziehung in Kauf nehmen um nicht für sich selbst stehen zu müssen. Aus Angst nicht für sich selbst sorgen zu können, nicht allein sein zu können, verbiegen sie sich und geben sich am Ende selbst auf. Auch wenn ein solches Leben in der Regel nicht so ein tragisches Ende nimmt wie das von Paula, ist es ein beschränktes Leben, in dem sich das eigene Ich nicht entfaltet.

Ich habe mit vielen Frauen Gespräche geführt, in denen ich immer das Gleiche höre: „ Ich kann nicht gehen, dann müsste ich auf das und das verzichten.“ Sogar wenn sie leiden, wenn die Beziehung sie vergiftet, sogar wenn der Mann trinkt oder sie demütigt, sie bleiben, nicht weil sie ihn lieben, sondern weil sie einen Benefit haben.

Menschen bleiben solange auch in unheilsamen Beziehungen wie sie einen Nutzen für sich darin sehen.
Das ist eine harte Wahrheit und sie ist so bitter wie sie hart ist. Diese Frauen sind, je länger sie aushalten, umso verbitterter. Sie sind alt bevor sie wirklich altern. Die Zeit des Ertragens und der Selbstverleugnung ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Wie oft habe ich in diese bitteren Gesichter geblickt und das Kopfschütteln wahrgenommen, wenn ich sagte: „Sie schaffen das, wenn sie die Bereitschaft haben es zu tun.“
Immer ein Nein, eine Weigerung, immer der Widerstand gegen das eigene Lebendige, aus Angst auf etwas verzichten zu müssen, was scheinbar unverzichtbar ist. Da ist jede Hilfe vergeblich.
Manchmal macht es mich traurig zu sehen wie wunderbare Frauen und auch Männer sich selbst aufgeben, nur um nicht auf etwas verzichten zu müssen, was in Wahrheit keinen Wert hat und dafür einen Preis zahlen, der es nicht wert ist an so Wertlosem festzuhalten wie Geld, Luxus oder scheinbarer Sicherheit.
Die Angst dieser Menschen ist größer als der Mut, als die Liebe zu sich selbst und die Neugier auf das Leben.
Ja, es ist schwer sich aus den Verhältnissen herauszulösen, die einem die Luft nehmen.
Es ist schwerer daran zu ersticken.

Mittwoch, 8. Juli 2020

Ausgrenzung



Foto: A. Wende

Allein in deiner eigenen Welt.
Du.
Niemand da.
Nur du.
Du fühlst dich ausgegrenzt.

Wann hast du dich ausgegrenzt?
Wann war dein Schmerz so groß, dass er unteilbar wurde?
Wann ist dein Vertrauen erloschen, das du geschenkt hast, wieder und wieder
und dann gebrochen?
Wann war der Überdruss größer als deine Zuversicht?
Wann waren die Tränen ausgeweint, die Hoffnung erloschen und dein Herz vereist?
Und niemand der es wärmt.

Allein in deiner eigenen Welt. 
Du.
Niemand da.
Nur du.
Ausgegrenzt.

Wann bist du bereit anzunehmen was war, was ist?
Vielleicht zu verzeihen?
Für dich.
Um deinetwillen.
Das kannst nur du in deiner eigenen Welt.


Sonntag, 5. Juli 2020

"Besser" werden beginnt Innen



Foto: www

C. G. Jung schrieb einmal: „Einen Menschen seinen Schatten gegenüberstellen heißt, ihm auch sein Licht zu zeigen. Er weiß, dass dunkel und hell die Welt ausmachen. Wer zugleich seine Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.“ Aus Erfahrung weiß ich, er hat Recht. Die meisten von uns sind nicht in ihrer Mitte. Viele Menschen sind zerrissen in sich selbst, sie sind sich ihrer selbst nicht sicher und je selbstunsicherer sie sind, desto fester versuchen sie sich an das Bild zu klammern, das sie von sich selbst haben. In diesem Bild aber fehlt etwas, nämlich das, was sie an sich selbst nicht sehen wollen oder können.

Alles was wir an uns selbst nicht sehen wollen nennt man Schatten. 
Man könnte auch der innere Schweinhund dazu sagen. Wenn wir keine Schattenarbeit machen, sprich - unseren inneren Schweinehund aufspüren und uns ihm stellen, desto mehr besteht die Gefahr, dass uns der Schatten im Außen begegnet. Jeder äußere „Bösewicht“ ist ein Repräsentant des Schattens, den wir abspalten. Er ist der äußere Träger des fehlenden, unausgelebten oder verdrängten Prinzips unseren vollständigen Wesens.

Je massiver ein Mensch verdrängt, desto massiver werden die projizierten Träger seines fehlenden Prinzips im Außen sichtbar. 
Mit anderen Worten: Je mehr und je öfter uns im Außen Menschen begegnen oder Erfahrungen zuteil werden, die wir verurteilen oder zutiefst ablehnen und auf die wir Eigenes projizieren, desto massiver ist der Hinweis auf das, was es in uns zu entwickeln gilt um ganz zu werden.
Je beharrlicher wir versuchen, unsere Schatten zu unterdrücken, desto wahrscheinlicher wird sich diese geballte unterdrückte Energie gegen unsere Lebendigkeit wenden. Wir werden starr, weil wir uns beherrschen und kontrollieren, weil wir glauben, das, was da als innerer Schweinhund in uns lebt, kann uns nur schaden. Also halten wir ihn fest an der Leine und damit binden wir nicht nur das, was wir auch sind, sondern kostbare lebendige Energie. Wir tun das, weil wir Angst haben die Kontrolle zu verlieren, ins Chaos zu stürzen, orientierungslos zu werden, den Halt zu verlieren oder weil wir uns schämen, dass es etwas in uns gibt, was nicht „gut“ ist. Viele von uns haben sogar Angst verlassen zu werden, wenn die Anderen sehen würden, wer wir auch sind.

Wenn wir unsere Schattenenergie unterdrücken, leben wir nicht alle Teile der Person, die wir sind. Wir unterdrücken etwas Wesentliches und trennen uns von dem, was auch zu uns gehört. 
Wir schneiden es ab. Das kostet Kraft und der Schnitt schmerzt dauerhaft. Er wird zu einer Wunde, die nicht heilen will. Jede Form von Unterdrücken, ganz gleich welcher Qualität von Lebensenergie, wirkt wie ein Störfeld, das unseren Organismus durcheinander bringt. Es kommt zu psychischen und physischen Krankheiten.

Unsere Schatten hausen dort wo unsere tiefsten Ängste sitzen, dort wo wir immer wieder mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Wut, Trauer, Verzweiflung, Ohnmacht oder brennender Sehnsucht konfrontiert werden. 
All das sind Gefühle, die wir vor uns selbst und anderen verbergen, weil wir sie als schlecht empfinden und/oder weil wir glauben sie nicht aushalten zu können. Sie stören das Bild, welches das Ego von uns hat, sie stören die Rolle, die wir uns selbst und anderen vorspielen, sie stören das Leben in dem wir uns eingerichtet haben, ein Leben von dem wir glauben nur das Gute, das Schöne, das Wahre, habe darin Platz. Aber das Leben schließt alles ein. Ein Leben das ausschließt, schließt die Seele ein und damit das, was sie erfahren will - und das ist weitaus mehr als ein funktionierender Alltag, der in Gewohnheit, Pflicht und Routine vor sich hin plätschert und in dem Unwägbarkeiten und Brüche nicht aufzutreten haben. Aber genau dort, wo wir spüren, da ist etwas schmerzhaft, finden wir das Geheimnis intensiver Lebendigkeit. Erst wenn wir verstehen, dass wir auch, wie das Leben selbst, eine dunkle Seite haben und diese anerkennen, werden wir ganz. Es ist wie mit dem Teufelchen auf der einen Schulter und dem Engelchen auf der anderen, beide sitzen da, ob wir es  wollen oder nicht. Und der kleine Teufel bleibt sitzen, auch wenn wir ihn ignorieren.

Immer mehr Menschen fühlen sich niedergeschlagen oder depressiv. Ihr ganzes Denken ist auf die Frage ausgerichtet, wie sie ihr Leben oder sich selbst optimieren und so verbessern können. 
Aber genau mit diesem sich „verbessern wollen“ mit diesem Selbstoptimierungswahn, geschieht oft das Gegenteil - sie fühlen sich schlechter als vorher, weil sie ja besser sein wollen. Sie kommen gar nicht auf die Idee dorthin zu schauen, wo das Bessere ist, nämlich dort wo etwas in ihnen selbst fehlt, weil es nicht entwickelt wurde. Auf dieses Weise schneiden sich Menschen von ihrer Ganzheit ab. Sie klammern sich an ein illusionistisches Sicherheitsdenken, das durch Verbesserung noch sicherer werden soll, und nehmen sogar Situationen als Probleme wahr, die sich ihnen als Lösungen präsentieren. Was wir suchen ist bereits da. Und das können wir dann erst sehen,  wenn wir uns von der Idee lösen, dass wir uns ständig verbessern müssen.

Wer ständig „besser“ werden will, mag sich selbst nicht, so wie er ist -  mit allem, was ihn ausmacht.  
Was ist denn, wenn ich besser werden will, der Gedanke? 
Der Gedanke ist: Ich bin so wie ich bin, nicht gut genug.
Wenn ich das glaube, gebe ich mir selbst nicht die Wertschätzung und die Liebe, nach der ich mich sehne. So kann das nicht funktionieren. Wir werden nicht besser, wenn wir im Außen nach Etwas suchen was uns verbessern soll, um unsere Defekte nicht spüren zu müssen. Denn genau dort, im Außen, begegnen sie uns, so lange bis wir sie anerkannt und als Teil unseres Wesens integriert haben.

Das Problem, das wir haben, ist der Widerstand gegen das, was in uns selbst lebendig werden will.
 Das Außen folgt immer dem Inneren. Was wir im Außen wahrnehmen  und erfahren, sind die Manifestationen unseres Unterbewussten und mitsamt all unserer Verdrängungen. 
Somit ist jeder äußere Widerstand, der sich uns in den Weg stellt, sei es eine Krankheit, eine berufliche oder private Krise, immer ein Träger eines ungelebten, verdrängten Teils in uns, der uns zeigen will – schau hin: hier gilt es etwas zu entwickeln und zu (er)lösen, udn zwar in dir. Der Ruf zur Wandlung zeigt sich immer in einer Krise. Er ist Ausgangspunkt der Krise und er kommt dann, wenn die Dinge, so wie sie sind, nicht mehr heilsam sind.
Die Krise will einen Prozess in Gang setzen - zu unserem Besten. Aber das verstehen viele Menschen nicht, sie sehen in der Krise nur eine Bedrohung gegen die man ankämpfen muss, damit sie schnell verschwindet. Daher sträuben sich viele Menschen immer dann, wenn sich Lösungsprozesse in Gang setzen wollen. Dann müssen sie ihren Schatten nicht ins Gesicht schauen. Dann werden sie aber auch nicht entdecken, was ihnen wirklich fehlt um ein besseres Leben zu leben .
Nichts macht mehr Angst als etwas aufzugeben, was scheinbar Halt verspricht, auch wenn es in Wahrheit eine wacklige Konstruktion ist, auf die da gebaut wird oder sogar die Hölle auf Erden, die man sich schön redet.

Wenn wir Wandlungsrufe mit aller Macht verdrängen, kann sich das auf allen Ebenen des Organismus ausdrücken. Darum ist es reine Energieverschwendung gegen einen Wandlungsruf anzukämpfen.
Je mehr Aufmerksamkeit wir dem Widerstand schenken, je drängender unser Wille ist – das soll weggehen – desto stärker wird der innere Widerstand. Er wächst genau in dem Maße wie wir unsere Kraft und unsere Energie gegen ihn wenden. Diese Energie fehlt uns dann auf allen anderen Ebenen unseres Lebens. Es ist wie mit einer Pflanze, die gedeiht, wenn wir ihr Aufmerksamkeit schenken. In Falle des Widerstandes wächst eine Giftpflanze wachsen, die uns langsam von Innen heraus zersetzt. Gelingt es uns aber den äußeren Widerstand als einen Spiegel unseres inneren Widerstandes zu erkennen, werden wir dazu fähig uns unsere Schatten bewusst zu machen und sie als Teil unseres Soseins anzunehmen. 
Das ist das Ja zu uns selbst.

Sich selbst erkennen heißt der eigenen Wahrheit ins Gesicht zu blicken und sie sich selbst gegenüber ehrlich auszusprechen.  
Das Ego mag das alles nicht sehen und es mag das auch nicht hören, es wird versuchen gegen uns zu arbeiten, es wird mit aller Macht die alten Denkmuster, Überzeugungen und Lebensumstände festhalten wollen, denn es fürchtet sich vor nichts mehr, als seine Macht zu verlieren. Was wenn das Bild, das ich über all die Jahre von mir aufgebaut habe, zusammenbricht? Dann bin ich erledigt, sagt das Ego. Ja, dann sind wir erledigt und zwar als der, der wir nicht sind. Aber wir werden dann zu dem was wir wirklich sind – unser eigenes Hell und unser eigenes Dunkel, wir werden ganz. Der Schweinehund darf endlich los von der Leine, er darf leben, er darf sein. Damit wird gestockte Energie frei. Der Weg der Schattenintegration ist lang und er ist mitunter auch schmerzhaft. Ich weiß aus eigener Erfahrung, es tut weh zu sehen, was wir in uns selbst auch haben und was wir gegen uns selbst richten. Aber nicht jeder Schatten ist ungut. In jedem Schatten steckt zugleich auch großes ungenutztes Potenzial, wenn wir es nur sehen wollen. In jedem Schatten steckt immer das Potenzial zur Transformation.

Viele Menschen suchen ihr Heil in der Meditation.  
Sie begeben sich auf den spirituellen Pfad, sie hoffen auf inneren Frieden und die Fähigkeit ihr Gedankenkarussell zu stoppen, manche erhoffen sich sogar damit seelische und körperliche Krankheiten zu heilen. Das ist an sich gut und schön, ich liebe es auch zu meditieren, aber die Meditation trägt die Gefahr in sich, sich in eine neue Illusion zu verhaften, sie hat das Potenzial die Verdrängung aufrechtzuerhalten oder sie sogar zu manifestieren.

"Wenn Sie versuchen, zu meditieren, ohne Ordnung in Ihrem Leben geschaffen zu haben, werden Sie in die Falle der Illusionen tappen“, sagt der weise Krishnamurti.
Er hat Recht, weil das Leben ein Erkenntnisprozess ist, der sich mit der Zeit entfaltet. Wir können diesen Prozess nicht beschleunigen und schon gar nicht herbeimeditieren, nicht bevor wir den Kanal von Innen gereinigt haben, nicht bevor die eigenen Schatten erkannt und integriert wurden. Ignorieren wir die Dynamik dieses Prozesses indem wir den Weg der Abkürzung nehmen, bestätigen wir nur wieder das Ego, das will und nicht warten kann, das keine Geduld besitzt, das verbessern will ohne vorher aufzuräumen und aus dem Keller zu holen, was gesehen werden will.

Das Ego ist unfassbar trickreich, wenn es seinen Machtverlust spürt und es ist so schlau, dass es sogar spirituelle Konzepte dazu benutzt, sich zu stabilisieren und weiter zu „verbessern“.  
Die wahre spirituelle Reise führt uns wie die Helden im Märchen immer auch durch die Schattenwelt und zwar durch die eigene. Die spirituelle Reise unseres Lebens bedeutet nicht, dass wir an einen anderen Ort gelangen, wo etwas auf uns wartet, was besser ist als das, was ist und was wir glauben nicht zu haben. Sie führt dahin uns in unserer ganzen Person zu begreifen und uns unserer Selbst und damit unserer Bestimmung bewusst zu werden. Und diese liegt nicht im friedlichen Nirwana eines idealen Ortes irgendwo da Vorne, wie wir es gern hätten, sie zu finden ist ein Prozess der nach Innen geht und zwar nach Hinten in die Erinnerung an unsere wahres Wesen mitsamt dem, was wir verdrängen. 
Jeder der diese Reise macht, weiß, der Weg geht zuerst einmal durch die dunkle Nacht der Seele, denn nur an deren Ende beginnt ein neuer Morgen.
Sich selbst erkennen heißt, sich an sich selbst erinnern und zwar an das, was von Beginn an in uns ist. "Was du nicht lebst, lässt dich nicht leben", sagt eine alte Therapeutenweisheit. Ist diese Frage beantwortet, kann die Wandlung beginnen.