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Zeichung: A.Wende |
Sucht bedeutet Leid. Sucht erschöpft. Sucht zerstört.
Nicht nur die Süchtigen, sondern auch die, die ihnen
nahe stehen. Wer mit einem Süchtigen gelebt hat oder lebt, weiß: Sucht
ist ein Leben in der Hölle der Ohnmacht, des Schmerzes und der Verzweiflung. Für alle
Beteiligten.
Was ist Sucht?
"Unter Sucht versteht man eine psychische Störung, die sich
durch das unbezwingbare Verlangen nach
dem Suchtmittel und über den zumindest periodischen Verlust der Selbstkontrolle
kennzeichnet, welche eigentlich eine positive Veränderung des psychischen und körperlichen
Befindens herbeiführen soll, aber so massiv auftreten, dass die betreffende
Person in ihren sozialen, psychischen oder körperlichen Funktionen erheblich
beeinträchtig ist und andere Personen dadurch in Mitleidenschaft gezogen
werden."
So definiert der Psychotherapeut und Leiter der Salus Kliniken in Friedrichsdorf, Ralf Schneider Sucht in seinem vierhundertfünfzig Seiten umfassenden Werk „Die Suchtfibel - Wie Abhängigkeit
entsteht und wie man sich daraus befreit."
Sprachlich kommt Sucht nicht wie viele Menschen glauben, von
„suchen“, sondern von „siech“, sichen, Siechtum. Siechtum bedeutet wiederum: Lange
dauernde Zeit schwerer Krankheit, großer Schwäche, Hinfälligkeit ohne Aussicht
auf Besserung.
Sucht ist eine Krankheit des Körpers und der Seele, die
Leiden schafft und unbehandelt auf längere Sicht zum Tode führt. Wer suchtkrank ist, ist sicher auch sehnsüchtig wie jeder
andere Mensch, aber er ist, im Gegensatz zur „normalen“ Sehnsucht der anderen,
seiner Sehnsucht hilflos ausgeliefert. Er hat keine Kontrolle mehr über sein
Verhalten – vielmehr erfährt er den totalen Kontrollverlust. Die zwanghafte Gier nach der
dem Suchtmittel wächst dabei ins Unermessliche. Er ist von seinem Suchtmittel
abhängig und zwar auf allen Ebenen menschlichen Seins: Körper, Geist und
Seele. Ein Davonlassen oder gar ein Entzug ist aus eigener Willenskraft kaum zu
schaffen. Das süchtige Streben nach dem Suchtmittel nimmt im Verlauf der Krankheit einen
immer größeren Raum ein, bis schließlich alle anderen Bedürfnisse an Bedeutung
verlieren und andere Möglichkeiten der Bedürnisbefriedigung neben dem
Suchtverhalten an Reiz verlieren.
Der Süchtige ist ein Sklave seiner Sucht. Er
hat seine persönliche Freiheit an die Droge verloren.
Damit ähnelt die Suchtkrankheit psychologisch betrachtet der
Zwangserkrankung. Der Unterschied zwischen Zwängen und Sucht besteht jedoch
darin, dass der Konsum des Suchtmittels das Belohnungssystem im Gehirn
aktiviert und ein gutes Gefühl macht, während Zwänge primär dazu dienen Ängste,
destruktive Gedanken und Gefühle abzuwehren und den Zwangskranken extrem
belasten.
Sucht schränkt die Freiheit des Süchtigen massiv ein. Er verliert, je tiefer er in die Sucht gleitet, seine menschliche Würde. Sein
Leben, seine Lebensenergie, seine Beziehungen – alles löst sich im Verlauf der
Krankheit auf.
Süchtige befinden sich in einem Strudel, der nur noch
abwärts geht, ziehen sie nicht irgendwann die Reißleine und holen sich
professionelle Hilfe. Diese gibt es in Hülle und Fülle, wenn der Betroffene
die Einsicht, die Bereitschaft und den Willen hat sein Siechtum zu beenden.
Was aber ist mit den Menschen, die mit einem Süchtigen in
Beziehung sind?
Sie sind Co-abhängig.
Das wesentliche Kennzeichen von Co-abhängigkeit ist, dass die Betroffenen ihre eigenen Bedürfnisse völlig aus den Augen verlieren. Sie sind darauf gepolt die Signale des Süchtigen für so wichtig zu nehmen und sich derart darauf auszurichten, dass die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle völlig in den Hintergrund geraten.
Partner und Kinder von Suchtkranken befinden sich in einer extrem
belastenden, kräftezehrenden, aussichtslos erscheinenden
Situation. Ihr Leben ist im wahrsten Sinne des Wortes vergiftet wie der
Süchtige selbst. Die unermüdlichen Versuche ihn zur Einsicht zu bringen, helfen
zu wollen, seine Probleme zu verstehen,
ihn aufzufangen und seine Probleme zu lösen, bringen Menschen an den Rand ihrer mentalen,
emotionalen und körperlichen Kräfte.
Negative Auswirkungen
von Suchterkrankungen auf die Gesundheit von Angehörigen wurden in verschiedenen Studien konsistent belegt.
Bei
Angehörigen Suchtkranker wurden gegenüber Menschen mit
vergleichbaren Lebenslagen ohne suchtkranke Angehörige erhöhte Raten an Viktimisierung,
Verletzungen, affektiven und Angststörungen, ein reduzierter allgemeiner Gesundheitszustand,
deutlich erhöhte medizinische Behandlungskosten und Produktivitätsverluste
nachgewiesen (Dawson, Grant, Chou, & Stinson, 2007; Orford,
Velleman, Natera, Templeton, & Copello, 2013; Salize, Jacke,
& Kief, 2014).
Im Zusammenleben mit einem Süchtigen verschieben sich die
Rollen, die gesunde Beziehungen ausmachen und tragfähig machen.
Die Angehörigen eines Süchtigen sind Opfer seiner Affekte, seiner
Stimmungen, seiner Launen und seiner Unberechenbarkeit sowohl im Rausch und auch wenn er nüchtern ist. Sie sind
willkommene Helfer, wenn es ihm schlecht geht und Prellbock für seine Emotionen
und Aggressionen wenn er im Rausch ist. Im schlimmsten Falle verkommen
Angehörige zur Pflegekraft eines unheilbar Kranken.
Die eigenen Bedürfnisse werden nicht erfüllt, es dreht sich
alles um den Süchtigen und sein zwanghaftes Bedürfnis seiner Sucht zu frönen.
Angehörige
sind mit ihren Wünschen, ihren Sorgen und Nöten allein. Sie leben in einer tiefen inneren Einsamkeit als Zuschauer und Mitwirkende in einem Drama, das in den meisten Fällen keine Katharsis hat. Sucht ist eine chronische Krankheit, die nicht geheilt, sondern nur zum Stoppen gebracht werden kann. Ein Süchtiger ist ein Leben lang süchtig, egal ob "nass" oder "trocken".
Die
Situation wird, je fortschreitender die Krankheit ist, häufig so belastend,
dass sie Angehörige seelisch und in der Folge sogar körperlich krank macht.
Gefühle von Enttäuschung, Verzweiflung, Angst, Wut, Trauer, Verachtung, Ekel und
Ohnmacht machen sich breit und beherrschen das emptionale Erleben. Diese destruktiven
Gefühle beeinträchtigen auf Dauer die psychische und körperliche Gesundheit und können
zu psychosomatischen und körperlichen Erkrankungen führen.
Schuld und Scham
Nicht nur der Süchtige schämt sich und hat Schuldgefühle
sobald der Rausch vorbei ist.
Auch die Angehörigen erleben permanent Schuld-und Schamgefühle. Sie schämen sich, dass
der Partner trinkt oder Drogen nimmt. Sie schämen sich, weil sie das mitmachen. Sie haben Schuldgefühle, weil sie nicht
helfen können und empfinden sich selbst als Versager oder sogar als Mitschuldige, auch weil der Süchtige ihnen das immer wieder suggeriert. Sie schämen sich, weil sie es nicht fassen können, dass sie sich
nicht aus dem kranken Beziehungskonstrukt lösen können. Sie schämen sich, dass ihnen so etwas überhaupt
passiert. Sie haben Schuldgefühle, weil sie es nicht schaffen, die Situation zu ändern oder
endlich zu gehen und damit gut zu
sich selbst zu sein.
Sie schämen sich weil sie irgendwann begreifen, dass sie
durch das Leben mit einem Süchtigen zu Co-abhängigen seiner Sucht geworden
sind. Und damit auch süchtig. Man spricht daher auch von Co-Sucht.
Viele Co-abhängige ziehen sich zunehmend aus dem sozialen
Leben zurück. Freundschaften und Beziehungen zu anderen Menschen werden nicht
mehr gepflegt, eben weil sie sich schämen oder weil sie einfach zu erschöpft
sind von den Erlebnissen mit dem Suchtkranken und den Gedanken, die sie sich
den ganzen Tag um ihn machen. Sie stecken fest in einem trostlosen und kräftezehrenden
Leben, indem es kaum noch Freude gibt, sondern überwiegend Leid. Ihre eigenen
Wünsche und Bedürfnisse geraten mehr
und mehr in den Hintergrund, sie können sie oft nicht einmal mehr spüren, weil sie innerlich abstumpfen. Eine chronische Erschöpfung, die bis hin zur
Depression gehen kann, macht sich breit. Es ist als würde die Sucht des anderen
sie mit in den Sumpf des Siechtums ziehen. So ist es auch, schaffen sie es nicht, sich
zu distanzieren.
Warum gelingt so vielen Co-Abhängigen die Distanz nicht?
Wie bereits erwähnt, entwickeln sich mit der Zeit Gefühle der
Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Ausweglosigkeit, der Vergeblichkeit, der Wertlosigkeit,
der Schuld, der Scham, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht.
Diese durchweg negativen Gefühle führen dazu, dass der Selbstwert und die
Selbstachtung, das Selbstmitgefühl, ganz zu schweigen von der Selbstliebe, verloren gehen. Auch das
Gefühl der Selbstwirksamkeit geht durch das ständige Erleben der Ohnmacht des
Helfers verloren.
Der Co-abhängige fühlt sich so wertlos, dass er glaubt nichts Besseres verdient zu haben oder nichts Besseres zu finden. An diesem Punkt angelangt haben Co-abhängige die Grenze
ihrer Belastbarkeit erreicht. Teil der
Sucht geworden, können sie nicht mehr und brauchen Abstand. Da dieser aber
praktisch nicht gelingt, sie eine Trennung nicht vollziehen können, reagieren
sie mit dem Versuch, sich emotional vom Suchtkranken zu distanzieren. Gefühle wie Verachtung, Ekel und Entwertung des Süchtigen, schaffen aber nur scheinbar
Distanz. Die prozesshafte Verstrickung in die Suchtdynamik sorgt dafür, dass die Schuld- und
Schamgefühle wachsen.
Darf man einen kranken zu einem kranken Menschen angreifen,
beschimpfen, verurteilen, nein zu ihm sagen, ihn seinem Schicksal
überlassen? Darf man ihn verlassen? Und was dann?
Was verliert man?
Einen Menschen, den man liebt, dem man so lange zur Seite gestanden ist, dem man so viel Zuwendung, Kraft und Energie geschenkt hat?
Etwas loszulassen wofür man so viel getan hat, einen Menschen loszulassen für den man so viel geopfert hat? Das schafft die Seele nicht ohne Weiteres. Denn das, sagt sie sich, kann nicht sein.
Es ist das totale Scheitern. Sich das einzugestehen bedeutet den Fall in die Bodenlosigkeit einer Ohnmacht, die unaushaltbar und nicht überlebbar erscheint.
Der Kampf geht weiter. Den Süchtigen zu verstehen, ihn zu beschützen, zu
rechtfertigen und zu entschuldigen, ihn anzuklagen, ihn zu hassen, all das zeigt keine Wirkung. Viele Co-abhängige beginnen in ihrer Verzweiflung zu
kontrollieren. Sie versuchen beispielsweise das Trinkverhalten des
Partners zu steuern oder entwickeln Strategien, um seine Sucht in den Griff zu
bekommen. Was jedoch auch nichts hilft. Der Süchtige macht unbeeindruckt weiter.
Immer häufiger hängt die eigene Stimmung von derjenigen des süchtigen Partners ab. Die
Fähigkeit zur Abgrenzung geht verloren.
Der Co-abhängige ist gefangen in einem intensiven Wechselbad
der Gefühle von Hoffnung, Enttäuschung,
Wut, Verzweiflung Frust und schließlich Hass. Er
beginnt sein Leben und sich selbst ebenso zu hassen wie den Süchtigen. Die
ganze seelische Energie ist ebenso wie die Beziehung vergiftet. Beide oder ganze Familien stecken fest im Sumpf des
Siechtums.
Übrigens: Hass ist ein ebenso starkes Gefühl wie Liebe. Und er ist nicht das Ende der Liebe wie viele Menschen glauben. Hass bindet Menschen aneinander wie zäher Leim.
Was der Co-abhängige wirklich braucht um sich zu lösen, wäre außer der radikalen Einsicht, dass er selbst wenn er das weiter mitlebt vor die Hunde geht, Gleichgültigkeit gegenüber einem Menschen, der sich selbst zerstört und in Kauf nimmt andere mit zu zerstören.
Der Verlust an Selbstbewusstsein schreitet weiter fort und die
Selbstzweifel wachsen. Immer öfter machen sich der aufgestaute Ärger und die
verzweifelte Wut bemerkbar.
Wird die Situation schließlich als untragbar erlebt und sind
alle Versuche, dem Suchtkranken zu helfen, erfolglos geblieben, kommt es immer häufiger zu Vorwürfen, Streit und Anklagen.
Die eigene
Überforderung wird dem Partner mitgeteilt, es werden Konsequenzen angedroht,
die jedoch nicht vollzogen werden. Der Co-abhängige ist am Ende, während der
Süchtige seiner Sucht, unbeeindruckt von dessen Leid, weiter folgt.
Was viele Co-abhängige erleben ist: Sucht ist eine Krankheit, die den Betroffenen so selbstsüchtig macht, dass er blind und taub ist für die Verwüstung, die er anrichtet und die Menschen, die er zerstört.
Gibt es einen Weg aus dem Teufelskreis?
Ja, es gibt ihn.
Angehörige von Süchtigen müssen schließlich, so schmerzhaft
und bitter es ist, einsehen und akzeptieren: Einem Süchtigen, der nicht bereit
ist aufzuhören, kann man nicht helfen. Man kann nur sich selbst helfen, indem
man ihn loslässt, bevor man selbst zugrunde geht.
Alleine und aus eigener Kraft schaffen das jedoch die
Wenigsten. Sie brauchen professionelle Hilfe. Und damit müssen sie selbst genau
das tun, was sie vom Suchtkranken erwarten -
sie müssen sich auf Entzug begeben.
Ich will nur wissen,
ob du mit dem Scheitern
meinem oder deinem leben kannst,
dass du den Vorwurf des Verrats erträgst
und deine eigene Seele nicht verrätst.
Oriah Mountain Dreamer