Schon immer wurden Beziehungen zu Menschen, die unseren Erwartungen nicht gerecht werden und deren Ansichten und Lebensweise nicht in unser Weltbild passen, stillschweigend beendet oder auf Eis gelegt, ohne dass ein echter Abschied stattfindet. Der Rückzug ins Eigene wird angetreten und der andere weiß gar nicht, warum wir uns zurückziehen und meistens fragt er auch nicht. Eine stille Übereinkunft zwischen Menschen, die sich nicht trauen zu sagen und sich nicht trauen zu fragen.
Mir scheint die Pandemie hat diese Art von Rückzug verstärkt.
Viele Menschen ziehen sich zurück.
In die kleine Zelle der Beziehung, in das kleine Feld der Familie oder in sich selbst, wenn sie allein sind. Offen bleiben, zugewandt bleiben, neugierig bleiben, empathisch sein, hilfsbereit sein, auch wenn es nicht der direkte Nächste ist, Interesse zeigen am anderen, gelingt vielen nicht mehr in diesem neuen Normal, das so unnormal ist, das ein normaler Mensch damit nicht klar kommt. In einer abnormalen Situation ist eine abnormale Reaktion das normale Verhalten. Ein Mensch, je normaler er ist, desto abnormaler wird er auf die Tatsache reagieren, dass er in die abnorme Situation geraten ist.
Wir alle sind in eine abnorme Situation geraten und wir alle sind auf gewisse Weise traumatisiert. Die wenigsten aber sind sich dessen bewusst. Sie entwickeln unbewusst Überlebensstrategien, die alles, was das eigene Wohlbefinden gefühlt bedroht, vermeiden. Sie haben aufgehört sich für andere, die nicht zum engsten Kreis gehören, zu interessieren.
Ausschluss statt Einschluss.
Menschen verpuppen sich in das, was ihnen noch sicher und kontrollierbar erscheint, halten es fest und verschließen sich dem Außen. Sie öffnen sich nichts und niemanden, was diese scheinbare Sicherheit ins Wanken bringen könnte. Da war zu viel Bedrohung, da ist zu viel Bedrohung. Immer noch ist die Welt da draußen unsicheres Gebiet. Und alles was die kleinste Unsicherheit bedeuten könnte, wird abgewehrt.
Viele haben verlernt den anderen zu sehen.
Sie sehen nicht mehr über den eigenen Tellerrand hinaus. Das Sichtfeld ist eingeschränkt vom Ego, dass sich ängstlich nur noch um sich selbst dreht.
Mitmenschlichkeit hat eine neue Bedeutung bekommen.
Mitmensch ist nur der, der direkt neben uns ist, den wir brauchen, um emotional zu überleben. Die anderen sind uns gleichgültig. In dieser neuen Gleichgültigkeit zählen nur noch die eigenen Interessen und dass es uns gut geht, so gut es uns gehen kann in diesen unguten Zeiten.
Trennung wohin man sieht.
Trennung nicht nur vom für uns unbedeutenden Nächsten, Trennung von allem und jedem, was dem egozentrischen Motiv „Ich bin mir selbst der Nächste“ im Wege steht.
Wir alle sind auf uns allein gestellt. Das ist nichts Neues. Aber nie war es so fühlbar wie heute. Nie war die Fiktion eines menschlichen Miteinanders so zerbröselt wie heute. Nie haben Menschen andere Menschen so radikal ausgeschlossen wie heute. Nie wurde Narzissmus so offen und unverdeckt gelebt wie heute.
Die Pandemie wird diesen Narzissmus weiter füttern.
Aus der Anfangs gebotenen Distanz zum Selbstschutz ist ein Dauerzustand geworden. Eine Distanz, die unweigerlich, gelingt es uns nicht sie aufzuweichen, in die totale Entfremdung des Menschen vom Menschen und damit - und das ist der springende Punkt: zur Entfremdung des Menschen von sich selbst führt.