Samstag, 21. Oktober 2023

Aus der Praxis: "… Ich bin, was ich beschließe zu werden“


 

 

 

Für alle Menschen, die Traumata und/oder Schicksalsschläge erlebt haben, ist die Genesung ein Prozess. Dieser Prozess dauert in der Traumaarbeit meist mehrere Jahre und umfasst vieles. Erlebtes durcharbeiten und neu bewerten, Glaubenssätze identifizieren und sich von ihnen disidentifizeren, Selbstwertgefühl und Selbstberuhigungskompetenz stärken, innere und äußere Blockaden beseitigen, Verstrickungen erkennen und lösen, und und und.
Eine Menge Arbeit, eine Menge Anstrengung und vor allem - die Zuversicht nicht verlieren ist in diesem Prozess essentiell wichtig. Dieser Prozess verläuft nicht linear, sondern eins fließt ins andere. Er ist auch keine einmalige Angelegenheit mit klar definiertem Anfang und Ende, dieser Prozess beginnt immer wieder von neuem. Jeder Heilungsprozess ist individuell und hängt von jedem einzelnen Menschen selbst ab. Er hängt nicht von der Stärke oder Anzahl von Traumata ab, auch nicht von der Wucht eines Schicksalsschlages, sondern wie der Betroffene, das, was ihm widerfährt, empfindet, oder wie es der Traumaexperte Dr. Gabor Mate in seinem Buch „Vom Mythos des Normalen“ auf den Punkt bringt: "Trauma – aus dem Griechischen für „Wunde“ – „ist nicht das, was dir passiert; es ist das, was in dir als Ergebnis dessen passiert, was dir passiert. Es ist nicht der Schlag auf den Kopf, sondern die Gehirnerschütterung, die ich bekomme."
Genauso ist es beim Schicksalsschlag, jeder Kopf, jede Seele empfindet anders. Jeder Organismus ist anders, jede Erziehung ist anders, Gene und Bindungserfahrung sind anders, jeder Körper ist anders, jede Haltung zum Leben ist anders, jeder Geist ist anders, kurz - kein Mensch gleicht dem anderen. Die einen sind hart im Nehmen, die anderen fragil wie Glas. Auch die Fähigkeit der Resilienz ist nicht jedem gegeben und sie kann sich nach zu vielen Schicksalsschlägen und traumatischen Erfahrungen sogar verlieren. Das ist dann der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen lässt: ein Mensch bricht zusammen, der zuvor alles Schwere gemeistert und überwunden hat.


Wenn wir Trauma erleben mussten, sitzt das fest. Es löst sich nicht von selbst. Es kann zu einer PTBS kommen, bei manchen lebenslang. Es ist nicht alles heilbar, das müssen wir demütig anerkennen. Und nicht jeder ist heilbar, denn Genesung hat viel mit der Person selbst zu tun. Aber sind wir deshalb ein Leben lang an Vergangenes gefesselt? Die Antwort ist: Nein! Es gibt Wege, uns zu entfesseln – die Frage ist nur: Was das bedeutet und zwar allein für uns selbst. Welche Vorstellungen wir davon haben.
 

Heilung bedeutet nicht – alles wird wie früher und es bedeutet auch nicht Neuwerdung, wie manche meinen. Heilung kann auch bedeuten – genesen. Das Wort ist mir persönlich lieber als das große Wort „Heilung“. Was kaputt ist wird nicht mehr heil, aber wir können die Wunde versorgen, damit sie sich schließt und nicht mehr schmerzt, oder vielleicht ab und an, wenn das Wetter umschlägt, so wie wir es von körperlichen Narben kennen. Wir lernen damit zu leben, mit dem was unveränderbar ist und hören auf es ändern zu wollen. Wir hören auf mit: „Es soll endlich weggehen, ich muss das endlich loslassen!“
Manches geht nicht weg und manches lässt sich nicht loslassen.
Aber es lässt sich anders sehen und neu bewerten. Wir hören auf uns damit zu identifizieren, wir erkennen es an, weil es zu unserer Biografie gehört, auch wenn es schmerzhaft war. Wir hören auf uns als Opfer zu denken und zu fühlen, auch wenn wir Opfer waren. Klingt paradox, hilft aber. Zum einen mitfühlend anerkennen: Ich war Opfer und zum anderen: Ich bin jetzt kein Opfer mehr, weil ich jetzt nicht mehr ohnmächtig, sondern handlungsunfähig bin – ich bin jetzt der Mensch, der gestalten kann.


„Ich bin nicht das, was mir passiert ist, ich bin, was ich beschließe zu werden“ schrieb Carl Gustav Jung


Und damit reiht er sich in all jene Menschen ein, die Opfer waren wie z.B. Viktor Frankl, Edith Eger, Dr. Gabor Maté, denen Grausames widerfahren ist. Diese Menschen sind bewusste, kluge, empathische Menschen, die sich entschieden haben, sich über ihre Traumata und die, die sie verursacht haben, zu erheben. Sie beschlossen zu „werden“.
Warum kann das nicht jeder? Ich habe mich das oft gefragt. Oder zunächst: Warum können diese Menschen das?
Unter anderem, weil sie vergeben haben, ist meine Antwort. Sie haben den Tätern vergeben. Sie haben sich sich selbst zugewandt, sie haben sich für ihre Genesung entschieden und sie haben sich einer Aufgabe verschrieben, die Aufgabe anderen zu helfen, als Psychoanalytiker, als Psychiater, als Arzt, als Therapeutin, als Autor, als Autorin. Sie haben einen Sinn gewählt, der über sie selbst hinaus geht. Der Focus dieser Menschen liegt auf der Aufgabe, die sie sich gestellt haben und nicht auf ihrem Trauma. Er liegt darauf aus diesem Trauma zu lernen, an ihm zu wachsen, es zu nutzen, es zu wandeln und andere, mittels ihrer Erfahrungen und ihres Wissens, zu unterstützen auch der zu werden, der sie sein wollen.


Bitte nicht falsch verstehen – das soll nicht heißen, alle anderen machen etwas falsch. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, aber es gibt hilfreich und nicht hilfreich. Es ist immer der eigene Weg, der zur Genesung führt, der, der sich stimmig anfühlt, der Schritt für Schritt fühlbar und erlebbar Genesung bringt. Es ist ein: den Weg gehen und nicht aufhören ihn zu gehen. Es gibt nicht die eine Methode, die allen Menschen gleich hilft. Es gibt viele Methoden und Wege, aber was entscheidend ist, das sagt meine Erfahrung über all die Jahre meines Wirkens ist Bereitschaft, Geduld und die Fähigkeit dem, was war, einen Sinn zu verleihen und dem Jetzt einen selbstgewählten Sinn zu geben – und sei es der, zu genesen.
 

Jede Art der Abwehr, jedes: „Ich will das so nicht haben!“, jedes: „Ich bin Opfer und werde es immer sein, ist eine Blockade, die Genesung unmöglich macht. Denn damit würde man den Kern des Schmerzes umgehen.


Man kann seine Geschichte nur selbst aufarbeiten. Und man muss es auch wirklich wollen. Man kann sich Hilfe suchen beim Aufarbeiten, auch das muss man wirklich wollen. Und man muss die Hilfe annehmen wollen. Nur was wir aufgearbeitet haben kann sich wandeln. Es kann eine neue Form annehmen, auch wenn der Inhalt der gleiche bleibt.
Neulich sagte eine Klientin zu mir: Hätte meine Mutter mich nicht gehasst und geschlagen und hätte mein Vater nicht gesoffen, wäre ich beziehungsfähig geworden. Ich hätte ein gutes Leben gehabt.“ Sie ist so davon überzeugt, dass das Schlimme, was ihr widerfahren ist, der Grund für alles ist, was sie im späteren Leben nicht erfahren durfte, dass sie zwanghaft jedes Mal, sobald ich mit ihr gemeinsam versuche die Dinge neu zu bewerten, sofort zurückfällt in ihre Überzeugung. Es darf nicht gut sein! Es war zu furchtbar. Damit wird es auch nicht gut oder zumindest besser. Durch den Groll und das Festhalten an der Opferrolle fügt sie sich selbst weiteren Schmerz zu und baut eine undurchdringliche Mauer auf. Aus Schmerz wird Leiden. Wie kann sich so eine Liebesbeziehung entwickeln, wie kann sich so das Leben zum Besseren wenden, wenn diese Blockade vorhanden ist? Die Blockade schreit ja förmlich: „Ich bin machtlos!“


„Ich bin nicht machtlos!“ Das ist die Wahrheit, wenn ich sie glauben will, wenn ich die Bereitschaft habe, zu glauben. Dann kann Genesung beginnen. "… ich bin, was ich beschließe zu werden“. Damit beginnt der Weg aus der Ohnmacht in die Handlungsbereitschaft.
Es geht nicht um Wegmachen oder Neuwerden – es geht darum aus dem, was war, das zu machen, was werden soll. Es geht nicht um neu erfinden oder ums unbedingte Loslassen – es geht um die Integration des Traumas, als Teil unseres Seins und es geht darum dieses Sein selbst zu gestalten um der Mensch zu werden, der wir sein wollen.
Ja, das ist in der Tat schwer, aber nichts ist unmöglich. Daran glaube ich. Es sei denn, ich sage: „Auch wenn ich weiß, dass ich noch könnte, ich weiß nicht, ob ich noch will.“ Auch das ist eine Entscheidung, die ich mir selbst vorbehalte, wenn ich einmal nicht mehr will.  
 
 
 


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