Montag, 30. Oktober 2023
Wiederholung
Sonntag, 29. Oktober 2023
Aus der Praxis: Die Funktion zwanghaften Denkens
Der Klient klagt ständig. Seine Arbeit gehe ihm nicht aus dem Kopf. Er könne an nichts anderes mehr denken und über nichts anderes mehr reden, sagt er. Auch in jeder gemeinsamen Sitzung ist das alleinige Thema seine Arbeit. Er beklagt sich, wie unerträglich der Chef ist, meint, dass die anderen Mitarbeiter auch Probleme mit ihm haben und dass der endlich weg muss, damit es ihm besser geht.
Sein ganzes Denken dreht sich zwanghaft um den Chef und Arbeit, die wegen ihm so frustrierend ist. In seinem Kopf ist permanentes Affengeschnatter, wie es die Buddhisten nennen, ein ruheloser Geist, der wie ein Affe von einem Ast zum anderen springt.
In einem solchen Geisteszustand sind wir nicht mehr fähig klar zu denken. Wir sind gedanklich nicht da wo wir gerade sind. Der Körper ist anwesend, während der Geist ganz woanders ist.
Die Abneigung und die Wut, die der Klient ständig mit sich herumschleppt, führen dazu, dass er nicht mit sich selbst im Einklang ist. Diese innere Disharmonie hat zur Folge, dass ihm die Aufmerksamkeit fehlt um in die Tiefe zu gehen und eine Lösung zu finden. Wir beschäftigen uns seit Wochen nur mit der Oberfläche des Problems und sind unfähig an die Substanz zu kommen, sprich: das tiefere Problem zu ergründen.
Ein Affengeist, der nicht selten zwanghaftes Denken nach sich zieht, ist also zu nichts gut, könnte man meinen. Aber so ist es nicht. Jedes zwanghafte Denken hat eine Funktion, nämlich, dass wir vom wahren Problem – also von der Tiefe, von dem, worum es wirklich geht, abgelenkt sind und uns dem nicht stellen müssen. Es wird abgewehrt.
Mein Klient macht sein ganzes Unglück an einem schlimmen Chef fest. Er projiziert und überträgt, was in seinem Leben an Unheilsamen ist – unter anderem ein Suchtproblem, ein massives Selbstwertthema und zwischenmenschliche Probleme in Beziehungen – auf das Außen. Das zwanghafte Denken lenkt ihn von dem ab, was er wirklich anschauen müsste, damit sich an seinem emotionalen Zustand und seiner Lebenssituation Zustand etwas ändern kann.
Als ich ihn frage, wenn sie nicht bereit sind, ihren Chef und ihre Arbeitssituation zu akzeptieren, warum suchen Sie sich dann nicht einen anderen Job?, schüttelt er nur müde den Kopf.
Leave it or love it. Machen sie etwas anderes oder akzeptieren sie was ist, sage ich.
Auf keinen Fall sei er dazu bereit. Weder das eine noch das andere geht. Er beharrt darauf, dass der Chef weg muss und klagt weiter.
Okay, was könnten Sie bei sich selbst ändern, wenn das auf keinen Fall geht?, frage ich weiter.
Ich habe keine Probleme, der Chef ist das Problem, wenn der geht, ist alles gut, kommt als Antwort.
Und, was soll ich jetzt machen?
Love it, geht nicht, leave it, geht nicht. Change it, sage ich. Das würde bedeuten, dass wir beide in die Tiefe gehen.
Wie oft, geht er mich aggressiv an, soll ich Ihnen noch sagen, ich bin nicht das Problem!
Ja, sage ich, sie sind vielleicht nicht das Problem, aber Sie haben Probleme, um nur eins zu nennen, ihr Alkoholproblem.
Ich habe kein Alkoholproblem. Was soll ich denn machen, wenn der Job mich kaputt macht, meine Beziehungen nicht funktionieren und ich jeden Abend alleine da sitze? Dann muss ich mich halt runterbeamen. Da reicht eine Flasche Wein nicht um das alles zu schlucken, kontert er.
Mit runterbeamen ist runtertrinken gemeint, was er natürlich nie sagen würde, denn dann müsste er seinen Blick vom schlimmen Chef auf sich selbst richten.
Der Klient zeigt keine Bereitschaft. Sein innerer Widerstand ist nicht zu lösen. Die fehlende Bereitschaft in die Tiefe zu gehen ist ein massives Hindernis, an dem weder er, noch ich, noch wir beide gemeinsam weiterkommen.
Wenn keine Bereitschaft vorhanden ist, wenn es nur Gründe gibt, warum etwas nicht geht und keine Wege gesehen werden, um etwas zu verändern, ändert sich nichts.Das Problem kann nicht gelöst werden.
Es bleibt an der Oberfläche und erfüllt damit weiter die Funktion die tiefere Ursache zu verdrängen, weil diese für den Klienten gefühlt unaushaltbar erscheint. Mit einer solchen Haltung dreht sich die unheilsame Spirale nach Unten. Der Geist wird mit immer mehr Frust, Wut und Widerstand gefüttert. Es kommt zu mentalem und körperliche Energieverlust, im Zweifel sogar zu psychischen und/oder körperlichen Beschwerden. Beide Probleme – jenes, was an der Oberfläche ist und jenes, das im eigenen Inneren ist, kumulieren zur massiven Krise mit hohem Leidensdruck. Das ist dann oft der Moment in dem Menschen erstmals bereit sind etwas zu ändern oder auch nicht.
Mittwoch, 25. Oktober 2023
Grübeln - Fühlen statt Denken
Samstag, 21. Oktober 2023
Aus der Praxis: "… Ich bin, was ich beschließe zu werden“
Für alle Menschen, die Traumata und/oder Schicksalsschläge erlebt haben, ist die Genesung ein Prozess. Dieser Prozess dauert in der Traumaarbeit meist mehrere Jahre und umfasst vieles. Erlebtes durcharbeiten und neu bewerten, Glaubenssätze identifizieren und sich von ihnen disidentifizeren, Selbstwertgefühl und Selbstberuhigungskompetenz stärken, innere und äußere Blockaden beseitigen, Verstrickungen erkennen und lösen, und und und.
Eine Menge Arbeit, eine Menge Anstrengung und vor allem - die Zuversicht nicht verlieren ist in diesem Prozess essentiell wichtig. Dieser Prozess verläuft nicht linear, sondern eins fließt ins andere. Er ist auch keine einmalige Angelegenheit mit klar definiertem Anfang und Ende, dieser Prozess beginnt immer wieder von neuem. Jeder Heilungsprozess ist individuell und hängt von jedem einzelnen Menschen selbst ab. Er hängt nicht von der Stärke oder Anzahl von Traumata ab, auch nicht von der Wucht eines Schicksalsschlages, sondern wie der Betroffene, das, was ihm widerfährt, empfindet, oder wie es der Traumaexperte Dr. Gabor Mate in seinem Buch „Vom Mythos des Normalen“ auf den Punkt bringt: "Trauma – aus dem Griechischen für „Wunde“ – „ist nicht das, was dir passiert; es ist das, was in dir als Ergebnis dessen passiert, was dir passiert. Es ist nicht der Schlag auf den Kopf, sondern die Gehirnerschütterung, die ich bekomme."
Genauso ist es beim Schicksalsschlag, jeder Kopf, jede Seele empfindet anders. Jeder Organismus ist anders, jede Erziehung ist anders, Gene und Bindungserfahrung sind anders, jeder Körper ist anders, jede Haltung zum Leben ist anders, jeder Geist ist anders, kurz - kein Mensch gleicht dem anderen. Die einen sind hart im Nehmen, die anderen fragil wie Glas. Auch die Fähigkeit der Resilienz ist nicht jedem gegeben und sie kann sich nach zu vielen Schicksalsschlägen und traumatischen Erfahrungen sogar verlieren. Das ist dann der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen lässt: ein Mensch bricht zusammen, der zuvor alles Schwere gemeistert und überwunden hat.
Wenn wir Trauma erleben mussten, sitzt das fest. Es löst sich nicht von selbst. Es kann zu einer PTBS kommen, bei manchen lebenslang. Es ist nicht alles heilbar, das müssen wir demütig anerkennen. Und nicht jeder ist heilbar, denn Genesung hat viel mit der Person selbst zu tun. Aber sind wir deshalb ein Leben lang an Vergangenes gefesselt? Die Antwort ist: Nein! Es gibt Wege, uns zu entfesseln – die Frage ist nur: Was das bedeutet und zwar allein für uns selbst. Welche Vorstellungen wir davon haben.
Heilung bedeutet nicht – alles wird wie früher und es bedeutet auch nicht Neuwerdung, wie manche meinen. Heilung kann auch bedeuten – genesen. Das Wort ist mir persönlich lieber als das große Wort „Heilung“. Was kaputt ist wird nicht mehr heil, aber wir können die Wunde versorgen, damit sie sich schließt und nicht mehr schmerzt, oder vielleicht ab und an, wenn das Wetter umschlägt, so wie wir es von körperlichen Narben kennen. Wir lernen damit zu leben, mit dem was unveränderbar ist und hören auf es ändern zu wollen. Wir hören auf mit: „Es soll endlich weggehen, ich muss das endlich loslassen!“
Manches geht nicht weg und manches lässt sich nicht loslassen.
Aber es lässt sich anders sehen und neu bewerten. Wir hören auf uns damit zu identifizieren, wir erkennen es an, weil es zu unserer Biografie gehört, auch wenn es schmerzhaft war. Wir hören auf uns als Opfer zu denken und zu fühlen, auch wenn wir Opfer waren. Klingt paradox, hilft aber. Zum einen mitfühlend anerkennen: Ich war Opfer und zum anderen: Ich bin jetzt kein Opfer mehr, weil ich jetzt nicht mehr ohnmächtig, sondern handlungsunfähig bin – ich bin jetzt der Mensch, der gestalten kann.
„Ich bin nicht das, was mir passiert ist, ich bin, was ich beschließe zu werden“ schrieb Carl Gustav Jung
Und damit reiht er sich in all jene Menschen ein, die Opfer waren wie z.B. Viktor Frankl, Edith Eger, Dr. Gabor Maté, denen Grausames widerfahren ist. Diese Menschen sind bewusste, kluge, empathische Menschen, die sich entschieden haben, sich über ihre Traumata und die, die sie verursacht haben, zu erheben. Sie beschlossen zu „werden“.
Warum kann das nicht jeder? Ich habe mich das oft gefragt. Oder zunächst: Warum können diese Menschen das?
Unter anderem, weil sie vergeben haben, ist meine Antwort. Sie haben den Tätern vergeben. Sie haben sich sich selbst zugewandt, sie haben sich für ihre Genesung entschieden und sie haben sich einer Aufgabe verschrieben, die Aufgabe anderen zu helfen, als Psychoanalytiker, als Psychiater, als Arzt, als Therapeutin, als Autor, als Autorin. Sie haben einen Sinn gewählt, der über sie selbst hinaus geht. Der Focus dieser Menschen liegt auf der Aufgabe, die sie sich gestellt haben und nicht auf ihrem Trauma. Er liegt darauf aus diesem Trauma zu lernen, an ihm zu wachsen, es zu nutzen, es zu wandeln und andere, mittels ihrer Erfahrungen und ihres Wissens, zu unterstützen auch der zu werden, der sie sein wollen.
Bitte nicht falsch verstehen – das soll nicht heißen, alle anderen machen etwas falsch. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, aber es gibt hilfreich und nicht hilfreich. Es ist immer der eigene Weg, der zur Genesung führt, der, der sich stimmig anfühlt, der Schritt für Schritt fühlbar und erlebbar Genesung bringt. Es ist ein: den Weg gehen und nicht aufhören ihn zu gehen. Es gibt nicht die eine Methode, die allen Menschen gleich hilft. Es gibt viele Methoden und Wege, aber was entscheidend ist, das sagt meine Erfahrung über all die Jahre meines Wirkens ist Bereitschaft, Geduld und die Fähigkeit dem, was war, einen Sinn zu verleihen und dem Jetzt einen selbstgewählten Sinn zu geben – und sei es der, zu genesen.
Jede Art der Abwehr, jedes: „Ich will das so nicht haben!“, jedes: „Ich bin Opfer und werde es immer sein, ist eine Blockade, die Genesung unmöglich macht. Denn damit würde man den Kern des Schmerzes umgehen.
Man kann seine Geschichte nur selbst aufarbeiten. Und man muss es auch wirklich wollen. Man kann sich Hilfe suchen beim Aufarbeiten, auch das muss man wirklich wollen. Und man muss die Hilfe annehmen wollen. Nur was wir aufgearbeitet haben kann sich wandeln. Es kann eine neue Form annehmen, auch wenn der Inhalt der gleiche bleibt.
Neulich sagte eine Klientin zu mir: Hätte meine Mutter mich nicht gehasst und geschlagen und hätte mein Vater nicht gesoffen, wäre ich beziehungsfähig geworden. Ich hätte ein gutes Leben gehabt.“ Sie ist so davon überzeugt, dass das Schlimme, was ihr widerfahren ist, der Grund für alles ist, was sie im späteren Leben nicht erfahren durfte, dass sie zwanghaft jedes Mal, sobald ich mit ihr gemeinsam versuche die Dinge neu zu bewerten, sofort zurückfällt in ihre Überzeugung. Es darf nicht gut sein! Es war zu furchtbar. Damit wird es auch nicht gut oder zumindest besser. Durch den Groll und das Festhalten an der Opferrolle fügt sie sich selbst weiteren Schmerz zu und baut eine undurchdringliche Mauer auf. Aus Schmerz wird Leiden. Wie kann sich so eine Liebesbeziehung entwickeln, wie kann sich so das Leben zum Besseren wenden, wenn diese Blockade vorhanden ist? Die Blockade schreit ja förmlich: „Ich bin machtlos!“
„Ich bin nicht machtlos!“ Das ist die Wahrheit, wenn ich sie glauben will, wenn ich die Bereitschaft habe, zu glauben. Dann kann Genesung beginnen. "… ich bin, was ich beschließe zu werden“. Damit beginnt der Weg aus der Ohnmacht in die Handlungsbereitschaft.
Es geht nicht um Wegmachen oder Neuwerden – es geht darum aus dem, was war, das zu machen, was werden soll. Es geht nicht um neu erfinden oder ums unbedingte Loslassen – es geht um die Integration des Traumas, als Teil unseres Seins und es geht darum dieses Sein selbst zu gestalten um der Mensch zu werden, der wir sein wollen.
Ja, das ist in der Tat schwer, aber nichts ist unmöglich. Daran glaube ich. Es sei denn, ich sage: „Auch wenn ich weiß, dass ich noch könnte, ich weiß nicht, ob ich noch will.“ Auch das ist eine Entscheidung, die ich mir selbst vorbehalte, wenn ich einmal nicht mehr will.
Mittwoch, 18. Oktober 2023
Spaltung
Foto: www
Montag, 16. Oktober 2023
Frieden
Sonntag, 15. Oktober 2023
Existenzschuld – Verbeulte Kinderseelen
Es braucht professionelle Hilfe.
Es dauert.
Es braucht Geduld mit uns selbst.
Mittwoch, 11. Oktober 2023
Sich selbst aushalten
Samstag, 7. Oktober 2023
Freiheit, ein ziemlich hoher Preis, denn Freisein bedeutet immer auch Verzicht
Mittwoch, 4. Oktober 2023
Individualismus - Nachtrag zum Thema Selbstisolierung
"Was ist mit uns geschehen, dass es so viele betrifft? Was ist auf kollektiver Ebene irgendwann mit uns geschehen?" Eine sehr gute Frage, die eine Leserin, aufgrund meines Textes über Selbstisolation, gestellt hat. Ich habe nachgedacht, ich denke schon lange darüber nach, denn ich erlebe immer mehr einsame Menschen, die zu mir kommen.
Fakt ist: Unsere Gesellschaft versingelt immer mehr.
Fakt ist: Wir bewegen uns in Richtung kollektive Einsamkeit.
Aber wann hat das begonnen?
Es hat begonnen, als wir in das Stadium des modernen Individualismus eingetreten sind.
Manche
meinen, das sei so seit der Coronapandemie. So ist es nicht. Die
Pandemie und die Maßnahme, Menschen voneinander zu isolieren, hat das
soziale Virus „Individualismus“ nur verstärkt und es bewusster gemacht.
Nicht ohne Grund, wie ich meine: Damit wir endlich hinsehen, wo wir
kollektiv hindriften. Geholfen hat es wenig, auf politischer Ebene
ist das Thema Einsamkeit, im Gegensatz zu England, das längst ein
Einsamkeitsministerium hat, bei uns nicht angekommen.
Schon lange vor der Pandemie sprechen Psychologen von einem Trend zur Vereinzelung.
Hans-Joachim
Maaz geht in seinem Psychogramm: „Die narzisstische Gesellschaft“ auf
Ursachenforschung, was Individualismus und Narzissmus kollektiv mit uns
machen.
In seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“, geht
aktuell der Publizist Martin Hecht diesem Thema auf den Grund. Er
spricht vom radikalen Ich, das unsere Demokratie bedroht und warnt
davor, dass der moderne Individualismus zunehmend zu einer Gefahr für
den Zusammenhalt im Kollektiv wird.
Diana Kinnert setzt sich in
ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ mit alter und neuer Einsamkeit
auseinander und stellt fest: Eine neue Einsamkeit greift, unabhängig von
Corona, immer weiter um sich. Die Gründe hierfür sieht sie darin, dass
unsere Gesellschaft auf Konsum statt Intimität, Flexibilität statt
Verbindlichkeit, und immer mehr Gewinn statt Stabilität ausgerichtet
ist.
Höher, schneller, weiter – das ist das Lebensmotto vieler.
Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und persönliche Freiheit werden als
hohes Gut angesehen.Jeder ist sich selbst der Nächste, was das eigene
Ich und dessen Verwirklichung stört, muss weg.
Haben statt sein.
Damit
hat sich schon Erich Fromm in seinem Buch "Haben oder Sein" im Jahre
1976 auseinandergesetzt und eindringlich davor gewarnt, dass eine
Gesellschaft, die vom Streben nach Besitz und markt- und
konsumorientierten „Haben“ dominiert wird, scheitern wird.
Das zeigt sich jetzt immer deutlicher.
Der
Individualismus, der kollektive Narzissmus, der Selbstoptimierungswahn
und die Egozentriertheit vieler Menschen fordert ihren Preis: Der Mensch
entfremdet sich von sich selbst und damit in der Folge von seinem
Nächsten. Er dreht sich nur noch um sich selbst, er bespiegelt sich
selbst und am Ende muss er feststellen: Individualismus macht allein.
Aber was ist Individualismus überhaupt?
Individualismus
definiert eine Anschauung und Geisteshaltung, die dem Individuum und
seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt. Eine
Haltung also, die auf die Entfaltung und das Wohlergehen der eigenen
Persönlichkeit ausgerichtet ist und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu
einer Gemeinschaft wenig Raum lässt. Die Folge: Eine individualistisch
orientierte Gesellschaft, die sich durch lose, unverbindlichere soziale
Bindungen auszeichnet.
Das eigene Ich wird zum Maß aller Dinge. Und so reden sie auch, die Meisten: von sich. Und so denken sie auch die Meisten: an sich. Ich, ich, ich …
Und dann kommt lange nichts oder nur das, was dem Ich nützlich ist und was es brauchen kann.
Eine
Geisteshaltung, die natürlicherweise ihren Preis hat: nämlich die
Zersplitterung eines Gemeinsamkeitsgedankens und der Verlust des
Bewusstseins des Einzelnen für das Ganze.
Verbundenheit fehlt, ein
menschliches Miteinander fehlt, lebendiger Kontakt, der mit allen Sinnen
erlebt wird, fehlt. All das wird ersetzt durch die virtuelle Welt, die
uns vorgaukelt – wir sind verbunden.
Alles Schimäre weiter nichts!
Denn
hunderte Freunde auf Facebook oder tausende Follower auf Instagram
simulieren lediglich eine illusionistische Verbundenheit, die in der
realen Welt nicht existiert.
Flashfull Fantasy, die an der Realität
zerplatzt, dann nämlich, wenn uns bewusst wird, wie allein wir da vor
unseren Handys und PC´s sind, während wir das Leben unserer sogenannten
Freunde betrachten, liken und kommentieren, Menschen, die wir meist
nicht einmal kennen.
Der Mensch selbst ist nicht nur Konsument, er ist selbst zum Konsumgut geworden.
Er
konsumiert und wird konsumiert. Tinder z.B., das Online Warenhaus in
dem ich mir, nach dem Motto: Wisch und weg und Match! einen One Night
Stand bestelle, denn eine echte Beziehung wollen die meisten gar nicht.
Das Leben mit dem eigenen Ich ist anstrengend genug.
Es geht noch krasser.
Manch
einer verliebt sich in eine(n) KI-Chatbot, der/die ihm vorgaukelt, er
sei in einer echten Beziehung. Eine Beziehung, die nur seine eigenen
Bedürfnisse erfüllt, nichts von ihm fordert und ihm die tägliche Dosis
Honig ums Maul schmiert um sein Ego zu streicheln, auf dass es weiter
wachsen möge.
Ich, ich, ich …
Das moderne Ich holt sich seine
Bedeutung vornehmlich virtuell.
Geredet wird auch nicht mehr viel, wenn
nicht unbedingt nötig, es wird What´s appt, zugetextet, wie ich es
nenne. Texten ist weniger anstrengend und zeitaufwendig als ein
echter Dialog mit einem leibhaftigen Gegenüber. Vornehmlich wird
mitgeteilt, es werden Gifs und flache Sprüche versendet – ein Mist, den
kein Mensch braucht. Alles um das eigene Selbstgefühl zu stärken.
Man
textet einander, man kann sich einreden, dass man im Innern des anderen
präsent ist, eine Bedeutung in seinem Leben zu haben, auch wenn der
andere einer ist, den man noch nie im richtigen Leben gesehen hat.
Unbemerkt bleiben, nicht vorhanden sein für andere, ist das Schlimmste.
Aber in Wahrheit ist es bei immer mehr Menschen genauso. Wer
seine Bedeutung und damit sein Selbstwertgefühl auf diese Weise zu
stärken versucht, baut auf Sand, er stützt sich auf etwas, das so
schnell verrinnt, wie sein Getexte. Zurück bleiben Individualisten, die sich mit der Einsamkeit abfinden müssen, wenn sich nicht radikal etwas ändert.
Die
Heilung des Individuums hat nicht viel Sinn ohne das Streben nach einer
besseren Gesellschaft.
Wieviel Sinn hat es, Individuen von seelischen
Krankheiten zu heilen, aber nicht vor den Gefahren zu warnen, die durch
eine individualistisch-narzisstische Gesellschaft drohen, die eine
gesunde Gesellschaft zunichte machen? Unsere Aufgabe ist es
einander zu ermutigen, hinzuschauen, uns wieder einander zuzuwenden und
uns unserer Verantwortung für das Ganze bewusst zu werden, uns ihr zu
stellen und sie zu übernehmen. Tun wir das? Nein. Die meisten tun es
nicht. Viele sind gleichgültig oder tun so als sei alles in Ordnung.
Montag, 2. Oktober 2023
Aus der Praxis: Selbstisolation
Malerei: Edward Hopper