Donnerstag, 24. Februar 2022

Es ist Krieg

 


In jedem Leben ist immer auch die Möglichkeit des Unglücks, im Leben eines jeden von uns. Menschen, die ein Unglück trifft, gibt es jeden Tag, jede Minute, immer und überall auf der Welt. Es gibt so viel Unglück. Das Unglück macht fassungslos, es macht ohnmächtig, wütend, traurig und verzweifelt. Das Unglück hat vor zwei Jahren viele Menschen auf der ganzen Welt getroffen, das Unglück der Seuche hat uns alle getroffen. Es hat die Welt und es hat die Menschen verändert und wir leben damit seit zwei Jahren. Und nichts hat sich zum Besseren gewendet. Und als gäbe es nicht genug Unglück, haben wir jetzt Krieg, mitten in Europa. Was für ein schwarzer Tag, der 24. Februar 2022. 
 
Ich bin fassungslos, dass das überhaupt möglich ist, obwohl ich wusste es ist möglich, immer wieder, dass Menschen Kriege anzetteln. Krieg, das schrecklichste Unglück, das uns zeigt, dass Menschen nichts aus der Geschichte gelernt haben, dass Menschen niemals Brüder und Schwestern werden.
Es ist Krieg mitten in Europa. Das ist so unvorstellbar grausam, so unvorstellbar unmenschlich, so unvorstellbar brutal und so ein unvorstellbar großes Unglück, dass ich schreien könnte vor Schmerz.
 
Mich hat keiner gefragt, was ich über diesen Krieg denke, keiner hat mich gefragt, ob ich das will. Uns alle hat keiner gefragt, wir haben unsere Rechte längst abgegeben an Politiker, die für uns und über uns entscheiden. Sie machen Krieg, überall auf der Welt machen sie Krieg, ohne die zu fragen, die darin töten sollen oder getötet werden oder dabei zuschauen müssen. Die Machtgierigen, die Fanatiker, die Wahnsinnigen machen Krieg und wir haben nichts, aber auch nichts in der Hand gegen diese Wahnsinnigen. Wir sind ohnmächtig, wir, die nicht gefragt werden, und hilflos gegen die Wahnsinnigen, die eine Welt in Angst und Schrecken versetzen und Leichenberge und unendliches Leid schaffen.
 
Aber sie ist da die Angst, bei uns allen, in uns allen, sie legt sich zu der Angst, die in uns ist vor dem Leben, das immer schwieriger wird, dem Existenzkampf, der immer gnadenloser wird, zu der Angst, die wir seit Kindesbeinen in uns tragen, auch bei denen, die sich nicht von ihr lähmen lassen. Die Angst wuchert wie eine giftige alles zerfressende Pflanze, überwuchert unser Leben, unseren Glauben an das Gute, bedroht unsere Hoffnung, raubt unsere Zuversicht, sie überwuchert die Liebe, wenn wir nicht achtsam sind. Wenn die Angst siegt haben sie gewonnen, die Machtgierigen, die Fanatiker, die Wahnsinnigen.
Ja, wir dürfen sie haben die Angst, sie ist berechtigt, diese Welt steht vor einem riesigen Abgrund, den wir nur mit Mut überwinden können, dem Mut, trotz der Angst weiter zu gehen, weiter zu machen, mit der Kraft der Liebe.
 
Diese Liebe bedeutet mehr als Worte, sie bedeutet für mich eine große Verantwortung uns selbst gegenüber und all denen, denen wir sie schenken können, jeden einzelnen Moment in der Zeit indem wir gegen die Energie der Zerstörung das Einzige setzen, was wir noch haben: Vertrauen in das Gute und es tun, wo immer wir können, wann immer wir können - jeden einzelnen Tag. Nur so entkommen wir der Angst und der Ohnmacht, nur so wird sich dieser Krieg nicht von Außen in unser Inneres fressen.

Samstag, 19. Februar 2022

Mut und Liebe



So oft in unserem Leben geht es um Ängste und den Umgang mit ihnen, um den Verlust von Sicherheiten und um innere Balance. Immer wieder den Mut zu finden, wenn die Ängste uns überfallen, wenn Verluste schmerzhaft in unser Leben einbrechen, wenn wir angesichts der Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen die Augen nicht verschließen und bereit sind gegen den Mainstream zu schwimmen und unsere Wahrheit auszusprechen, dann ist der Mut ein solcher Balanceakt.

Balancieren bedeutet: Wir kippen hin und her, aber wir kommen immer wieder in unsere Mitte. Und ja, das Balancieren gehört dazu, wie sonst könnten wir sonst in unsere Mitte kommen?

Wir müssen nicht immer da stehen wie der Fels in der Brandung. Wir dürfen schwanken. Wir dürfen nur den Mut nicht verlieren, sonst fallen wir um und stehen im Zweifel nicht mehr so leicht auf oder wir bleiben liegen.

 

Wir brauchen Mut um die Widerstände des Lebens und die Herausforderungen anzunehmen. 

Wir brauchen auch den Mut, uns selbst den Spiegel vorzuhalten und genau hineinzuschauen.  

Wenn wir tief in den Spiegel schauen, werden wir viele Schatten sehen, auch den der Angst. Doch wir müssen den Sprung wagen, mutig, trotz der Angst, denn das ist der erste Schritt. Wenn wir diesen Schritt auslassen, kann unsere spirituelle Praxis leicht im „spiritual bypassing“ enden. Es braucht Mut und Tapferkeit, trotz Hindernissen, ob im Innen oder im Außen, stetig vorwärtszugehen. Mut ist die Voraussetzung für jede Transformation, Mut eröffnet uns Möglichkeiten, Mut ist das, was uns weiter trägt, auch wenn es aussichtlos scheint. Und das ist es nicht, solange wir leben.

 

Aber woher nehmen wir den Mut?

Wir treffen eine Entscheidung: Wir haben die Bereitschaft mutig zu sein.

Mutig zu sein, den eigenen Weg zu gehen, mit allen Widerständen, allen Hausforderungen, allen Steinen, die sich uns in den Weg legen, bedeutet auch große Schwierigkeiten auf sich zu nehmen.

Mut schenkt uns auch die Liebe. Glücklich, der, der sie geschenkt bekommt und verschenken darf. Laotse hat einmal gesagt: “Geliebt zu werden macht uns stark. Zu lieben macht uns mutig.” Und wenn da in diesem Moment in der Zeit niemand ist, der uns liebt und den wir lieben dürfen, dann macht uns die Liebe zu dem, was wir lieben, mutig. Dazu gehört auch die Liebe zu uns selbst. 

Dienstag, 15. Februar 2022

LOST

 



„Manchmal träume ich, wieder der zu sein, der ich war, als ich davon träumte, 
der zu werden, der ich bin.“
(Grafitto in den Libretas de José)
 
Dieser Satz bescheibt es gut, das Gefühl des Selbstempfindens, den Verlust und die Transformation desselben. Nicht immer haben Verluste mit dem Verlust eines andern Menschen oder dem Verlust von etwas im Außen zu tun, auch wenn äußere Verluste meist der Auslöser dafür sind, dass wir uns innerlich verloren fühlen. Wenn dies so ist, spüren wir eine tiefgreifende Veränderung, die sich in uns selbst abspielt. All das, was den Menschen ausmacht, der wir sind oder zu sein glaubten, ist uns fremd. Wir nehmen Veränderungen im Denken und Fühlen wahr. Wir sind verunsichert und verwirrt, weil wir uns nicht mehr in uns selbst auskennen.
Dann befinden wir uns in einer Identitätskrise. 
 
Uns trifft eine massive Erkenntnis: Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Und wir versuchen auch nicht mehr der zu sein, wer wir waren, aber wir wissen nicht, wer wir werden.
Wir befinden uns in einem nicht fassbaren inneren Raum. Alles um uns herum sieht noch so aus wie gestern, aber wir sind nicht mehr der, der wir gestern waren und wir werden es auch nie mehr sein. Das ist alles, was wir wissen.
Wir suchen in der Erinnerung um uns wieder zusammenzufügen, wir klammern uns an das Gewesene und finden keinen Halt. Das Fundament, auf dem wir unser Leben aufgebaut haben, wackelt. Wir sind verwirrt, instabil und überfordert.
 
Wir fühlen uns LOST.
Verloren in einem Niemandsland zwischen Gestern und Heute.
Wir haben die Orientierung verloren. Worauf wir innerlich vertraut und gebaut haben, wessen wir sicher waren, ist zerbröselt.
Wir fragen uns: Wer bin ich jetzt? Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Wohin gehe ich? Aber wir haben keine Antworten. Und niemand kann sie uns geben, denn es sind seine Antworten, nicht die unseren.
Eine Identitätskrise fordert uns auf sehr bewusst auf uns selbst zu schauen.  
Wo war der Punkt, an dem wir die alte Person verloren haben? 
Gab es einen Auslöser oder mehrere Ereignisse?
Wie haben wir auf diese Auslöser und Ereignisse reagiert und geantwortet?
Haben wir vielleicht zu viel auf andere geschaut, als auf uns selbst zu achten?
Haben wir uns selbst verraten?
Uns selbst belogen?
Anderen etwas vorgemacht?
Uns über einen anderen definiert? Über einen Job, eine Rolle, eine Vorstellung von uns?
Haben wir uns über etwas definiert, was uns gar nicht entsprach, nur weil andere meinten, es sei gut für uns oder weil wir glaubten, nichts Besseres bekommen oder sein zu können?
Haben wir in einer Illusion gelebt und sind mit ihr fusioniert?
Was könnte das für uns bedeuten, den verloren zu haben, der wir zu sein glaubten?
Welche Herausforderung ist es, vor der wir jetzt stehen?
Was dürfen wir lernen?
Was oder wer ist endgültig sein zu lassen, was oder wer ist zu verabschieden, damit Platz für etwas Neues entsteht?
All das sind Fragen, die wir uns stellen können. Sie helfen weiter.
 
Wichtig ist jetzt Ruhe zu bewahren und den Zwischenzustand anzunehmen als eine Phase des Forschens im Pozess der Transformation und diesen Prozess bewusst zu akzeptieren.
Hinter jedem Bruch, hinter jeder Veränderung, verbergen sich Verluste, die wir verarbeiten müssen und das braucht Zeit. Identitätskrisen sind zwar kritisch und sie können sich anfühlen wie ein Sterben im Leben, aber sie sind notwendig, denn sie treten immer dann auf, weil etwas Grundlegendes in unserem Leben nicht mehr stimmt. Die gute Nachricht: Identitätskrisen tragen wie jede Krise das Potenzial in sich, daran zu wachsen und eine neue Identität aufzubauen, die uns entspricht, in diesem Moment in der Zeit. Und je näher wir uns selbst kommen, desto mehr verstehen wir, dass das Ich veränderbar, wandelbar und nie fixiert ist, so wie alles.
 
Wenn Du in diesem Prozess meine Unterstützung möchtest, schreib mir eine Mail an:

Sonntag, 13. Februar 2022

Wenn die anderen dich nicht verstehen

 



Menschen ertragen Schmerz schlecht. Den eigenen und den der anderen. Manchmal sind dann diejenigen, von denen du glaubtest, sie würden dir immer beistehen, nicht die besten Gefährten, wenn es dir schlecht geht. Du sehnst dich nach Zuwendung, nach Verständnis, nach Trost und Halt, aber du spürst, es ist besser nicht zu sagen, wie schlecht es dir geht. Du beginnst dich zurückzuziehen, weil du spürst, dass sie mit deinem Schmerz überfordert sind.
Es kommen subtile Vorwürfe, weil es dir noch immer nicht besser geht, denn sie wollen ja, dass es dir besser geht. Aber es geht dir nicht besser, weil sie das wollen und auch nicht, weil du das willst. Sie tun das in guter Absicht, wenn sie dir sagen: Tu was, damit es dir besser geht! oder: Hör auf, dich in deinem Schmerz zu vergraben! Sei stark, lass dich nicht hängen!
Aber du kannst gerade nicht stark sein. 
 
Mach ihnen keinen Vorwurf.
Mach dir keinen Vorwurf.
Du musst dich nicht rechtfertigen, wenn es dir nicht gut geht. Du musst auch keine Erklärungen abgeben, warum du es gerade nicht schaffst, stark zu sein. Du musst nicht das Gefühl haben, falsch zu sein, etwas falsch zu machen, weil du dich nicht so verhälst, wie andere es sich für dich wünschen.
Erwarte nichts von den anderen. Lass dich nicht unter Duck setzen, wenn man dir sagt, wie du dich zu fühlen hast.
Nicht alle verstehen, was du gerade durchmachst.
Nicht alle sind Gefährten, wenn du die dunkle Nacht der Seele durchschreitest.
Und manchmal sind da keine Gefährten und du bist allein.
Warte nicht, hoffe nicht auf ihre Unterstützung und hoffe nicht auf ihr Verständnis.
Du brauchst jemanden, der dich ernst nimmt, der dich so nimmt, wie du grade fühlst. Jemanden, der Verständnis für dich hat, der Geduld mit dir hat.
Hab Verständnis für dich selbst.
Hab Geduld mit dir selbst.
Gib dir genau die Zeit und den Raum, den du brauchst.
Sei dir selbst dein bester Gefährte.
Sei dir bewusst: Dein schlimmste Gegner bist du selbst, wenn du dich ablehnst.

Freitag, 11. Februar 2022

Aus der Praxis - Corona und Traumata - Psyche im Notstand

 



Gestern erhielt ich eine Mail mit der Frage: Was machen Menschen, die ein Trauma erlebt haben und nun noch das ewige Thema Corona und die Isolierung haben?
Ich versuche hier eine Antwort zu geben, hilfreiche Impulse zu geben und Möglichkeiten aufzuzeigen, die Traumatisierten helfen können, besser zurecht zu kommen. Grundsätzlich aber gilt: Allein kann man ein Traumata schlecht bewältigen.
 
Corona mitsamt den Maßnahmen ist für fast alle Menschen eine seelische Herausforderung und eine Belastung, die die Psyche unter Stress setzt. Zeitweiliger Stress ist zu verkraften, Dauerstress allerdings macht krank. Dauerstress schadet unserer Seele, unserem Immunsystem und unserem Geist. Viele Menschen sind dünnhäutiger geworden. Ihre Wahrnehmung ist eingeengt, Affekt- und Impulskontrolle sind schlechter regulierbar, die Selbstwirksamkeitsempfindung, sprich das Gefühl, das eigene Leben im Griff zu haben, leidet.
Viele Menschen klagen über Schlaf-und Essstörungen, depressive Verstimmungen, Ängste und Erschöpfungssymptome, Unter- oder Übererregungszustände und psychosomatische Beschwerden. Krankheitsangst, Angst- und Zwangsstörungen, Süchte und Depressionen können sich verstärken. Hilfe ist schwer zu finden - die Praxen von Therapeuten und Psychiatern sind überlaufen. Die Wartezeit beträgt Monate. 
 
Viele Menschen leiden zunehmend an Isolation und Einsamkeit.
Auch die Normen und Werte haben sich verändert: Äußerer und innerer Rückzug, Kontaktvermeidung anstatt soziales Miteinander sind an der Tagesordnung. Das Social Distancing verhindert Stressregulation durch Bindung und Nähe. Aus Nähe wird Distanz. Aus Empathie, Fürsorge und Nächstenliebe wird Selbstbezogenheit und Egoismus. Aus Respekt und Wertschätzung wird Verurteilung, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Aus Freunden werden verbitterte Gegner, Beziehungen zerbrechen und sogar in Familien kommt es zu Spaltungen. Unser soziales Miteinander zerbröselt. 
 
Diese Krise hat ein hohes traumatisierendes und traumareaktivierendes Potential, individuell und kollektiv.
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma kennzeichnet sich durch ein existenzbedrohliches Ereignis, das ohnmächtig macht, weil man weder fliehen noch kämpfen kann. Trauma führt zu einem überwältigendem Gefühl von Hilflosigkeit, Angst und Entsetzen. Es kommt zu einem grundlegenden Verlust des Nervensystems, Erregungszustände zu regulieren. Trauma ist eine Wunde im Selbst. Es vollzieht sich ein Bruch zu sich selbst, zum Leben und zum Mitmenschen. Entscheidend aber ist nicht das Ereignis selbst, sondern unsere emotionale Reaktion auf das Ereignis.
Bei manchen Traumatisierten kommt es zum Steckenbleiben des Nervensystems auf „Aus“.
Die Folgen sind:
Depressionen, Ängste, Erschöpfung, Rückzug, Selbstisolation, Hilf-und Machtlosigkeit, verringerte emotionale Reaktionen, verringerte Stresstoleranz, tiefe Sorge, Rückzug, Wut, Hilflosigkeit, Überwachheit, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit. Dazu kommen u.U. Dissoziationssymptome wie Benommenheit, Verwirrtheit, Verzerrung der (Selbst-)Wahrnehmung, Gefühl von Isolation, Leere, Apathie, den eigenen Körper schlecht spüren, Hochsensibilität – also vieles, was auch nicht Traumatisierte in dieser Zeit erleben können – nur, dass genau dieses emotionale Erleben bei Traumatisierten zu einer Retraumatisierung führen kann. 
 
Was können diese Menschen tun?
Das Wichtigste ist, den Stress zu regulieren.
Wir wissen, dass Traumata Nachwirkungen haben. Traumatische Erfahrungen verändern die Wahrnehmung und die Orientiertheit im Jetzt, weil sich immer wieder alte Erinnerungen über die Gegenwart schieben. Es kommt durch kleinste Auslöser und Reize, die an das Trauma erinnern, zu Flashbacks, einem zwanghaften Erinnern, dass den Traumatisierten wie in Trance nach hinten zieht. Dies führt dazu, dass das Jetzt und das Damals nicht mehr gut zu unterscheiden sind.
Achtsame Körperwahrnehmung reduziert emotionalen Stress und hat eine Vielzahl positiver Auswirkungen.
Daher ist alles hilfreich, was die Wahrnehmung auf das hier und jetzt lenkt: Atemübungen, Achtsamkeitsübungen, der Body Scan, Progressive Muskelentspannung, aber auch Imaginationsübungen nach Louise Reddemann wie z. B. die Visualisierung und Verankerung im Jetzt mit Hilfe des „Sicheren Inneres Ortes“.
Eine wirksame Notfallmaßnahme ist die Ausatemstopptechnik. Man atmet tief aus und hält dann vor dem nächsten Einatmen die Luft an.
Auch Bewegung jeder Art ist hilfreich.
Es ist sehr wichtig, „geerdet“, also auf die Sinne, den Körper und die Gegenwart bezogen zu sein. Auch dazu gibt es Übungen, welche die meisten Traumatisierten aus der Traumatherapie kennen.
Viele Traumatisierte haben einen Notfallkoffer. An den gilt es sich zu erinnern und ihn zu nutzen.
Um Dinge aus der Vergangenheit oder Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft zu verarbeiten, hilft das Tagebuchschreiben.
Auch Wissen hilft: Nämlich das Wissen um das Stressphänomen als normale Reaktionen auf unnormale Erlebnisse und als Reaktion, der man nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern gegen die man etwas tun kann. In der Traumarbeit nennt man das Psychoedukation.
Während und nach bedrohlichen Ohnmachtserfahrungen fühlt man sich unsicherer und hilfloser, als man es wirklich ist. Man verliert den Blick für den Selbstwert, die Selbstwirksamkeit und den eigenen Handlungsspielraum. Dies gilt es sich zurückzuerobern.
Dazu ist alles hilfreich, was hilft, sich wirksam zu fühlen.
 
Es ist hilfreich zu erkennen und zu verinnerlichen, was man alles schafft.
Sich zu fragen: Wo kann ich sehen, was ich schaffe und sich das bewusst zu machen, am Besten indem man es aufschreibt.
Es ist wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, was man kann.
Traumatischer Stress kann einsam machen. Er beeinträchtigt die Fähigkeit sich in der Gegenwart anderer Menschen sicher, geborgen und wohl zu fühlen. In Corona-Zeiten wird das verstärkt, denn der andere ist ja eine potentielle Gefahr – man kann sich anstecken. Dennoch ist es gerade auch für traumatisierte Menschen wichtig trotzdem in Kontakt zu gehen und zu bleiben. Sicherheit entsteht durch Bindungspersonen.
Verbundenheit zu erfahren ist auch ohne körperlichen Kontakt möglich. Spazierengehen auf Abstand, ein Kaffee draußen, virtueller Kontakt mit Bezugspersonen, all das ist möglich und sollte genutzt werden.
Wer aber alleine nicht mehr klarkommt, sollte sich unbedingt Hilfe suchen. Psychiatrische Ambulanzen haben durchgehend geöffnet. 
 
Wer meine Unterstützung möchte: Ich bin da.
Kontakt: aw@wende-praxis.de
 
Zum Schluss noch ein Buchtipp: "Trauma-Heilung: Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren: Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrung zu transformieren."
Peter Levine

Dienstag, 8. Februar 2022

Aus der Praxis - Eingefrorene Trauer

 


„Ich habe eine Depression“, mit diesen Worten beginnt mein Klient unser Erstgespräch.
„Wie kommen Sie zu dieser Diagnose?“, frage ich ihn.
„Ich habe einen Test im Internet gemacht und die höchste Punktzahl erreicht.“
Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen zu mir kommen und sich selbst pathologisieren. Das ist nicht hilfreich. Aber wir Menschen neigen leider dazu dem Kind einen Namen geben zu wollen. Und manchmal ist Nomen dann Omen.
Solche Tests sind keine ernstzunehmende Diagnose. Überhaupt sollte man das Googlen und die Selbstdiagnosen sein lassen. Die Depression ist eine ernste psychische Erkrankung und die Diagnose gehört in die Hände von Fachleuten, zumal man an einer Depression leiden kann, ohne die klassischen Symptome aufzuweisen. Im Laufe unserer Gespräche stellte sich heraus, dass mein Klient nicht an einer Depression litt, sondern an einer tiefen Trauer und einem großen Herzschmerz nach einer Trennung.
Trauer ist keine Depression, bleibt ein Mensch aber in der Trauer stecken, kann sich daraus eine Depression entwickeln. 
 
Trauer kann uns in eine tiefe Krise stürzen. 
Wie bei der Depression fühlen wir uns aus der Bahn geworfen, wir verlieren die Bodenhaftung, die Welt und unser Inneres werden zu einem leeren Ort, das Leben erscheint uns sinnlos. Wir fühlen uns verlassen, einsam und ohnmächtig. Wir sind antriebslos, haben an nichts mehr Freude, wir sind ständig traurig und gelähmt. Ein großer Schmerz lastet auf der Seele, der uns niederdrückt, deprimiert – wie bei der Depression. Aus dieser Trauer, kann sie nicht verarbeitet werden, wird dann im Zweifel eine reaktive Depression. Im Gegensatz zur endogenen Depression, die ohne erkennbare Ursache, also von innen (endogen), auftritt, hat die reaktive Depression immer Auslöser, die von Außen kommen.
Diese sind u.a.
emotionale Enttäuschung, der Verlust eines Menschen durch Trennung oder Tod, tiefe Kränkung, ein Betrug, emotionale Enttäuschung, unlösbare Beziehungskonflikte, Schicksalsschläge, finanzielle Probleme, Verlust der Arbeit, Isolation, Einsamkeit, Ausgrenzung und vieles mehr, was unser Leben belasten und erschüttern kann. Im Grunde ist die endogene Depression eine „normale“ Reaktion auf „unnormale“ Ereignisse. Wobei es nicht so sehr auf das Ereignis selbst ankommt, sondern wie wir emotional darauf reagieren.
Diese „unnormalen“ Ereignisse können uns, gelingt es uns nicht, uns an die Veränderung anzupassen, in eine Depression stürzen. Nicht jeder Mensch neigt dazu. In den meisten Fällen trifft das belastende Lebensereignis auf Wesensmerkmale, die schon zuvor eine fragile, sensible Persönlichkeit kennzeichnen. Dazu gehören Ängste, die Neigung sich zu sorgen, Hochsensibilität, eine eher pessimistische Grundhaltung dem Leben gegenüber, die Neigung zur Melancholie, Verbitterung, Rückwärtsgewandtheit, Verzerrung der Realität, übergroße Abhängigkeit von anderen, die Neigung sich zu isolieren, Süchte und das dauerhafte Gefühl innerer Einsamkeit. 
Es braucht also mehrere Faktoren um aus der Trauer in eine reaktive Depression zu gleiten. Darum ist es so wichtig achtsam zu sein um die Trauer nicht pathologisch werden zu lassen.
 
Wer in der Trauer stecken bleibt, bei dem wird sie chronisch. Der Schmerz, den sie auslöst wird zu Leiden. Leiden ist nichts anderes als chronisch gewordener Schmerz.
Schmerz hat eine Funktion über die sich viele Menschen nicht bewusst sind – er füllt den leeren Raum, den der Verlust ausgelöst hat. Das ist gesund und normal. Ungesund wird es, wenn wir uns an den Schmerz klammern. Wir klammern uns an das, was nicht mehr ist. Um es nicht loszulassen ersetzen wir das Verlorene durch unseren Schmerz, halten ihn fest und leiden. So sind wir im Leiden noch immer mit dem Verlorenen verbunden. Wir glauben unbewusst, wir könnten das Verlorene auf diese Weise bewahren und bleiben im Leid stecken. Leiden ist der Entschluss nicht mehr weitergehen zu wollen. Leiden will festhalten, es ist nach Außen gekehrt und will das Vergängliche überdauern und ins Ewige überführen.
Im Leiden ist das Leben eingefroren.
Wir sind nicht mehr fähig das Jetzt überhaupt wahrzunehmen, weil das, was gewesen ist und nicht mehr ist, unser Jetzt überlagert. Das kann schwerwiegende Folgen für die Seele haben. Wir entwickeln uns nicht weiter. Wir wachsen nicht an der Trauer, sondern bauen ihr einen Altar, der uns nicht tröstet, sondern als Zeuge für unser Leid fungiert.
Trauer ist ein Verarbeitungsprozess, den jeder Mensch auf seine Weise erlebt und durchlebt und sie braucht Zeit. Wenn wir jedoch merken, dass sie nicht weicht, dass der Prozess des Trauerns sich nicht in irgendeiner Weise verändert, sollten wir wachsam sein und uns professionelle Hilfe holen. 
 

Montag, 7. Februar 2022

Türen

 



Wenn eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andere, sagt man.
Meine Erfahrung sagt, es stimmt. Aber manchmal sind wir nicht bereit oder nicht fähig, diese andere Tür zu sehen. Wir blicken ständig zurück auf das, was hinter der geschlossenen Tür liegt. In dieser Rückwärtsgewandtheit sind wir blind für die Tür, die sich vor uns öffnen will. Oder wir sehen die Tür, die sich öffnen lässt, gar nicht, weil wir eine bestmmte Vorstellung davon haben wie sie aussehen müsste, damit es sich lohnt die Türklinke herunterzudrücken und hindurchzugehen. Da muss etwas Besseres dahinter sein, als das Verlorene, etwas Tröstliches, Schönes, Glücklichmachendes. 
 
Wir können uns nicht vorstellen, dass hinter dieser Tür vielleicht etwas auf uns wartet, das uns weiterbringt, ganz gleich wie es aussieht. Velleicht ist es nicht schön, vielleicht ist es nicht der nächste Geliebte, der auf uns wartet, nachdem wir eine Liebe verloren haben. Vielleicht ist es nicht der tolle neue Job, den wir erhoffen. Vielleicht ist es die Erfahrung des Alleinseins, der Einsamkeit, der Trauer, der Selbsterfahrung. Vielleicht ist es eine Aufgabe, gegen die wir uns immer wieder gesträubt haben, weil wir dachten, wir schaffen das nicht.
Auch wenn hinter der Tür, die sich öffnen will, Schweres liegt, es ist eine Tür, die uns sagt: Es gibt kein Zurück. Die alte ist für immer verschlossen. Der Weg geht nur nach vorne. Aber solange wir die Tür nicht öffnen, werden wir den Weg nicht weitergehen können.

Dienstag, 1. Februar 2022

Denk einfach positiv!

 



Ist doch alles gar nicht so schlimm.
Steigere dich nicht so hinein.
Mach kein Drama draus.
Du musst keine Angst haben.
Denk einfach positiv!
Diese Sätze hat jeder von uns schon einmal gehört.
Sie sind meist gut gemeint, in den meisten Fällen aber einfach so dahin gesagt. Hilfreich sind sie in den meisten Fällen nicht.
Wenn ich etwas als schlimm empfinde, empfinde ich es so.
Wenn ich mich hineinsteigere, passiert das.
Wenn ich ein Drama draus mache, empfinde ich es als Drama.
Wenn ich Angst habe, hat das einen Grund.
Mit diesen Gefühlen wünsche ich mir ernst genommen zu werden. 
 
Positive Kleinreden- und Wegwischsätze führen nur dazu, dass sich der, der sich gerade nicht gut fühlt, noch mieser fühlt.Positivität vermittelt dem, der gerade nicht positiv drauf ist, den Eindruck, dass seine Gefühle nicht berechtigt sind. Positivität kommt meist von Leuten, die sich mit dem, was der andere fühlt, nicht befassen wollen. Der andere fühlt sich danach noch schlechter als vorher, weil er es nicht auf die Reihe bekommt, positiv zu denken. 
 
Man kann es mit allem übertreiben, auch mit dem positiven Denken. Bei manchen Menschen geht das so weit, dass Positivität wie ein Zwang verfolgt wird. Bloß keine negativen Gefühle zulassen. Und falls sie doch einmal hochkriechen wird positiv affimiert und verdrängt, Hauptsache es kommt nichts in den Denkapparat, was einen runter ziehen könnte. Das Leben ist schön und miese Gefühle dürfen darin keinen Platz haben. 
 
Nichts gegen eine positive Einstellung zum Leben. Wer eine positive Lebenseinstellung hat, lebt gesünder, meistert Krisen besser und wird seltener depressiv. Wenn aber unangenehme Gefühle keinen Platz im Leben haben dürfen, kann Positivität ein Gift werden. Man nennt diese Abwehrreaktion „toxische Positivität“. Ihr Merkmal ist der ausschließliche Fokus auf das Positive, während unangenehme Gefühle bei sich selbst und bei anderen ausgeblendet werden.
Das hat Folgen.
Wer alles was negativ ist, verdrängt wird gefühlstaub, seinen eigenen Emotionen und den Emotionen anderen gegenüber. Er spaltet sich von seiner Gefühlswelt ab und entfernt er sich von seinem tatsächlichen Erleben. Er lebt in einer Blase, die ihn von sich selbst entfremdet und damit emotional auch von seinen Mitmenschen. Sein Gefühlsspektrum wird einseitig. Wer die Emotionen des anderen wegwischt und ausblendet, nimmt seinen Nächsten nicht mehr als ganzen Menschen wahr. Er kann ihn in seiner Gefühlsskala nicht mehr begreifen und nicht verstehen. 
 
Echte Verbundenheit mit uns selbst und anderen aber bedeutet: Die vollständiger Annahme, so wie es jetzt gerade ist, mit dem was emotional gerade ist. Gefühle haben ihre Berechtigung, denn sie sind der Seismograph unserer Seele. Und sie dürfen sein, alle, auch die unangenehmen.  Sätze wie die Oben im Text, helfen nicht, wenn es jemand nicht gut geht. Was hilft ist, den anderen ernst zu nehmen, ihm zuzuhören und einfach da zu sein. Das gilt auch für uns selbst, wenn es uns emotional nicht gut geht. Es entlastet die Seele, wenn wir uns erlauben negative Emotionen zu fühlen und wenn sie ausgesprochen werden dürfen.