"Oft genug habe ich im Lauf meines Lebens getan, wofür ich mich nicht entschieden hatte, und nicht getan, wofür ich mich entschieden hatte. Es, was immer es sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will, macht gegenüber dem Vorgesetzten die Bemerkung, mit der ich mich um Kopf und Kragen rede, raucht weiter, obwohl ich mich entschlossen habe, das Rauchen aufzugeben, und gibt das Rauchen auf, nachdem ich eingesehen habe, dass ich Raucher bin und bleiben werde. Ich meine nicht, dass Denken und Entscheiden keinen Einfluss auf das Handeln hätten. Aber das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht und entschieden wurde. Es hat seine eigene Quelle. Das Schreibt Bernhard Schlink in „Der Vorleser“
Was Schlink hier beschreibt kennen wir alle.
Wir haben eine Entscheidung getroffen, wir haben eine Absicht, wir haben einen Willen und wir handeln dagegen.
„Es“ handelt dagegen.
»Es« nennt Schlinks Erzähler das Unbestimmbare. In der Psychologie spricht man vom Unbewussten – das, was uns zu über neunzig Prozent beeinflusst und steuert, trotz des Verstandes, trotz besseren Wissens, trotz Wollen und trotz der Gedanken, die wir denken sollten und/oder wollen.
Unsere Gedanken erschaffen unsere Gefühle?
Das stimmt nur begrenzt. Wir können mit unseren Gedanken unsere Gefühle wahrnehmen, beobachten und sie beeinflussen, aber wir können sie nicht wegdenken und schon gar nicht wegfühlen.
Unser Gehirn ist ein hochkomplexes Organ, vollgepackt mit Erinnerungen, voll gepackt mit Erfahrungen, mit Prägungen, mit Überzeugungen, Wahrnehmungen, Gedanken und eben auch mit Gefühlen. Es speichert alles. Unsere Erfahrungen, die wiederum mit den dazugehörenden Gefühlen verknüpft sind, unsere unterbewussten Überzeugungen und Verhaltensmuster bleiben erhalten, unsere Traumata bleiben erhalten, wir können nur mit der Ratio versuchen sie zu zähmen um so damit zu leben, dass es zu unserem Besten ist. Und das geht eben nur begrenzt.
Das limbische System färbt jede Absicht, jedes Wollen, jeden Gedanken mit Emotionen. Ständig sendet es Botenstoffe als Informationen zu den bewussten Teilen des Gehirns, färbt sie mit Emotionen ein und beeinflusst so unser bewusstes Denken.
Die Hirnforschung und die Neurologie haben längst bewiesen, dass Gefühle und Gedanken untrennbar miteinander verbunden sind. Was bedeutet: Unser bewusstes Denken geht nicht so weit, dass es uns gelingt emotional ungefärbte Entscheidungen zu treffen. Also nicht unsere Gedanken erschaffen unsere Gefühle, es ist beides: Gedanken und Gefühle sind untrennbar miteinander verbunden.
Ein Beispiel: Immer wenn sich mein Klient in einem engen Raum befindet, steigt ein beklemmendes Gefühl in ihm hoch, das sich bis zur Panikattacke steigert. Im Kopf weiß er genau, dass es keinen Grund für seine Angst gibt. Sie ist absolut unangemessen. Er weiß auch, woher seine Angst kommt, er kennt die Ursache, die in seiner Kindheit liegt, er wurde zur Strafe in die Besenkammer gesperrt. Er weiß auch, dass er den Raum jederzeit verlassen kann, wenn er das will. Trotzdem kriecht die Angst nach Oben. Er kann das Gefühl mit seinen Gedanken nicht „wegdenken“.
Warum?
Weil die alte Angst in seinem ganzen System, also auch im Körper gespeichert ist. Fühlt mein Klient die Enge, kommt die alte Angst ins Jetzt und überflutet sein System. Da hilft ihm der willentlich und bewusst gedachte Gedanke: „Ich kann jetzt hier raus. Ich bin kein hilfloses Kind mehr“, zunächst gar nichts. Erst nach vielen Expositionsübungen kann es gelingen diese Angst in den Griff zu bekommen. Und zwar nicht über den Gedanken: Ich kann hier raus, sondern über die „gefühlte“ Erfahrung: Ich kann raus, mir passiert nichts.
In seinem Buch „Illusion des bewussten Willens“, auf der Basis der neuesten Forschung der Kognitionswissenschaften und Neurophysiologie, befasst sich der Harvard-Psychologe Daniel M. Wegner mit der Verknüpfung von Gedanken, Gefühlen und bewusstem Willen. Er kommt zu dem Schluss: „Jedem von uns erscheint es so, als ob wir bewussten Willen besäßen. Es scheint, wir hätten ein Selbst. Es scheint, wir hätten Verstand. Es scheint wir seien Handelnde. Es scheint, wir bewirkten, was wir tun. Obwohl es ernüchternd, aber letztlich korrekt ist, das ist eine Illusion zu nennen.“
Heißt das jetzt, wir sind auf Gedeih und Verderb unseren Gefühlen ausgeliefert?
Nein, heißt es nicht. Es bedeutet aber: "Unsere Gedanken bestimmen unsere Gefühle", ist schlicht und einfach zu einfach gedacht.
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