Sonntag, 12. Juni 2022

Weiß

 


Sonntagmorgen. Ich sitze im meinem Bett, in den weißen Laken, die nach Reinheit duften. Ein Duft, den ich liebe, weil er meiner Sehnsucht den Namen gibt: Mutter. Mutter, die weiße Laken liebte, die jeden Samstag die Betten frisch bezog und mich zu sich rief an mein Kinderbett: "Riech mal, wie sauber sie duften. Die Mutter, die mich verstoßen hat. Ich begreife es nicht, bis heute begreife ich es nicht. Dabei müsste ich längst begriffen haben, seit dem Tag an dem wir mit dem Hund über das blühende Weizenfeld liefen und sie zu mir sagte: "Kind, ich konnte dich nicht lieben." Keine Erklärung warum, kein: Es tut mir leid, das meine Fassungslosigkeit in etwas hätte verwandeln können, das mir Hoffnung hätte geben können. Nur dieses: Ich konnte nicht. Es ist wie es ist, denke ich, weil kein anderes Denken einen Sinn macht. Es ist wie es ist. Aber es nimmt mir den Schmerz nicht. Ich vermisse meine Mutter.

Ich vermisse die Liebe , die ich bis heute suche, in all der Unliebe, die sie mir nannte  und die ich erfahren habe, immer wieder in meiner endlosen Suche. Heute weiß ich, dass ich diese Liebe in keinem anderen finden kann. Ich suche sie in mir selbst, für mich selbst. An guten Tagen finde ich sie. Längst bin ich selbst Mutter. Ich liebe mein Kind, fasse bis heute nicht, wie ein Mensch sein Kind nicht lieben kann, wo ich doch weiß, dass es möglich ist, weil es meine Geschichte ist. Eine Geschichte von so vielen Geschichten, die hörte und höre vom Ungeliebtsein der Kinder, die längst erwachsen sind und suchen. Mein Wissen um die Möglichkeit der Unliebe tröstet mich an diesem Morgen nicht. Es wird mich auch morgen nicht trösten, wenn der neue Tag anbricht. In dieser Sache bleibe ich untröstlich. Es ist wie es ist.

Wie sie wohl lebt, frage ich mich, was sie wohl gerade macht, allein jetzt, nach dem Tod meines Vaters. Sie spricht nicht mehr mit mir. Ich kann sie nicht fragen. Und nicht einen Moment ist der Gedanke in mir sie könnte mich ebenso vermissen wie ich sie. Was, wenn sie stirbt? Ich werde ihren Tod nicht begreifen. Wie kann ich einen Tod begreifen, der längst im Leben stattfand?

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