Mittwoch, 28. August 2019

Es darf nicht heilen


Foto: Alexander Szugger

Immer wieder erlebe ich in der Praxis Menschen, die man in der Psychologie als Therapeutenkiller bezeichnet. Die Therapie fungiert hier als Ersatz für all das, was die Betroffenen im Leben nicht finden können: stabile Beziehungen, Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Zuwendung. Wenn diese Menschen in der Praxis auftauchen, berichten sie meist davon wie viele Therapeuten, Klinikaufenthalte und Berater sie schon aufgesucht haben, die ihnen alle nicht helfen konnten. Seltsamerweise sind sie aber durchaus arbeitsfähig, manche sogar erfolgreich im Beruf und zeigen meist narzisstische Züge.  

Es sind Menschen die schwere Probleme haben unter denen ihr Leben auf allen Ebenen leidet, die aber keine Veränderung schaffen. Fragt man sie, ob ihnen eine Therapie bisher helfen konnte, kommt ein: Nein, überhaupt nicht, oder: Die haben alle keine Ahnung. Das ist der Moment in dem ich erst einmal tief durchatme, weil ich weiß was kommt.
Im Lauf des Coachings zeigt sich schnell, ganz gleich was ich frage, was ich sage, was ich tue, ganz gleich was ich anbiete, egal welche Übungen ich vorschlage - der Klient lehnt innerlich alles ab. Er bleibt seinem Gedankengebäude, seinem Gefühlshaus, seinen Überzeugungen und Handlungsmustern treu. Er kommt um zu klagen.

Klagende (den Begriff verwende ich hier nicht despektierlich), sind sehr gut in der Lage, ihr Problem ausführlich zu beschreiben. Manche sind sogar ausgesprochene Spezialisten auf dem Gebiet ihres Problems.  
Manche haben sich selbst eine psychologische Diagnose gegeben oder beharren fest auf der Diagnose eines anerkannten Spezialisten. Das Problem des Klagenden ist, er sieht sich selbst nicht zwingend als einen Teil der Lösung sondern fühlt sich als Opfer. Er ist der festen Überzeugung, dass die Lösung seines Problems von außen kommen muss oder glaubt, dass jemand anderes sich ändern muss, damit es ihm besser geht. Aus dieser Opferrolle heraus kann der Mensch natürlich nicht handeln und sich nicht wandeln.

In der Arbeit mit Klagenden kommt oft das Gefühl auf, dass wir uns Sitzung für Sitzung im Kreise drehen. Immer wieder wird das Problem von allen Seiten beleuchtet und beschrieben. Es kommt zu unproduktiven endlosen Wiederholungsschleifen, die anstatt etwas zum Besseren zu wenden nur dazu führen, dass das Problem sich weiter aufrecht erhält oder gar negativ verstärkt. 


Wo ist das grundlegende Problem?
Diese Menschen wollen unbewusst keine Veränderung. Sie brauchen vielmehr einen Zuhörer und die wiederholte Würdigung ihrer gefühlt ausweglosen Lage. Sie fordern immer wieder Verständnis dafür ein, dass sie ihr Problem nicht lösen können, weil es so furchtbar schwer ist und sie nicht die Kraft haben.

Der Klagende will klagen. Er hat keinen Impuls etwas zu tun, um seine Situation konstruktiv zum Besseren zu verändern. Ihm fehlt die innere Bereitschaft und Einsicht. So kann er natürlich keine Eigeninitiative ergreifen und handlungsfähig werden.
Die Arbeit mit einem Klagenden ist eine Herausforderung. Es ist eine Sysiphosarbeit diesen Menschen aus seiner Opferrolle herauszuholen, in der er sich über Jahrzehnte eingerichtet hat. 
Man braucht eine Engelsgeduld und viel Empathie. Es fühlt sich an als sitzt der Mensch in einem Käfig und hält die Tür mit aller Macht von Innen zu.

Was geht im Klagenden vor?
Diese Menschen tragen ein mächtiges Inneres Kind in sich. 
Dieses Kind hat nur ein minimales Repertoire an Bewältigunsgmechanismen zur Verfügung. 
Der erwachsene Anteil ist so identifiziert mit der erlernten Hilflosigkeit des Inneren Kindes, dass er sich dessen nicht einmal bewusst ist.
Im Coaching trifft dieses Kind nun auf die "gute" Mutter, die es erlösen soll.
Und zwar indem sie ihm das gibt, was das Kind nicht bekommen hat: Aufmerksamkeit, Verstehen, Annahme und Würdigung seines Leides, seiner Angst, seiner Ohnmacht, seiner Verzweiflung.
Dazu ist das Leid gut. Das ist der Sinn der Klage. Das ist der sekundäre Krankheitsgewinn, der Gewinn, den ein körperlich oder seelisch kranker Mensch durch ein bestimmtes Symptom erfährt, durch das auf irgendeiner Ebene - seelisch, geistig oder körperlich eine Befriedigung entsteht. Beim Klagenden ist der Gewinn, dass er emotional versorgt wird.

Es darf nicht heilen, denn würde es heilen - so die unbewusste Überzeugung - bin ich verloren.
Die alte Angst des verlassenen Kindes hat die Macht und den Erwachsenen im Griff. Die alte Angst, das vernichtende Gefühl alleine und hilflos auf sich selbst gestellt zu sein und so unterzugehen, macht Todesangst. Die Verantwortung zu übernehmen, erwachsen zu werden ist die Terra Incognita und somit die ultimative Bedrohung.

Das Klagen ist die "Waffe", die eingesetzt wird um diese Bedrohung abzuwehren und das zu bekommen was man so nötig braucht: Zuwendung. Diese Waffe darf um keinen Preis zur Seite gelegt werden, denn aufgrund der nicht gelernten Bewältigungsmechanismen ist keine Alternative vorstellbar. 

Aber es gibt eine Alternative. 
Die Alternative heißt: Eigenverantwortung lernen.  
Und genau das darf dieser Mensch tun. Das ist seine Aufgabe.
Wenn der Klagende beginnt Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, kann es gelingen nach und nach aus der Opferrolle auszusteigen. Es ist ein langer schmerzhafter Weg, der viele verdrängte Gefühle nach oben bringt, die es gilt aushalten zu lernen. Dieser Weg beginnt damit zu verstehen, dass kein anderer etwas für uns tun kann, was wir nur selbst erledigen können. Ich kann meinen Klienten beistehen, aber tun was notwendig ist um heiler zu werden, müssen sie selbst. Sie dürfen lernen was es heißt ihre Werkzeuge, die wir gemeinsam finden, zu benutzen und zwar jeden einzelnen Tag. Einen Menschen, der nicht heilen darf, weil sein inneres Kind es nicht zulassen kann, auf seinem Weg zu begleiten ist eine Übung in Geduld und Langmut, für beide, Klient und Coach. Und er setzt den unbedingten Willen des Klienten voraus seiner existenziellen Angst ins Gesicht zu sehen und sich ihr zu stellen.  Der Weg lohnt sich, denn die Alternative ist eine lebenslange Abhängigkeit von anderen, um zu überleben.





 


2 Kommentare:

  1. Liebe Angelika Wende,
    seit Tagen schmökere ich mich durch Ihren wundervollen Blog. Lache, weine, werde still und ehrfürchtig, spüre die Scham "Mist, ertappt!" und von vorn. Es ist, als würden Sie mir von der Seele schreiben. Mein eigener Prozess läuft und schreitet voran. Babyschrittchen sind ja immerhin auch Schritte. Dass ich diesen Artikel für mein Kommentar wähle, tut eigentlich nichts zur Sache. Nun ja, ein bisserl schon, doch das bleibt geheim. Jedenfalls 1000x DANKE und duftenden Lotos für Ihre Arbeit, diese unzähligen klaren Worte! Meine Verehrung!
    Katja L.

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