Foto: A.Wende
Wie viel Trauer ist zu viel? Wann ist Trauer eine Krankheit?
Diese Fragen stellte mir gestern ein Klient, der nach dem Verlust seiner Frau, nach zwei Jahren noch immer trauert.
2019 beschließt Weltgesundheitsorganisation die sogenannte „anhaltende Trauerstörung“, als Pathologie in den internationalen Katalog klassifizierter Krankheiten, kurz ICD, aufzunehmen. Die anhaltente Trauer gilt seitdem als eine offiziell anerkannte Krankheit. Diese kennzeichnet sich durch: Eine Funktionseinschränkung im Alltag, ein starkes Verlangen nach dem Verstorbenen, eine anhaltende Beschäftigung mit dem Verstorbenen und starkem emotionalem Schmerz und das über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr.
Ein Jahr Trauer also ist normal. Wer länger trauert ist krank.
Trauer ist ein emotionaler Zustand.
Die Trauer hat uns, nicht wir haben sie.
Und manchmal verlässt sie uns nicht nach zwölf Monaten.
Sind wir deshalb krank?
Trauer ist eine normale Reaktion auf einen Verlust.
Das muss nicht allein der Tod eines geliebten Menschen sein, das kann der Verlust durch eine Trennung sein, der Verlust unserer Gesundheit, unserer Heimat, einer Arbeit, die wir geliebt haben, der Verlust unserer Träume unserer alten Identität oder des Lebenssinns. Jeder Verlust zieht Trauer nach sich.
Trauer, ein Zustand, der unser Leben in eine graue Wolke hüllt, der schmerzt, der Sehnsucht in sich trägt, der wütend machen kann, der uns trennt vom normalen Lebensgefühl.
Trauer tut weh und das genau so lang wie es braucht um sie zu bewältigen. Dazu gesteht man uns ein Trauerjahr zu, alles was darüber hinaus geht, ist krank. Wieder wird menschliches Sein und Fühlen verallgemeinert. Werden Diagnosen vergeben.
Ich sehe das anders.
Trauer braucht Zeit, sie braucht genau die Zeit, die sie braucht.
Sie richtet sich nicht nach dem Ticken der Uhr: Und jetzt ist ein Jahr um und wir müssen unsere Trauer bewältigt haben.
Müssen wir das?
Müssen wir nicht, weil es für Gefühle kein Muss gibt, zumindest nicht geben sollte. Trauernde Menschen sollten nicht pathalogisiert und als krank diagnostiziert werden, das hilft ihnen nichts.
Trauer ist ein tiefes individuelles existenzielles Erleben ihre Bewältigung ist ein tiefer individueller Prozess. Das Existenzielle was wir in der Trauer erleben, geht tief rein und in jede Seele anders tief. Sie ist, wie das Trauma, nicht abhängig davon, was uns geschieht, sondern wie wir auf das antworten, was geschieht. Jeder Mensch antwortet anders.
Jeder Mensch braucht seine eigene Zeit um seine Trauer zu bewältigen.
Bei einer Trennung beispielsweise sagt man: Die Verarbeitung dauert in etwa die Hälfte der Zeit, die wir mit einem Menschen gelebt und geliebt haben. Bei der Trauer um einen Verstorbenen gilt mehr als ein Jahr als krankhaft und als Störung.
Störung ist das, was stört, das, was störenden Einfluss auf das Normale hat.
Aber was ist das „Normale“?
Normal ist das, worauf sich viele einigen.
Wer nicht nach diesen Einigungen funktioniert, ist nicht normal.
Das ist übrigens nicht nur bei der Trauerverarbeitung so.
Es ist vollkommen egal was normal ist und was nicht – es ist unsere Trauer und wir allein müssen da durch, sie verarbeiten und damit leben lernen auf unsere ureigene Weise.
Es gibt keine Norm für Trauer.
Trauer ist etwas absolut Lebendiges. Was sie so schmerzhaft macht ist auch der Blick zurück auf das, was einmal war und verloren ist und nie mehr sein wird. Dieses "nie mehr," tut weh und quält. Die Ohnmacht nichts tun zu können, außer auszuhalten, was unveränderbar ist.
Und das sollen wir nach einem Jahr loslassen, es sein lassen? Wir Menschen, denen Loslassen, ganz gleich was es ist, so schwerfällt. Nein, darin sind wir keine Meister. Loslassen ist ein Prozess, der dauert, und manchmal dauert er eine gefühlte und gelebte Ewigkeit.
Ja, Heilung ist auch Akzeptieren und Loslassen. Heilung ist auch das, was in uns verwundet und wund ist, zu integrieren. Es schließlich zu akzeptieren als einen Teil unserer Ganzheit und unserer Lebenspur. Erst kommt die Akzeptanz und dann das Loslassen.
Alle Interventionen in der anhaltenden Trauerstörung beziehen sich auf die Verarbeitung der Vergangenheit. Was Sinn macht, denn der Blick zurück legt den Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Verlust mit dem Ziel eines endgültigen Abschieds.
Wir fallen aus dem Jetzt.
Irgendwann soll das aufhören. Nach einem Jahr wie gesagt. Nach all den Jahren und Jahrzehnten gemeinsamen Lebens - ein Jahr?
In diesem Jahr geht es für Trauernde nicht nur um die Verarbeitung ihrer Trauer, es geht auch um die Bewältigung der Gegenwart mit der Trauer. Es geht um den Umgang mit dem plötzlichen Alleinsein, der Einsamkeit weil die tiefe Verbindung zum geliebten Menschen fehlt und nicht ersetzbar ist. Es geht vielleicht auch um das dem Aufrechterhalten der monitären Existenz. Es geht um das Funktionieren und Dasein für die Familie und für das eigene Selbst. Da ist so viel was ein Verlust erschüttert und wegreißt und was zu bewältigen ist. So viel, was neu gelernt werden muss, so viel woran sich ein trauernder Mensch anpassen und neu lernen muss. Zu viel um es in einem Jahr zu schaffen. Es in diesem Zeitrahmen nicht zu schaffen, ist nicht krank, es ist Leben, nach dem Leben, das es zuvor gab, ein anderes Leben, das genau die Zeit braucht, die es braucht, um es neu zu gestalten.
Schaffen wir das alleine nicht, dürfen wir uns Hilfe holen.
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