Donnerstag, 14. Dezember 2023

Aus der Praxis: Sich der Wahrheit stellen

 



Um zu heilen, was für mich nichts anderes bedeutet als ganz zu werden und sich selbst zu finden, müssen wir uns zuerst einmal der Wahrheit stellen. Sich der Wahrheit stellen tut weh. Wir Menschen wollen Schmerz vermeiden. Das ist ganz natürlich, wer will schon Schmerz fühlen? Und dann noch freiwillig? Und dann vielleicht einen Schmerz, der unser Lebenskonstrukt ins Wanken bringt.
Ich habe in all den Jahren meiner Arbeit noch nie einen Menschen erlebt, der das freiwillig getan hat. Meistens braucht es eine massive Krise, einen schweren Verlust oder eine schwere Krankheit damit Menschen dazu bereit sind. Erst wenn das Leid groß genug ist, wenn alle Abwehrmechanismen und Verdrängungen nicht mehr funktionieren, sind Menschen bereit der Wahrheit ins Gesicht zu schauen.
Wenn ich von Wahrheit spreche meine ich nicht irgendeine spirituelle oder allgemeingültigen Wahrheit, ich meine die Wahrheit darüber wie die Dinge in unserem Leben wirklich sind und diese anzuerkennen.
 
Diese Wahrheit finden wir nicht über den Verstand.
Wir finden sie im Herzen. Unser Herz weiß sehr gut was wahr ist und was nicht. Es fühlt, wo wir uns etwas vormachen, wo wir uns selbst und andere belügen, wo wir etwas gerade biegen was schief ist oder etwas schön reden was unschön ist.
Wenn wir zum Beispiel in einer Beziehung sind, die sich nicht gut anfühlt, aber uns einreden, sie kann besser werden, der andere kann uns irgendwann besser verstehen, besser behandeln, besser lieben, wenn wir nur lange genug bei der Stange bleiben und aushalten, was schon längst nicht mehr aushaltbar ist, wenn wir uns uns selbst verleugnen, obwohl wir tief innen wissen, dass Selbstverleugnung niemals Liebe ist, sondern Abhängigkeit. Oder wenn wir einen Job machen, der uns krank macht, den wir aber weiter machen aus Angst, nichts Besseres zu finden oder uns nicht zutrauen, dass wir Besseres verdient haben. Oder wir bewegen uns kaum, essen, rauchen und trinken Alkohol mehr als uns gut tut. Wir vergiften unseren Körper und machen weiter, weil wir nicht auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung verzichten wollen. Unser Herz weiß, dass wir nach etwas ganz anderem dürsten oder hungern. Aber wir hören nicht auf unser Herz, das uns mahnt: Pass auf, du machst uns krank! 
 
Das Herz weiß, weil es fühlt. Es fühlt die Wahrheit und wir ignorieren sie. Wir leben gegen uns selbst und unser inneres Wissen. Wir leben in der Selbstentfremdung.
Der Verstand findet immer Ausreden und Argumente um weiter zu machen wie bisher. Er redet klein, was groß ist, nur damit wir uns der Wahrheit nicht stellen müssen.
Alles weil wir den Schmerz nicht fühlen wollen oder beim alten Schmerz bleiben wollen, den kennen wir ja. An den sind wir gewöhnt. Wir machen weiter, weil wir den großen Schmerz nicht spüren wollen oder den Verzicht fürchten auf all das, was uns betäubt, was das Unerträgliche erträglicher und das Schwere scheinbar leichter macht.
 
Der Weg zur Heilung aber geht durch den großen Schmerz. Und das bedeutet, dass wir uns mutig uns selbst stellen und Verantwortung übernehmen. Es bedeutet Bereitschaft den Weg zur Wahrheit zu gehen, auch wenn wir eine Zeit lang das Gefühl haben wir gehen durch unsere persönliche Hölle.
Und ja, darin ist es verdammt ungemütlich.
Da ist Angst, da ist Trauer, da ist Wut, da ist Verzweiflung, da ist Einsamkeit, das ist Leere. Um uns herum brennt ein Höllenfeuer. Ich kenne diese Hölle. Ich bin mehr als einmal durchgegangen. Wenn wir durch diese Hölle gehen gibt es nur eins: Du gehst weiter, immer weiter, bis du zum Ausgang kommst. Und du bist nicht verbrannt, du bist gewachsen. Du bist innerlich stärker geworden. Du bist ganz nah bei dir selbst angekommen.
Du bist wahrhaftiger geworden.
Und du fühlst es.
Viele machen sich auf den Weg und machen dann mittendrin kehrt. Sie gehen zurück in die toxische Beziehung oder sie machen immer öfter krank um kurz aufzuatmen und den gehassten Job weiter aushalten zu können. Oder sie trinken und essen weiter, über die Maßen, bis das Herz nicht mehr mitmacht und einen Infarkt bekommt. 
 
Jede Rückkehr, jede Verleugnung dessen, was ist, bedeutet, dass wir das Leid verlängern und es potenzieren. Irgendwann sind wir dann an dem Punkt an dem nichts mehr geht. Tiefpunkt.
Wir gleiten in eine Depression oder in den Burnout. Wir bekommen Panikattacken oder eine Krankheit. Dann können wir der Wahrheit nicht mehr ausweichen.
Die Bereitschaft uns der eigenen Wahrheit zu stellen bedeutet, sich der nicht berechenbaren Konsequenzen, die sie haben kann, zu stellen, sie in Kauf zu nehmen und bereit zu sein eine Entscheidung zu treffen, die sich im Herzen richtig anfühlt, auch wenn sie schmerzt. Der Preis ist hoch, aber der Preis, den wir zahlen, wenn wir die Wahrheit, die uns heilt, weiter verleugnen, ist weitaus höher.
Wer den Schmerz vermeiden will, wird noch mehr Schmerz erleiden. „Die Wahrheit ist eine unzerstörbare Pflanze. Man kann sie ruhig unter einem Felsen vergraben, sie stößt sich trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist“. Das Zitat von Frank Thiess bringt es auf den Punkt.

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