Sonntag, 27. März 2022

Wofür?

 



Manchmal gelingt es uns nicht Abstand zu uns selbst zu nehmen. Wir sind verstrickt in unheilsame Gedanken. Wir stehen schon am Morgen auf und beginnen zu grübeln. Wir sind so gefangen in unguten Gefühlen, dass sie selbst den sonnigsten Morgen grau tönen. Wir sitzen vor unserem Kaffee und sind einfach nur traurig. Traurig, dass wir verstrickt sind, dass wir unsere Probleme nicht lösen können, traurig, dass wir so viel Angst haben vor dem Unguten was ist und was noch kommen kann, traurig, dass unser Leben nicht das ist, das wir uns wünschen, traurig, dass wir nicht glücklich sind, traurig, dass die Einsamkeit kein Ende nimmt oder eine Krankheit uns quält. Am Liebsten würden wir wieder zurück ins Bett gehen und uns die Decke über den Kopf ziehen. „Das wird ja doch nichts. Egal was ich mache, es ändert sich nichts. Wofür lebe ich eigentlich noch?"
Das ist oft der resignierte Gedanke, der am Ende der Grübeleien unser Fazit ist.
Wofür?
Diese Frage kann uns niederschmettern, wenn wir keine Antwort finden. Die Antwortlosigkeit kann uns lähmen. Sie kann dazu führen, dass wir nur noch das Nötigste tun, unsere Pflichten erfüllen und funktionieren wie ein Roboter. Und insgeheim wünschen wir uns, dass jemand den Ausschalter drückt, damit das alles endlich aufhört.
Wir sind müde, lebensmüde.
Müde vom Kämpfen, müde vom Hoffen, müde von der Angst und müde von uns selbst, müde von den anderen, müde vom den schlimmen Zustand der Welt und müde vom Leben.
Dauert dieser Zustand zu lange an, kann er dazu führen, dass wir keinen Sinn mehr sehen. Und dann hören wir auf für uns zu sorgen. Wir geben auf und zwar uns selbst.
Wir gleiten langsam aber sicher in eine Depression. Wir haben ja kein „Wofür“ mehr. 
 
Ich kenne das Gefühl, wenn dieses „Wofür“ sich groß und mächtig aufbaut. Ich habe in den letzten zwei Jahren viel verloren, was mir wichtig und wertvoll war. Ich habe Erschütterungen erlebt, ich bin belogen und betrogen worden. Ich musste ohnmächtig dabei zusehen wie ein geliebter Mensch sich selbst zerstört und mit sich, Teile meines Lebens. Ich musste erfahren, dass Liebe nicht alles heilt und auch nicht jeden retten kann. Menschen haben sich von mir abgewandt, weil ich mir erlaube eine eigene Haltung und Werte zu haben und danach lebe. Ich wurde ausgegrenzt und mein Lebensradius war so eng, dass ich mich wie in einem Ghetto gefühlt habe, dass man um mich herum gebaut hat.
Ich habe weiter meine Arbeit gemacht und Menschen unterstützt, denen es nicht gut ging. Ich habe jeden Tag mein Bestes gegeben. Dennoch habe ich mich jeden Morgen gefragt: Wofür?
Und immer wieder habe ich es gefunden. Manchmal war es schwer, manchmal leichter.
Ich stehe auf, ich mache weiter, weil ich das Leben liebe. Dafür.
Weil es Menschen gibt, die ich liebe und die mich lieben. Dafür.
Weil ich einen wunderbaren Sohn habe. Dafür.
Weil ich Menschenliebe empfinde, denen gegenüber, die es schwer haben und weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn da keiner ist, der da ist, wenn uns Schweres belastet. Weil ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, diesen Menschen zu helfen und weil ich es kann. Dafür.
Weil ich mich an kleinen Dingen freue. Dafür.
Weil ich dankbar bin, so viel Kreativität zu besitzen, dass ich immer eine Lösung finde, für mich selbst und mit denen, die sich mir anvertrauen. Das ist eine Gabe, die nicht mein Verdienst ist. Dafür.
 
Warum ich Euch das heute erzähle?
Weil ich in letzter Zeit viele lebensmüde Klienten habe, die nach dem „Wofür“ fragen, und weil jemand von Euch da draußen vielleicht auch so müde ist und keinen hat, der ihm hilft diese existentielle Frage zu beantworten, wenn er keine Antwort in sich selbst findet. Es gibt immer ein Wofür, wenn wir bereit sind, es finden wollen, solange wir leben. Egal wie schwer es ist.
Für mich liegt dieses „Wofür“ in uns selbst. In unserem Sein, das uns geschenkt wurde.
Es ist all das, was wir sind, was wir können und was uns ausmacht, selbst in den dunklen Stunden.
Es ist das Leben selbst.
Es ist dieses Wunder lebendig zu sein.
Und solange wir am Leben sind, haben wir Möglichkeiten. Auch wenn sie noch so begrenzt sind. Sie sind da.
Wofür?
Damit wir sie finden.
Dafür. 
 

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