Dienstag, 22. November 2011

Unveränderbar




der mensch ändert sich nicht, niemals, sagte der vater und zog genüsslich an seiner havanna. josh war anderer ansicht. dass der wille alles möglich mache, daran glaubte er. er mochte dieses starre "niemals denken", das sein vater vehement vertrat, nicht.

ich weiß, lächelte der vater, dieses niemals, dieses alles ausschließende niemals, der endgültigkeit entsprechend, die unveränderbarkeit eines istzustandes – der gedanke schmerzt dich, aber das ändert nichts. 

die ruhigen augen des vaters sahen dem rauch der havanna nach. 
getrieben von einem kurz aufflackernden kindlichen trotz zerblies josh den blauen dunst in kleine fetzen. vehement schüttelte er den kopf. nein, jeder kann sich zum guten hin verändern, wenn er es wirklich will, verfocht er seine überzeugung mit der vom vater geerbten vehemenz. sein glaube an die veränderbarkeit war der grund weshalb er psychologe geworden war. seine arbeit gab ihm macht über die ohnmacht, macht über das schicksal, in dem für ihn zugleich ein machsal lag, wenn nur der wille da war. seine waffe war der glaube an die veränderbarkeit, schon als student hatte er sich vorgenommen sie im guten zu benutzen.

josh wand sich einen moment. dann erzählte er dem vater von dem mann, der seinen festen willen bekundete sich zu verändern, als er das erste mal in seiner praxis erschien. er habe unter seinem notorischem hang zum lügen lange genug gelitten und andere unter  sich leiden lassen, er wolle das nicht mehr. josh solle ihm helfen damit aufzuhören.
der mann hatte zuversicht, lächelte josh. 
der vater nickte wortlos.

josh nahm einen schluck des schweren rotweins, den der vater geöffnet hatte und fuhr fort. der mann kam ein mal pro woche, immer im gleichen schwarzen anzug mit dem weißen, am kragen offenstehenden, glatt gebügelten hemd, den eindruck eines saubermanns zitierend. der aufzug erschien mir wie ein hohn im gegensatz zum innersten des mannes, der sein leben auf der empathielosigkeit anderen gegenüber aufgebaut hatte, die verachtung jeglichen moralischen gesetzes in handeln umsetzte, als sei es seine persönliche herausforderung. ich fragte den mann, wozu er das tut. der mann sagte, dass ihm die lüge lust bereite, die lust an der enttäuschung derer, die er getäuscht habe, gebe ihm das gefühl eine rechung zu begleichen, mit wem wisse er nicht.  allerdings, räumte er ein, lasse sich die auswirkung seiner lügen nicht immmer genau bestimmen, das mache es schwierig, aber auch reizvoll für ihn.
der vater nickt, hörte aufmerksam zu.

abgestoßen von der kalten berechung des mannes, versuchte ich dennoch zu verstehen und mahnte mich zur geduld. ich schlug ihm vor, seinen drang zu lügen und zu täuschen zu überdenken und dort zu beginnen wo das verborgene motiv lag. der mann meinte, er könne nicht anders, es sei stärker als er selbst, aber er ließ sich auf den vorschlag ein. gemeinsam fanden wir heraus, dass es das machtgefühl war, das in ihm entstand, wenn er log. es verschaffte ihm befriedigung, erkannte der mann nach vielen stunden, eine tiefe befriedigung, die er in nichts anderem finden konnte.

bitte sag nichts, sagte josh zum vater, der einen einwand vorbringen wollte, ich bin mir dessen bewusst, dass machtgier ein schwer therapierbares motiv ist. machtgier in solch starker ausprägung entsteht durch häufig erlebte ohnmachtsgefühle in der kindheit. ich beschloss der ursache tiefer auf den grund zu gehen. gemeinsam suchten wir nach ohnmachtserlebnissen in der kindheit des mannes. er begann sich zu erinnern, er erzählte von der lüge der mutter, um die er gewusst habe. dass der vater alkoholiker war habe er gerochen, er dünstete scharfes saures aus. die mutter habe oft geweint, wenn der vater in der nacht nicht nach hause kam. er habe sie trösten müssen, ihr gesagt, es sei besser wenn der stinkende vater nicht mehr zurück käme, besser für sie beide. sie habe gesagt, dass der vater nicht trinke, nur ab und zu, wie es alle taten und das er sich alles nur einbilde. das weinen hörte nicht auf bis er achtzehn war. die mutter sei an krebs gestorben und er habe den vater seither nie mehr sehen wollen. er weinte, sagte, die mutter habe gelogen und  ihm das gefühl der falschen wahrnehmung vermittelt. sie sei eine schamlose lügenerin gewesen.

sie hielt es wohl für moralisch in ordnung sie belügen, gab ich ihm zu bedenken und hoffte auf das verständnis des mannes für die verzweiflung der mutter, die ihren sohn habe schützen wollen. er möge zu verstehen versuchen, dass sie damals kein anderes mittel zur vefügung hatte, sie habe nicht anders gekonnt.

der mann wurde wütend. die mutter sei der lüge verhaftet gewesen, sie habe ihn nicht ernst genommen, ihn tief verletzt. sie hätte seine verletztheit spüren müssen, insistierte er. nein, er sei auf keinen fall bereit ihr das zu verzeihen.

ich fragte mich, ob ich selbst in der gleichen situation von der eigenen mutter hätte belogen werden wollen und kam, im denken gestört von meiner empathie für die mutter, zu dem schluss, dass ich nicht zu bewerten vermochte, was mir nicht selbst widerfahren war. ich gestand dem mann seine unverzeihlichkeit zu. 
aber sehen sie, versuchte ich ihm zu vermitteln, sie machen es wie ihre mutter, sie wiederholen was sie ihnen angetan hat, sie zahlen es anderen heim, etwas in ihnen glaubt, mit jeder bewussten lüge noch heute die mutter abstrafen zu können. sie wiederholen, was sie ihr nicht verzeihen können - die lüge, immer wieder. sie kommen aus dieser spirale der wiederholung heraus indem sie die veranwortung für sich selbst übernehmen. sie sind jetzt kein ohnmächtiges kind mehr, sie sind erwachsen, sie können wählen. 

die mutter abstrafen, höhnte der mann, das ergebe keinen sinn, die mutter sei lange tot.

es spielt keine rolle, ob die mutter tot ist, erklärte ich ihm und dass sein unterbewusstsein sich dafür nicht interessiere. der drang zu lügen sei ein selbstläufer geworden, dessen antrieb die befriedigung des vormals kindlichen machtstrebens im jetzt sei, im grunde der immer neue versuch von der ohnmacht in die macht zu gelangen, dies sei die ursache, warum er mit dem lügen nicht aufhören könne.
der mann konterte, die lüge habe die liebe zur mutter getötet, er könne nicht lieben, das sei das größte verbrechen der mutter am sohn. es müsse gesühnt werden um ihn zu befreien. 
ich sagte ihm, nur die wahrheit könne ihn befreien. das nahm der mann mir übel. er warf mir unverständnis vor und dass ich nichts weiter bewirke als seinen widerstand.
ich bat ihn um vertrauen. der mann solle den versuch zu vertrauen üben. er habe doch den willen sich zu verändern geäussert, einen versuch sei es also allemal wert.
verlorenes vertrauen, sei nicht wieder zu gewinnen, wenn man schon der eigenen mutter nicht habe vertrauen können, wem dann? hinterfragte der mann den wert der übung.
er braucht zeit, sagte ich mir, aber ich fühlte mich von sitzung zu sitzung ohnmächtiger. denoch, ich war nicht bereit aufzugeben. ich schlug dem mann ein lügenverbot für die dauer einer woche vor. er solle versuchen den kreislauf zu durchbrechen und zu beobachten was dann passiere. der mann stimmte zu, einen versuch sei es wert und willigte ein am ende der woche wieder zu kommen.
und? der vater drückte die havanna im aschenbecher aus, gehe ich recht in der annahme, dass er nicht wieder kam?
josh nickte wortlos.