Lisa sitzt am Fenster und sieht dem Regen zu, der auf die nassen Blätter der Bäume tropft. Lisa ist einsam, noch einsamer, wenn Regen auf Blätter tropft. Ihre Freundin sagt, geh raus und such dir einen Mann, verlieb dich. Lisa glaubt nicht, dass man einen, den man lieben kann, finden kann. Die Liebe findet einen. Ein mal hatte Lisa hat den, den sie lieben konnte gefunden, stand vor ihr und hat sie angelächelt. Liebe auf den ersten Blick, daran glaubt Lisa. Das ist ihr schon lang nicht mehr passiert. Lang ist eine Frage des persönlichen Empfindens von Zeit und Dauer. Für Lisas Empfinden ist ein Jahr eine lange Zeit. Sie ist ein Paarmensch, der gern mit einem Gegenüber lebt. Sie braucht den Spiegel auf den sie ihre Gefühle und Gedanken projizieren kann, den Spiegel, der ihr antwortet. Sie braucht ihn, um sich selbst zu überprüfen.
Lisa vertraut ihrer Wahrnehmung nicht. Nie ist sie sich sicher, ob das, was durch den Filter ihres Gehirns fließt, so ist, wie sie glaubt, dass es ist. Die Wahrheit hat viele Gesichter und am liebsten will sie alle zu deuten wissen. Wenn man ein Gegenüber hat, kann man sich abgleichen, versinkt nicht so tief im eigenen in der Welt sein. Lisa weiß, dass es gefährlich ist dorthin abzugleiten, wo man nur noch mit sich selbst ist.
Ich und Du ist besser als Ich und Ich. Ich und Ich, das bedeutet Selbstbespiegelung, eintreten in einen begrenzten Raum, abseits von dem, was wirklich ist. Wenn sie einmal dort angekommen ist fällt es ihr schwer wieder raus zu gehen. Ein Gegenüber ist die Verbindung zum Außen, ein Vermittler zwischen Innen und Aussen.
Immer begegnen ihr am Ende der Selbstbespiegelung ihre eigenen Schatten. Sie machen Lisa Angst. Die Angst ist namenlos. Lisa gibt der Angst Namen, immer andere, Namen, die sie am Aussen festmacht. Angst vorm Autofahren, Angst vor Menschenmengen, Angst vorm Fliegen. Die Welt um sie herum ist laut, auch das macht ihr Angst. Wenn die Angst riesengroß ist, hat sie Angst einzuschlafen und im Schlaf zu sterben. Todesangst ist die unaushaltbarste aller Ängste, die Angst, die hinter jeder anderen steht, die Angst, die den Boden bildet für alle Ängste, der Boden, der schwankt und einzubrechen droht.
Lisa braucht den Spiegel. Sie denkt, die Freundin hat Recht, wenn er nicht zu ihr kommt, muss sie ihn suchen gehen. Sie verspricht sich nicht viel davon. Die Freundin sagt, alles ist besser als nichts zu tun und zu warten, auf ein Wunder, das nicht kommen wird.
Lisa denkt an ihre Liebe. Sie hat geliebt. Ein Mal. Lisa denkt an ihre Versuche zu lieben. Mund auf fremden Mund, Haut an fremder Haut, der Geruch von fremdem Schweiß, ein machs gut, dann Bedeutungsloses abwaschen.
Lisa denkt, entscheidend ist, dass man die gleiche Sprache spricht. „Wir lieben, was uns gleich ist“, ein Satz von Rainer Maria Rilke. Lisa hat ihn auf einen Zettel geschrieben, der an der Wand gegenüber ihrem Schreibtisch klebt. In diesem Satz liegt Lisas Erfahrung, eine Wahrheit, die die Reflexion im Spiegel nicht braucht. Es hat ihn gegeben, den, der ihr gleich war, eine lange Zeit. Am Ende hatte er seine Liebe verloren. Sein Du und ihr Ich waren eine fehlerhafte Gleichung geworden. Abgelöst von seiner Liebe findet Lisa sich nicht mehr zurecht, weiß nicht, was sie mit dem Leben anfangen sollte. Lisa hat es vergessen wie man unterwegs einen Regenschirm vergisst, weil es aufgehört hat zu regnen.