Mittwoch, 20. September 2023

Aus der Praxis: Selbstverlorenheit




„Ich fühle mich nicht. Ich habe das Gefühl, ich bin fragmentiert, in Stücke zerbrochen. Immer ist da ein unerträglicher Schmerz, gleichzeitig eine bedrohliche innere Leere. Ich kann mich selbst nicht spüren. Ich spüre das Leben nicht. Es ist als blicke ich durch eine Glasscheibe in die Welt – ich habe nichts mit dem zu tun, was sich darin abspielt.“

Das ist das Selbsterleben eines Menschen, den irgendwann in einem Moment in der Zeit, etwas widerfahren ist, das ihn innerlich tief erschüttert, zerbröselt und sich selbst entfremdet hat. Dieser Mensch hat eine tiefe Angst seine Lebendigkeit zu leben. Er ist unfähig eine Beziehung zu sich selbst zu entwickeln. Er spürt sich nicht, er hat sich verloren.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb der Philosoph Theodor Adorno.
Diese Worte treffen es – das Gefühl der Selbstverlorenheit und der damit verbundenen Verlorenheit im Leben.

Alles fühlt sich falsch an. Man selbst, das Umfeld, was man tut, weil man es tun muss um zu existieren, ohne zu wissen, warum man es tut, geschweige denn, dass man Freude daran hat oder das Gefühl von Sinn - man funktioniert.
Man ist mit nichts verbunden, man ist bindungslos auf sich selbst zurückgeworfen und dieses Selbst ist nicht fassbar.
Es ist fremd, eigenartig, hat keine Identität, ist unfähig Nähe herzustellen und zugleich getrieben von der schmerzhaften Sehnsucht Nähe erleben zu wollen. Aber es geht nicht. Etwas blockiert von Innen – die Hände berühren die Glasscheibe – sie ist undurchdringbar. Die Hände gleiten daran ab.

Was sind die Folgen eines solche Selbsterlebens?

Der Mensch zieht zurück.
Er isoliert sich.
Er lässt niemanden mehr an sich heran.
Seine Kontakte sind oberflächlich.
Er versucht es immer wieder, aber sobald Nähe entsteht, geht er in Distanz, zieht sich zurück. Nähe ist affektgeladen, gleichzeitig hat sie etwas Bedrohliches, Verschlingendes – da ist die Angst des Entäuschtwerdens, des Verratenwerdens, des Verlassenwerdens und mit dem Verlassenwerden wird wieder das Selbst verloren.
Er muss sich schützen.
Er zieht sich immer mehr zurück. Nach all den untauglichen Versuchen sich zu verbinden, begreift er – es geht nicht. Da ist Nichts und Niemand, der seine Seele berührt. Die Beziehungsebene, egal mit wem, bleibt kalt.
Er gibt auf, bleibt allein, einsam, vereinsamt, getrennt von anderen, vom Leben.
Er wartet, hofft auf Rettung, auf ein Wunder. Es kommt nicht.

Menschen die in diesem inneren Drama leben sind derart massiv verletzt, dass sie wie ausgelöscht sind. Ihr Selbstempfinden, ihr Selbstwert ist zutiefst unsicher, weil es keinen Selbstbezug (mehr) gibt. Die eigene Bedeutung existiert nicht. Bedeutung im Außen zu finden, gelingt nicht, weil Nähe nicht gelingt.
Ich kenne solche Menschen. Ich begegne ihnen in meiner Arbeit. Und ich weiß, was diese Menschen brauchen: Sie brauchen Trost, Halt, jemand, der sie annimmt, ihnen das Gefühl gibt: Du bist da, du existierst, du bist lebendig, auch wenn du es (noch) nicht spüren kannst. Sie brauchen eine Seele, die die ihre erreichen kann. Ein tiefe Seele, die keine Angst hat, die Tiefe ihrer verletzten Seele zu berühren. Denn sie sind tief, diese verlorenen Seelen, so tief wie ihre Verletzung. Eine Verletzung, die in unheilsamer Beziehung entstanden ist und nur in heilsamer Beziehung heilen kann.
Möge sie all diesen tiefen Seelen widerfahren: Heilung.

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