Montag, 20. Januar 2014

Medea, eine Betrachtung

 

 

 

Medea


„Wir Menschen sind Halbierte, die sich nach Ganzheit sehnen.“

               Ein Gedanke aus Platons Symposion                       

 

                                    



Medea, ein Mythos, der sich in all seinen dramatischen Gestaltungen durch die Jahrhunderte von Euripides bis zur zeitgenössischen Literatur durchzieht, eine Tragödie, festgemacht an einer Frau, die leidenschaftlich liebt und leidenschaftlich tötet.

Medea ist eine tragische Figur von höchster Ambivalenz, eine Figur, deren Geschichte man folgen kann, deren Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen man verstehen oder gar nachvollziehen kann -  bis zu dem Punkt, der sprachlos macht - die Hybris der Tragödie, die Medea zum Sinnbild des Bösen macht: der Mord an ihren leiblichen Kindern.

Was macht diese Medea aktuell bis heute? Was ist es, das uns fasziniert an dieser Geschichte? 
Die Sehnsucht, die Liebe, die Angst, der Hass, die Rache, die Verzweiflung, die Schuld und der Tod - all das birgt der Mythos in sich. Archetypen, die unser Leben durchziehen, kollektiv und individuell. Medea ist ein Spiegel der zum Zerrspiegel wird, der es am Ende unmöglich macht hineinzuschauen, ohne den Impuls zu verspüren, sich abwenden zu müssen. Es ist das Böse das uns gegenübertritt in seiner dunkelsten und unbegreiflichsten Erscheinung, die Unfassbarkeit des Maßes an Zerstörung, die zu immer neuer Analyse herausfordert, die aber nur schwer gelingen kann, denn das Unbegreifliche existiert als ein Etwas das größer ist als wir.

Es sind überwiegend die weiblichen Literaten, wie Christa Wolf in ihren Medea Stimmen, die Argumente finden, um Medea in die Opferrolle zwängen. Denn Opfer sind entschuldbar. Und es sind die männlichen Stimmen in der Literatur, die sich am Wirken des Thymos festhalten, den Trieb dieser Frau in den Focus stellen, der jenseits von Ratio und Instinkt sich entfaltet, nach der Demütigung durch Jason, dem Geliebten, der Medea benutzt, betrügt und verrät. Es gibt Entschuldigungsgründe für Jason, wie bei Anouihl, der ihn seiner Schuld gar enthebt oder zumindest beide zu Opfern und Tätern macht, Opfer einer ungesunden, obsessiven Liebe, die scheitern muss.

Medea ist eine Frau, die den Männern suspekt ist, im Tiefsten allein.
Sie ist eine Frau, die anders ist, die sichtbar von der Norm abweicht, heute wie damals, eine Frau, die den Mythos der Weiblichkeit demontiert in allem was sie ausmacht und in allem was sie tut. Medea ist eine Gefahr für das Kollektiv und damit Symbol für etwas, womit das Kollektiv nicht umgehen kann. Was wir nicht sehen wollen verdrängen wir, wir schließen es aus, verbannen es, schicken es irgendwohin – wo es uns mit uns selbst und unseren Schatten nicht mehr konfrontieren kann.


Medea – die Ausgestoßene

 

Die Tragik dieser Figur ist die Tragik aller, die anders sind und ihren Platz im Leben nicht finden. Sie scheitert an sich selbst, an ihrer wesenhaften Disposition, die der Wirklichkeit nicht standhält. Leidenschaft, die Fähigkeit unbedingter Liebe, der Antrieb aus dieser Liebe heraus alles zu tun, ist Medeas tiefstes inneres Wollen. Ihre persönliche Odyssee beginnt, indem sie sich Jason als Objekt für ihre Liebe sucht. Er ist schwach und sie ist stark. Er nimmt ihre Stärke, solange sie ihm nützt und er hält sie nicht aus, weil sie ihn kleiner macht in seinen Augen. Dieser Mann ist klein, zu klein für eine große Frau.

Warum macht diese starke Frau die Erfüllung ihrer Sehnsucht an ihm fest?
Ist sie blind, oder im Innersten so einsam, dass sie im Gefühl endlich geliebt und gebraucht zu werden, seine Schwäche übersieht und verdrängt? Beginnt das Drama Medeas nicht dort, wo alle menschlichen Dramen beginnen? In ihr selbst, in ihrer psychischen Struktur. Und ist das Außen nicht nur der Spiegel dessen, was der Mensch in sich trägt?

Wir werden zu dem, was wir sind.
Medea ist zerrissen, heimatlos schon in der eigenen Heimat, nicht einverstanden mit dem Vater, die Mutter ist abwesend. Wir erfahren nichts von ihr. Sie ist eine Fremde im eigenen Land und damit auch im eigenen Leben, beseelt von einer Sehnsucht, die namenlos ist, beseelt davon sie festzumachen an einem anderen, dem Geliebten. Sie ist nicht souverän, sie hat keine wirkliche Ich-Stärke, sie ist eine Sucherin, maßlos, und weit davon entfernt, bei sich selbst zu sein. So ist der Mensch anfällig für die Opferrolle.

Medeas Tragödie ist die vieler Frauen. Noch heute, und immer wird es so sein, ist tief im Inneren der Frau ein leises, unbestimmtes Gefühl von Unvollständigsein, wenn sie ohne einen Gefährten durchs Leben geht. Und es gibt dieses unbewusste Wünschen - eine Lücke schließen zu wollen mit der Liebe, die sie in sich selbst nicht findet. Das hat nichts mit Zeitgeist zu tun, nichts mit einer bis heute fragwürdigen Emanzipation. Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, das mit Adam und Eva beginnt - die Sehnsucht des halbierten Menschen nach Ganzheit, wie es Platons Symposion so bildhaft darstellt.

Egal ob Frau oder Mann, wir versuchen das Hineingeworfensein in die Welt zu überwinden. Nur dass Frauen diese Sehnsucht aufgrund ihrer seelischen Struktur intensiver spüren und  intensiver leben.

Die Anima ist empfänglicher für die Dinge. Im Wesenhaften des Weiblichen lebt Gaia, Mutter Erde, die Empfangende, die Lebensspendende, das Prinzip von Werden und Vergehen – das Sinnbild des Kreislaufs des Lebens schlechthin. Hingegen Animus: das männliche, das geistige Prinzip, das Klarheit und Struktur gebende. Pole wie sie konträrer nicht sein können. Seit C.G. Jung wissen wir, dass wir beides in uns tragen, die Frau den Animus, ebenso wie der Mann die Anima. Und es ist Ziel diesen Antagonismus in uns selbst zu integrieren um zur Individuation zu gelangen. Die Tragödie – wir schaffen es nicht, weder die Integration dieser beiden Anteile in uns selbst, noch die Vereinigung mit dem polaren Gegenüber zum Guten hin.

Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist die vertrauteste und unheimlichste, die unbedingteste und konfliktreichste - Urgrund unzähliger Dramen, damals wie heute.
Es ist die Unfähigkeit, dem anderen sein Anderssein zu lassen. Weit ab von Einsicht, Akzeptanz und friedlicher Koexistenz, wabert der Kampf der Geschlechter, durchzogen vom Trieb uns fortzupflanzen. Nicht ohne einander und schlecht miteinander. Mann und Frau sind fähig zu verschmelzen. Für Momente in der Zeit eine Einheit zu sein - das Gefühlte von Einheit. Nach dem Verlassen des Bettes - das Gefühl von Getrenntsein. Medea erträgt dies nicht, sie ist mit Jason symbiotisch verschmolzen. Sie lebt durch ihn. Ihre Persönlichkeitsstruktur ist eine narzisstische. Sie ist die, die sich selbst im anderen liebt, sich selbst nur im anderen spüren kann, allein ist sie einsam, von einer inneren Einsamkeit, die sie verzweifeln lässt. Jason, der Komplementärnarziss, der sie braucht, um sich selbst wertvoller zu fühlen. Er wird zum Helden durch Medeas kompromissloses Handeln.

Mit Jasons Eintritt in Medeas Leben beginnt das Morden, durch Verrat am Vater, am Bruder. Alle Mittel sind recht, um das geliebte Objekt an sich zu binden. Sie hat ihn sich einverleibt – im wahrsten Sinne des Wortes und er lässt es zu. „Sieh, was ich für dich tue! Du musst mich also lieben“. Eine Motivation, die der Wunde des Ungeliebten entspringt. Hierin liegt sie begründet, die Pathologie der Medea, der Ursprung dieser Tragödie, ein metaphorischer Ausdruck des Innersten der Protagonistin im Außen.


Medeas In - der - Welt – sein, das fatale Folgen für die Welt hat in die sie geworfen ist, 
ist Dreh- und Angelpunkt des sich zuspitzenden Plots.



Medea ist eine Geschichte, die die Beziehung der Frau zu sich und die Beziehung von Mann und Frau  zum Inhalt hat. Sie erzählt von zwei Fremden, die sich vertraut miteinander machen, um am Ende zu erkennen, dass das Fremdsein ein Unüberwindbares ist. Das Blut der Kinder, das vergossen wird, ist das ihre - ihr miteinander vermischtes Blut. Es bringt den Tod und nicht das Leben in die Adern, weder für Medeas noch für Jasons Selbst, noch für die Zukunft der nachfolgenden Generation in Sachen Liebe. Das Töten der Kinder ist das Töten der Möglichkeit von dauertüchtiger Liebe. Das Sinnbild für das Sterben des Glaubens an einer Frau an die Liebe.

Eros oder Phylia - beides ist unlebbar.

Die Liebe hat keinen lang anhaltenden Effekt, sie ist flüchtig und  „Immer trägt sie den Charakter des Todes in sich“, wie André Breton einmal schreib. Anders zu denken ist ein Phantasma zwischen Männern und Frauen, das an einer Jahrtausende langen Gegenteilsbeweisführung zerplatzt.

Das Vergehen der Liebe, ihren Tod nicht zu akzeptieren ist Medeas größtes Vergehen.
Hierin liegen die Tragik und das Entsetzen über die Kindsmörderin Medea, die an der Seele des Medea Rezipienten andockt, verschlüsselt zwar, aber dennoch den Weg findet zu dem Erkennen: Jeder ist allein. Und das ist das Unerträglichste. Die Nichtakzeptanz dieser Wahrheit kann die sensible Seele in den Wahnsinn treiben.


Medea und der Wahn



Die Verzweiflung, die realitätsnah wird und schließlich handlungsleitend, die Verzweiflung, die das Ich von der Welt schrittweise abtrennt, die Existenz ad absurdum führt, das Versinken ins Leere und im Gewahrsein dessen: der Tod des Ichs und der darin eingeschlossene Wunsch nach Zerstörung dessen, was das Ich zerstört. Das Scheitern eines metaphysischen Liebesbegriffes.



Medea, die Kindsmörderin



Frauen töten um sich aus Beziehungen zu befreien, in denen sie gedemütigt wurden. Bevor sie zu Täterinnen wurden waren sie Opfer. In den meisten Fällen töten sie ihre Kinder.

Gedemütigte weibliche Opfer – von Männern gedemütigt? Oder von einem Ideal, einer unstillbaren, nicht erfüllbaren Sehnsucht nach der einen wahren Liebe - am Manne festgemacht?

Warum töten Frauen die Kinder dieser Männer?
Sie töten, um das zu vernichten, was das Liebste ist, dasjenige was ihre Liebe hervorgebracht hat: das eigene Fleisch und Blut. Scheitert die Liebe, scheitert elementares.
Ein Aufschrei der verwundeten Seele, der hörbar sein soll und fühlbar ... von der Welt.

„Es gibt kein größeres Verlangen als das eines Verwundeten nach einer anderen Wunde“, schreibt der Philosoph Georges Batailles.

Bei Euripides hat Medea am Ende ihre Katharsis – sie wird vom Sonnenwagen in den Himmel gehoben ...freigesprochen.

Bei Seneca ist sie die Furie.
Bei Anouilh ist sie das wilde Tier.
Bei Neill La Bute sitzt sie im Gefängnis.
Bei Christa Wolff ist sie der Sündenbock.

Die Medeas von heute sitzen in Psychiatrien und in Frauengefängnissen. Die meisten von ihnen sind Suizid gefährdet.




Malerei: ich

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