Sonntag, 12. August 2012

Der Altar des Leids





viele menschen leiden an etwas das irgendwann einmal geschah. etwas, das so schlimm war, dass dieses schlimme verdrängt wurde. aber irgendwann kommt dieses leid wieder hoch. es kriecht nach oben, weil es seine existenz da unten nicht mehr aushält oder weil der mensch seine existenz da unten nicht mehr aushält. es kommt nach oben, entweder bewusst, weil wir es erinnern wollen oder aus dem unbewussten, das sich erinnern muss. und dann erschrecken wir fürchterlich. wir sind fassungslos angesichts des fürchterlichen, das da in uns wohnt. das ist zum fürchten fürchterlich.

dann stehen wir da vor dem fürchterlichen. es macht uns angst. es macht die angst, die da war in uns, die wir immer gespürt haben ohne den grund dieser angst zu kennen, ganz groß. aber auch ein bisschen kleiner, weil wir jetzt sehen, was wir nicht begriffen haben, was aber da war, nur eben nicht greifbar. jetzt ist es greifbar.

alles greifbare kann ich fassen. ich kann es anfassen. 
was ich anfassen kann, kann ich formen und was ich formen kann, kann ich verändern.

ich kann, ich muss nicht. ich kann es mir auch nur anschauen und es hassen das leid, das angst macht, das am leben hindert, das mein leben beherrscht - mein denken, mein fühlen und mein handeln. ich kann es ablehnen und sagen - ich will das nicht, ich will da nicht hinschauen, ich will das so nicht haben. aber das nichtwollen sind dem leid und der angst egal. vollkommen egal. sie bleiben, auch wenn ich das nicht will.

louise bourgeois, eine der größten bildhauerinnen der moderne, verbrachte ihr leben damit mittels ihrer kunst den übergriffigen, despotischen vater zu dekonstruieren um ihn dann zu rekonstruieren. am ende ihres lebens sagte sie: ich kann nicht verzeihen und ich will nicht verzeihen. sie starb ohne sich mit ihrem leid zu versöhnen. ich will so nicht sterben und ich will so nicht leben.

alles mit dem ich mich nicht versöhnt habe, werde ich auf diese weise mitnehmen und ich werde schwer loslassen vom leben, denn - wenn ich etwas nicht loslasse halte ich es fest, beim sterben halte ich am leben fest.  

ein schweres sterben wäre das für mich. ich will das nicht. und ich will auch nicht ein ganzes leben damit verbringen nicht zu verzeihen. ich will leben, ohne den überhang meiner leidvollen erfahrungen, die mein sein derart bestimmen, dass sie mich an neuen schönen und guten erfahrungen hindern. denn genau das geschieht, wenn ein mensch dem alten leid das recht einräumt zu bleiben.

wenn ich es bleiben lasse baue ich ihm einen altar, so wie es louise bourgois mit ihrer kunst getan hat. ein altar, der so mächtig ist, dass das mein leid erhöht.

wenn ich mir das als bild vorstelle, mich, die unter diesem altar lebt, dann wird mir gruselig zumute. das ist ein bedrückendes bild, genauso bedrückend wie das alte leid und die alte angst, weil das leid und die angst über mir sitzen - groß und mächtig. größer und mächtiger als ich selbst. und dann fühle mich ohnmächtig, so ohmächtig wie einst, als das leid in mein leben trat. ich fühle mich als opfer. auch wenn wir ein opfer waren können wir sagen: ich war ein opfer, aber auch wenn ich es war, ich muss kein opfer bleiben, weil ich mich entscheide es nicht zu bleiben. ich entscheide mich anders als louise bourgeoise - ich will mich versöhnen mit dem, was war.

damit muss ich nicht gut heißen, was war. ich heiße es auch nicht gut. aber ich erlaube mir, mich, nachdem ich es verarbeitet habe, auszusöhnen mit dem, was einmal geschehen ist in meinem leben. und das ist möglich, indem ich es anschaue und alle gefühle zulasse, die da sind uns sie annehme und dann erkenne: es ist alt, es ist vergangenheit, unveränderbar, es liegt nicht in meiner macht, sie im jetzt zu verändern, aber ich kann mein jetzt verändern, indem ich meine biografie anders bewerte und versuche das alte nicht meine gegenwart beherrschen zu lassen. das ist ein langer weg, oh ja, aber das motiv dieses weges ist entscheidend: ich kann weiter klagen und anklagen und damit meine lebensenergie verbrauchen oder ich kann rauern über das was war, ich kann wütend sein über das, was war, aber dann irgendwan ist es zeit zu akzeptieren: es war ein teil meines lebens und jetzt beginne ich den anderen teil meines lebens mit besserem zu füllen.

wenn mir das gelingt, gibt es diesen altar in meinen leben nicht mehr. es wird dauern, wichtige existentielle dinge sind immer ein prozesshaftes geschehen und dieser prozess ist ein langsamer.
aber die zeit nehme ich mir, weil es eine sinnvolle zeit ist, eine zeit in der ich das versuche, was louise bourgoise auch tat - ich dekonstruiere und dann rekonstruiere ich, aber mit dem willen etwas positives zu konstruieren um es gegen das leid zu setzen. ich sage damit nicht ja zu meinem verletzern, ich sage damit nicht ja zu ihren taten und meinem leid - ich sage ja zu mir selbst.

ich heiße mein leid nicht gut, aber ich heiße mich selbst gut, mein leben, jetzt und heute. heute schütze ich mich vor denen, die mich verletzen wollen. ich verbanne sie aus meiner gegenwart und lasse sie in der vergangenheit, wo sie hingehören. denn jetzt bin ich mächtig, so mächtig ihm diese macht, diesen überhang in meinem leben, zu nehmen.

es ist möglich.
es ist möglich, weil ich das will.
und das kann ich wollen wollen.

eine zeit lang werden ich mich in einem übergangsraum bewegen, den ich bespiele. ich bespiele ihn, indem ich veränderungen vornehme, in bildern und worten, in handlungen, die anders sein werden, als die alten bilder und handlungen, welche vom altar des leids beherrscht wurden.

wenn wir immer wieder aus der opferrolle heraus von unserem leid erzählen, wird es festgeschrieben. wir tun dann nichts anderes als es wiederholt nacherleben, wir durchleben das immer gleiche im innen und wundern uns, dass sich das außen nicht verändert. so lange wir dem leid einen altar geben, begegnet uns das immer gleiche im aussen, denn das aussen ist der spiegel unseres inneneren. das ständige wiederholen senkt sich ein in die seele, solange bis es sich automatisiert. 

ich entscheide mich dafür kein automat zu sein. auch das entscheide ich. denn ich weiß, ich bin nicht mein leid, ich fähig zu differenzierten emotionen und bildern von mir selbst, ich kann sie mir sogar erschaffen, ich kann mein leben gestalten, auch wenn ich einmal sehr gelitten habe. wir alle sind dazu fähig. diese fähigkeit ist mächtiger als das alte leid. es ist alt und damit ist es auch schwach. ich bin stark. so stark, dass ich neue bilder malen kann, die anders sind. schöne bilder, die die alten überschreiben. langsam, aber sicher.