Dienstag, 13. März 2012

Aus der Praxis: Warum Kinder stehlen - Nichtwissen und der Wunsch nach Aufmerksamkeit


Eignet man sich Dinge aus fremdem Besitz ohne die Zustimmung des Eigentümers an, dann spricht man von Stehlen. Das bedeutet, dass Diebstahl in sozialer, moralischer und ethischer Hinsicht erst dann existiert, wenn ein Kind bewusst zwischen mein und dein unterscheiden gelernt hat. Erst wenn es trotz diesem Wissen aus fremdem Eigentum Gegenstände nimmt, stiehlt es.

Normalerweise entwickelt sich das Bewusstsein für Fremd-und Eigenbesitz bei Kindern relativ spät. Bis sie etwa acht Jahren alt sind fehlt häufig die Unterscheidungsfähigkeit zwischen mein und dein. Erst wenn ein Kind sich trotz dieses Bewusstseins Dinge aus fremdem Eigentum aneignet, stiehlt es tatsächlich. Gelegentliches Stehlen von Süßigkeiten aus dem Kühlschrank oder eines Spielzeugs, das einem anderen Kind gehört, geschieht ohne nachzudenken. Das Kind nimmt sich einfach, was es gerade haben will. Es tut das unbewusst aus einem inneren Drang heraus ohne sich des Unrechts bewusst zu sein. Ob dies aber die wahre Ursache ist, kann in einem Gespräch herausgefunden werden, indem man das Kind nach Besitzzuordnungen fragt.

Fehlende Besitzvorstellungen findet man oft bei Kindern, die überbehütet sind, im Sinne von überversorgt. Kinder, die zu hause alles bekommen, was sie wollen. Sie erlernen quasi unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, ohne etwas dafür tun zu müssen. 

Für diese überversorgten Kinder stellen der Kindergarten oder die Schule eine völlig neue Situation dar, in die sie sich erst einfinden müssen. Sie müssen lernen zu teilen und auf diese unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten. Schwer, wer das nicht zu hause gelernt und so völlig andere Erfahrungen gespeichert hat. Zudem gibt es Familien in welchen Eigentum sehr gering bewertet wird. Jeder nimmt sich alles von jedem. Kinder die auf diese Weise aufwachsen, empfinden das Stehlen nicht als solches, sondern sehen es als absolut normal und moralisch unbedenklich an, sich alles einfach zu nehmen. Sie haben Eigentumsvorstellungen schlicht und einfach nicht gelernt.

Die weit größere Ursache für kindliches Stehlen oder Stehlen im Jugendalter liegt im emotionalen Bereich. Hier geht es immer um Anerkennung, Zuwendung und Erleben von Selbstwertgefühl, das im Tiefsten fehlt.

Häufig beginnen Kinder, die einen Mangel an Aufmerksamkeit, Zuwendung oder Liebe erfahren, missachtet oder gedemütigt werden, irgendwann zu stehlen. Das unbewusste Ziel ist zum einen, endlich Aufmerksamkeit zu bekommen, zum anderen, die innere Leere zu füllen. Dabei spielt es bei einem emotional hungrigen Kind keine Rolle ob diese Aufmerksamkeit dann positiv oder negativ ist. Es will wahrgenommen werden und das um jeden Preis. Zudem können die gestohlenen Gegenstände als Liebesersatz fungieren, mit dem es den emotionalen Mangel auszugleichen versucht. Diese Kinder stehlen in der Tat um erwischt zu werden. Ein deutliches Signal für die innere Not, in der sie sind. Selbst Strafe nimmt das Kind in Kauf, nur um endlich beachtet zu werden.

Stehlen kann auch Gegenaggression sein.

Erlebt das Kind eine einengende, unterdrückende oder sogar aggressive Erziehung, kann Stehlen zum Ausdruck von Gegenaggression „benutzt“ werden. Das Kind rächt sich auf diese Weise, es wehrt sich, indem es der Mutter oder dem Vater etwas wegnimmt. Nimmt das Kind die eigentliche Person als übermächtigen Aggressor wahr, neigt es dazu Ersatzpersonen zu bestehlen. Es will sich auf diese Weise gegen die dominanten, erdrückenden, überstarken Widerstände in der Familie durchsetzen. Dieses Durchsetzen des eigenen kindlichen Willens spielt auch in der Peer Group eine Rolle: Kinder und Jugendliche suchen Anerkennung, die sie sonst nicht bekommen und versuchen sich durch gestohlene Dinge in die Gruppe einzukaufen.

Stehlen ist immer ein stummer Schrei nach Aufmerksamkeit und ein Notruf der Seele. Der Akt des Diebstahls ist ein symbolischer.

Das bedeutet: Ein Gegenstand dient als Ersatz für die Nähe oder die Aufmerksamkeit einer geliebten Person, meistens ein Elternteil. Das Kind symptomatisiert mit dem Stehlen, für alle sichtbar, ein krankes Familienkonstrukt. Ein systemisches Problem also ist die Ursache und daher kann das Problem nur systemisch gelöst werden, heißt: alle Beteiligten sollten daran arbeiten. Die Ursachen für das Stehlen finden sich in den überwiegenden Fällen nicht in der unmittelbaren Umgebung (Kindergarten, Schule), sondern wesentlich häufiger im Elternhaus und im Freundeskreis. Entscheidend ist es also die individuelle, emotionale und soziale Situationen des Kindes zu erkennen und zu verstehen.

Kontraproduktiv ist es, das stehlende Kind bloßzustellen. Strafe schützt nicht in diesem Fall nicht vor weiteren Diebstählen. Den Ursachen für das Stehlen sollte vorurteilsfrei und mit Empathie nachgegangen werden. Wie bei allen Formen des Diebstahls ist es sinnvoll, dem Kind die Möglichkeit anzubieten, den gestohlenen Gegenstand unauffällig zurückzugeben.

Entscheidend aber ist zu wissen, dass jeder kindliche Diebstahl ein Hilfeschrei ist. Ziel ist, diesen Schrei zu hören und nach den Gründen zu suchen, um das Fehlverhalten zu beenden.

Kein leichtes Unterfangen. Stehlende Kinder, hat man sie entdeckt, schweigen oft beharrlich zu den Gründen, warum sie stehlen. Meistens wissen sie auch nicht warum sie es tun. Dennoch schämen sie sich, haben Schuldgefühle und ziehen sich im schlimmsten Falle in sich selbst zurück. Dies führt wiederum dazu, dass sie, um die seelische Spannung und innere Einsamkeit zu kompensieren, erneut stehlen. Das Stehlen wird in der Folge zum Kick, zum paradoxen Selbsthilfeversuch, zum wiederholbaren emotionalen Ausgleich einer unter Konfliktspannung stehenden Psyche.

Fehlt dem Kind nur der Eigentumsbegriff, ist es möglich ihm diesen mit viel Geduld spürbar zu vermitteln. Nur so kann dieser entwickelt werden. In Gesprächen, bei jüngeren Kindern spielerisch, wird dem Kind klar gemacht, was mein und dein bedeutet. Wichtig ist auch, dass das Kind einen eigenen Raum hat, im besten Fall ein eigenes Zimmer oder einen eigenen Schreibtisch. Häufig lässt sich der Eigentumsbegriff auch über regelmäßiges und ausreichendes Taschengeld entwickeln, über welches das Kind absolut frei verfügen darf und über Ausgaben keine Rechenschaft ablegen muss. Älteren Kindern und Jugendlichen kann man durchaus nahe bringen, dass sie sich mit Diebstählen in eine Unrechtssituation begeben, die auch juristische Folgen haben kann.

Niemals aber sollte das Kind oder der Jugendliche abgewertet werden.

Kränkung und Demütigung helfen nichts, ebenso wenig wie Anklagen oder verbale Vernichtung. Im Gegenteil, das macht alles nur schlimmer. Das Kind, bzw. der Jugendliche fühlt sich abgewertet und empfindet sich im schlimmsten Falle als kriminell. Dies provoziert das Bewusstsein es auch zu sein und in Folge - danach zu handeln. Man sollte das Kind oder den Jugendlichen zwar auf sein „falsches Verhalten“ aufmerksam machen, ihm aber als Mensch Achtung und Respekt entgegenbringen und niemals verurteilen. Einer der stiehlt hat sowieso ein mangelndes Selbstwertgefühl, denn sonst würde er nicht stehlen.

Zusammenfassend ist zu sagen: Konsequenzen sind sinnvoll, strenge Bestrafung aber ist sinnlos, denn Kinder, die stehlen, wollen eine innere Leere füllen. Zuwendung, Lob, Anerkennung und das Gefühl von Liebe und Geborgenheit - diese Dinge sollten Eltern vermitteln, damit keine Diebstähle mehr nötig sind.