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Viele Frauen haben sich jahrelang bereitwillig in den Dienst anderer gestellt. Dann kommt der alles verändernde Moment: Die Kinder sind aus dem Haus, die Ehe oder die Beziehung sind unerträglich geworden oder gescheitert, der Job langweilt oder belastet nur noch und der Blick auf die Zeit sagt: Mädchen deine Jahre sind begrenzt. Dann kann es sein, dass sie kommt: Die existentielle Sinnkrise.
Diese Frauen müssten eigentlich verdammt stolz auf sich sein, was sie bis in die 50iger Jahre ihres Lebens geleistet haben. Sie sind es aber nicht. Vielmehr fühlen sie sich nicht mehr gebraucht, leer und einsam, weil da niemand mehr ist für den sie da sein können. Sie haben nur noch sie selbst, sie fragen sich: Wer ist dieses Selbst? Und sie wissen nicht, wer sie wirklich sind und wie es weiter gehen soll.
Sie wissen oft nicht einmal mehr was ihre Bedürfnisse, Wünsche und Visionen sind, weil sie immer auf andere fokussiert waren und sie umsorgt haben, und wenn sie es wissen, denken sie, dass diese sich nicht mehr erfüllen lassen. „Zu spät“, kommt dann oft und je öfter sie diesen Gedanken denken, desto fester sitzt er im Kopf und verstärkt sich.
Sie fühlen sich verbraucht, müde, alt, nicht mehr attraktiv und begehrenswert, nicht wertvoll, nicht liebenswert und uninteressant. Sie fühlen sich haltlos und unsicher und wissen nicht wohin mit sich. Sie haben auf einmal viel Zeit für sich und wissen nicht, wie sie sie gestalten sollen. Sie haben keinen Plan, wie es weitergehen soll und die Angst vor einer ungewissen Zukunft lähmt.
„War das jetzt alles?“, fragen sie sich und tiefe Traurigkeit und Mutlosigkeit erfasst ihr Inneres.
Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Ich kenne die Sorgen und Nöte dieser Frauen, den manche von ihnen durfte und darf ich begleiten.
Was diese Frauen brauchen ist zuallererst eine Inventur.
Einen Rückblick auf das, was sie alles geschafft haben, ein Anerkennen dessen, was sie vollbracht haben und Selbstwürdigung. Eine neue Sicht der Dinge und eine neue Bewertung dessen, was ihr Leben war – eine Kraft gebende.
Es geht es darum, sich Klarheit zu verschaffen.
Dazu gehört zu schauen, was aufzuarbeiten ist, und es dann aufzuarbeiten. Dazu gehört: Auszusortieren, was nicht mehr hilfreich ist und zu behalten, was hilfreich und nützlich ist.
„Den Keller ausmisten“, nenne ich das.
Wenn das getan ist, wenn alles an hinderlichen Gedanken, lähmenden Überzeugungen, unheilsamer Realitäts- und Selbstbewertung, belastenden Erfahrungen, Verletzungen und Enttäuschungen angeschaut und verarbeitet ist, geht es um Weichenstellung.
Es geht um eine Weichenstellung, die klar und wahrhaftig ist, statt: „Ich sollte, ich müsste…
Sollen und müssen war lang genug!
Was will ich wirklich? Was will ich nicht (mehr)?
Was oder und wer dient mir zu meinem Besten und was und wer nicht?
Was ist meine Vision? Was gibt mir Sinn? Was sind meine Werte?
Wie will ich mein Leben gestalten, so dass es tiefer, lebendiger und wesentlicher wird?
Das sind nur einige Fragen, die neue, klare Weichen stellen.
In dem Buch von Anselm Grün mit dem Titel „Finde Deine Lebensspur“ gibt es die Geschichte der kleinen Esther, die ich meinen Klientinnen, die sich in oben beschriebener Lage befinden, zum Lesen ans Herz lege.
Die Geschichte beginnt mit dem Entschluss der kleinen Esther, lieber zu sterben, als weiter in der Welt der Erwachsenen zu leben. Und damit beginnt ihre Heldinnenreise Richtung Freiheit, denn das ist der Schatz, den sie sucht.
Im Laufe der Reise lernt Esther trotz ihrer Angst zu handeln, sie lernt die Leere und das Alleinsein zu ertragen und anzunehmen. Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher und lauter hört sie ihre innere Stimme. Sie beginnt auf sie zu hören und die Kraft ihres Herzens wächst. Sie gibt nicht auf. Sie überwindet alle Herausforderungen.
Bis sie auf den Schwellenhüter trifft, der sich in jeder Heldenreise irgendwann zeigt um zu überprüfen, ob der Held oder die Heldin es wirklich ernst meinen. Er zeigt sich in Gestalt eines Steines, auf dem die Inschrift steht: „Ich lebe – und ich liebe dich, so wie du bist!“
Esther erstarrt. Sollte das etwa der Schatz sein, den sie sucht, der ihr zu einem freien Leben verhilft?
Sie kann und will es nicht glauben.
Sie ist enttäuscht, ihr Herz ist so voller Trauer, dass sie zusammenbricht. So viele Jahre war sie unterwegs, hat alle Gefahren überwunden, aller Angst getrotzt, all ihre Einsamkeit. Leere und Sehnsucht ausgehalten – und jetzt das?
Nur ein Stein mit der Inschrift: „Ich lebe - und ich liebe dich, so wie du bist?
Esther resigniert. Sie ist bereit aufzugeben und zu sterben.
Plötzlich hört sie eine Stimme: „Mädchen, ich sage dir steh auf!“
Nein, sagt Esther: Warum? Wozu? Für wen?
Aber die Stimme ruft ein zweites und ein drittes Mal: „Mädchen, ich sage dir steht auf!“
Und beim dritten Ruf kommt Esther eine Kraft entgegen, die sie bis in Innerste ihres Wesens führt. Dorthin, wo sie sich selbst als liebenswert und stark erkennt.
Und Esther steht auf.
Und geht weiter …
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