Donnerstag, 14. Mai 2015

Aus der Praxis – Der Wahn vom perfekten dauerhaft glücklichen Menschen

 

Stell dir vor, man gäbe dir die Erlaubnis, das fühlen zu dürfen, was wirklich ist, ohne die rosarote Brille, die die negativen Gefühle nicht sehen will oder nicht sehen darf. Wie fühlt sich das an? Ich sage dir wie sich das anfühlt – das macht Angst. Allein die Vorstellung ungute Gefühle zu fühlen macht uns Angst. Paradox, etwas, das wir fühlen macht uns Angst? Warum ist das so? Warum schreckt die Erlaubnis alles fühlen zu dürfen viele Menschen ab und führt nicht zu einem erleichterten Aufatmen?

Durch unsere Erziehung und unsere westliche Leistungsgesellschaft ist uns das Fühlen abhanden gekommen. Dies gilt insbesondere für die sogenannten schwachen oder negativen Gefühle wie Angst, Wut, Schmerz und Trauer. Was wir bei einem kleinen Kind normal finden, verbieten wir uns als Erwachsener, weil wir glauben, dass sogenannte negative Gefühle uns schwächen, in unseren eigenen Augen und in den Augen der anderen.  Manche Menschen schämen sich sogar für ihre Gefühle. Wir leben in der Überzeugung, wenn wir ungute Gefühle zulassen sind wir verwundbar und  wir glauben wer verwundbar ist,  ist schwach und damit angreifbar. 

Das sind Gedanken, die  dazu führen, dass wir unsere unguten Gefühle verstecken. Wir versuchen sie uns weg zu denken. Dabei übersehen wir, dass sich Gefühle nicht wegdenken lassen. Denn sie sind wahr, wir fühlen sie ja im ganzen Körper. Wenn wir Angst haben, spüren wir Angst,  wenn wir trauern, trauern wir um einen Verlust, wenn wir wütend sind, gibt es einen Grund für unsere Wut.  Wir alle sind verwundbar und wir alle wurden und werden verletzt und wir alle erleben Verluste.  Die meisten von uns haben vor nichts mehr Angst als die damit einhergehenden Gefühle zu spüren und zu diesen Gefühlen zu stehen. Wozu ist das gut? Es ist gut für das Funktionieren. 

Wer schwach ist fällt aus – er funktioniert nicht mehr im Sinne unserer Leistungsgesellschaft. Er wird nutzlos und ist nicht mehr zu gebrauchen. Also denken wir doch bitte alle mal positiv.
Erich Fromm fasst es so zusammen: „Das positive Denken mit seinem Glücks- und Heilsversprechen ist inzwischen zu einer allgegenwärtig anzutreffenden Norm geworden, deshalb gerät immer mehr in Vergessenheit, dass ein lebendiger und empfindender Mensch gar nicht umhin kann, oftmals in seinem Leben traurig und bekümmert zu sein. Hieran sind nicht nur die vielen unnötigen Leiden schuld, die auf die Unvollkommenheit unserer gesellschaftlichen Einrichtungen zurückzuführen sind, sondern es liegt im Wesen der menschlichen Existenz begründet, dass es unmöglich ist, dass wir nicht mit mannigfachem Schmerz und Kummer auf das Leben reagieren. Da wir lebendige Wesen sind, müssen wir uns voll Trauer darüber klar sein, dass zwischen dem, was wir erreichen möchten, und dem, was wir in unserem kurzen, mühsamen Leben erreichen können, eine tiefe Kluft besteht. Da der Tod uns vor die unvermeidliche Tatsache stellt, dass entweder wir vor denen, die wir lieben, sterben werden oder sie vor uns - da wir täglich um uns herum unvermeidliches wie auch vermeidbares und überflüssiges Leiden mit ansehen müssen - wie können wir es da vermeiden, Kummer und Traurigkeit darüber zu empfinden?" 

Das wahnsinnige Heilversprechen des positiven Denkens hat diese negative Entwicklung der Verdrängung unserer wahren Gefühle massiv unterstützt und teilweise erst möglich gemacht. Die künstliche Fixierung auf das „positive Wunschdenken“ aber hat fatale Folgen für die Seele. Der "krampfhafte" Versuch des positiven Denkens- und Fühlen Wollens als weiterer Selbstoptimierungsversuch des modernen Menschen macht nicht nur die Seele, sondern auch den Körper auf Dauer krank, denn es schließt Teile des ganzen Menschen aus, es stigmatisiert sie als schädlich und störend für unser Leben. Ganz im darwinschen Sinne – nur die Stärksten überleben,  überfordern sich Menschen mit dem Glauben sie müssten ihre wahren Gefühle manipulieren, aus unguten gute machen, um ein perfektes Leben zu leben, ohne Tiefen, krisenfrei, happy und schwerelos. 


Ich habe es lange vergeblich versucht, meine Reaktion auf eine bestimmte Situation zu verändern. Ich habe es mit allen möglichen Affirmationen des Positiven Denkens probiert. Nichts hat geholfen, immer wieder bin ich in die gleichen alten Verhaltensmuster zurückgefallen und habe mich danach auch noch über mich selbst geärgert und mich damit schlecht behandelt. Heute weiß ich, wie sinnlos es ist eine neue Programmierung über eine alte zu stülpen. Das ist so wie wenn man auf einem rutschigen Boden ein Fundament für ein Haus errichten will. Es wird nicht gelingen. Ich muss den Boden sanieren, in der Sprache der Seele heißt das – ich muss mein Unterbewusstsein durchforsten aufräumen um Klarheit zu gewinnen, um einen stabilen Grund zu schaffen, um in meinem Haus wohnen zu können und zwar in dem Haus in dem ich wirklich wohne und nicht in der Traumvilla von der ich träume und akzeptieren, dass genau das mein Haus ist und mich darin einrichten. 

"In unserer Kultur sind am erfolgreichsten die", schreibt der Psychologe und Autor Arno Gruen "die am meisten von ihren Gefühlen und von der Fähigkeit zum Mitgefühl abgeschnitten sind. Wir glauben, wenn wir zu jemandem sagen "Das schmerzt mich", sind wir schon unterlegen. Das stimmt aber nicht. Es zeigt gerade, dass wir stark genug sind, das zu sagen, ohne dem anderen damit ein Unterwerfungssignal zu geben." 

Wirkliche Stärke bedeutet wahrhaftig sein, es bedeutet zu dem zu stehen wer und was wir sind, mit allem was uns ausmacht. Die Betonung liegt auf allem – also aller Gefühle und aller Gedanken, die wir haben. Stärke bedeutet auch aufhören zu können, wenn man spürt, dass man schwach ist, sich sich selbst zuwenden und was gefühlt wird ernst zu nehmen. Uns ernst nehmen - mit allen unseren Gefühlen. Stark sein bedeutet nicht wegzusehen, nicht sich zu verstecken vor dem was da in uns ist, oder es uns schön oder wegzureden und damit uns selbst und anderen etwas vorzugaukeln.

Sich selbst ernst nehmen, das ist authentisch. Authentizität bedeutet echt zu sein, ehrlich und wahrhaftig zu sein mit anderen Worten: unser Denken, unser Fühlen und unser Handeln stimmen überein. Ein selbstbewusster Mensch lässt seine Gefühle zu, er achtet sich selbst, er quält sich nicht mit einem krampfhaften positiven Denken müssen, er macht sich selbst und anderen nichts vor, um den Schein des „alles ist gut“ zu wahren. Ein selbstbewusster, starker Mensch weiß, dass das Zulassen aller Gefühle ihn zu dem führt, was wir als kleines Kind einmal konnten, nämlich –  zu fühlen was ist und damit wahrhaftig sein. Schädlich ist alles, was wir mit Macht verdrängen. Alles Verdrängte holt uns an irgendeiner Stelle wieder ein, es fordert die Beachtung, die im zusteht.

Deshalb beginnt Heilung da, wo wir das Ganze fühlen dürfen, und nicht indem wir Gefühle, die in uns sind, abspalten. Neulich sagte eine Klientin zu mir: „Ich will, dass das jetzt endlich weggeht, dieses Scheißgefühl, gibt es da keine schnellere Methode, irgendwas, Hypnose oder so?“ Ich höre so etwas oft und ich versuche zu erklären, dass jedes Wegmachen, jedes Abspalten letztlich zu einer Verengung und Begrenzung unserer menschlicher Kapazitäten im Bewusstsein auf seelischer, geistiger und emotionaler Ebene führt. Viele Menschen glauben „heil sein“ bedeutet keine Probleme mehr zu haben, keine Ängste, keine Trauer, keine Wut mehr zu fühlen. Aber all das nicht mehr fühlen zu wollen ist krank, im Sinne von gefühllos sein. Das ist der Wahnsinn der Normalität, der Wahn vom perfekten dauerhaft glücklichen Menschen.

Seit Anbeginn der Psychoanalyse vor gut hundert Jahren, mit dem Ziel die seelische Landkarte des Unbewussten zu erschließen, wurde die Macht der Gefühle zum Thema empirischer Wissenschaften. Körper und Geist bilden eine Einheit, Empfinden, Fühlen und Denken sind untrennbar miteinander verbunden. Die verschiedenen geistigen Prozesse finden zwar in unterschiedlichen Regionen des Gehirns statt, sind aber miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig. Wie also soll das gehen Gefühle, die nicht sein dürfen, wegzudenken, ohne diese Einheit massiv zu stören, ohne dabei krank zu werden? Gefühle und Empfindungen vermitteln zwischen bewussten und unbewussten Prozessen. Das bedeutet – nur über meine Gefühle komme ich zu mir selbst, zu dem Menschen, der ich wirklich bin – ich werde mir meiner selbst bewusst. Die Grundlage dieses Selbstbewusstseins ist das Empfinden im eigenen Körper. 

Der Grundsatz des französischen Philosophen Descartes "Ich denke, also bin ich" hat sich längst überholt. Er steht im Gegensatz zu den Forschungsergebnissen international bedeutender Hirnforscher und dieser Grundsatz lautet: "Ich fühle, also bin ich". Wer sein Eigenes zugunsten einer Identifikation mit einer Gesellschaft des sich positiv denkenden Selbstoptimierungswahns verwerfen muss, wird zeitlebens von einem unbewussten inneren Selbsthass begleitet sein, der sich von innen nach außen frisst, ein Hass, der das Gefühl für sich selbst vernichtet und damit auch das Gefühl für Andere. Mit dem Negieren der eigenen Gefühlswelt in ihrer Gesamtheit geht folgerichtig auch das Mitgefühl zugrunde, ein Grund warum die Gesellschaft in der wir leben, auf Dauer nicht überlebensfähig sein wird.


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