Dienstag, 21. Dezember 2010

Eier abschneiden, oder über die Natur des Bösen

Vom Bösen sprechen bedeutet von der Gefährlichkeit des Menschen für den Menschen sprechen. Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen anderen Menschen "Böses" antun, müssen wir uns mit dem auseinandersetzen, was wir in uns selbst verabscheuen. Diesen Teil von uns wollen wir nicht sehen. Wir neigen dazu ihn zum Schweigen zu bringen, indem wir den bösen Fremdem "vernichten", weil er uns ähnlich ist.

Doch die Neigung zum Bösen entspricht der Natur des Menschen. Es ist eine Empfindung wie das Gute. Das Böse ist das, was uns nicht lieb ist. Wir spalten es ab.

Ob Völkermorde, Gewaltverbrechen, die alltägliche Demütigung von Kindern durch ihre Eltern, von Frauen durch Männer - und das sind nur Beispiele für Hass und Gewalt - alle haben eine Gemeinsamkeit: das Gefühl, das sie erzeugen: das Gefühl der Abscheu vor dem anderen, dem Fremdem, der Böses tut.

Die mit dem Finger auf das Böse zeigen, sehen sich selbst als "gute" Menschen. Das böse Gegenüber verdient ihres Erachtens diese Bezeichnung nicht. Der andere wird zum Unmenschen degradiert, zum wertlosen, schlechten Subjekt, das nichts Gutes mehr verdient, nicht einmal eine Chance es zu versuchen. Es ist als würde man sich durch diese Anklage selbst reinigen.

Indem man andere als böse bezeichnet, befreit man sich vom Verdacht des eigenen Schmutzigseins.

Das Sauber sein, das Gutsein wird auf diese Weise zum Unterscheidungsmerkmal vom "Nichtmenschen". Dieser wird nicht einmal mehr in seiner individuellen Menschlichkeit wahrgenommen. Er wird vernichtet, ausradiert, zum Teufel gemacht. Er gehört nicht mehr zur Gruppe Mensch. Er wird zum Subjekt des Hasses. "Aufhängen!", "Eier abschneiden!", wie oft hören wir das, wenn ein Täter nicht die von der Gruppe als gewünscht gerechte Strafe bekommt.

Die Gruppe der "Guten" mit ihren individuellen Mitgliedern solidarisiert sich. Im Kollektiv verschwinden die konkreten Gefühle des Einzelnen, seine Einstellungen, Moral und Ethik aus dem Blickfeld. Die Persönlichkeit wird auf eine einzige Eigenschaft reduziert: die Zugehörigkeit zur Gruppe und ihren Zielen. Besonnenheit und Empathie verschwinden.

Besonnenenheit, die Fähigkeit zu reflektieren, die Fähigkeit zur Empathie ist eine Grundanlage des Menschseins. Letztere ist abhängig von den Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn. Frauen haben mehr als Männer, Gewalttäter, nach einer Untersuchung des Hirnforschers Gerhard Roth, weniger davon. Das nur nebenbei.

Empathie ist die Schranke zur Unmenschlichkeit. Diese zu übertreten ist in der Gruppe leichter.

In der Gruppe verliert der Mensch seine moralischen Hemmungen. Die Gruppe, stets angeführt von einem Ersten, der Impulse setzt, der agiert, baut sich ein gemeinsames Feindbild auf. Gerichtet auf das Fremde, auf dessen Unreinheit, dessen Böses, verfällt der Mensch in die Projektion. Er hat endlich ein Aussen, in das er das eigene Fremde, das eigene Böse und die eigene Wut auf die eigene Unreinheit ergießen kann. Carl Gustav Jung nannte das: die Projektion des Schattens auf das Gegenüber mit dem Ziel das eigene verdrängte Dunkle, Böse nicht sehen zu müssen.

Hitler war ein Meister der Instrumentalisierung diese Phänomens der menschlichen Unterbewussten. Er machte die Juden zum bösen Fremden, das sein Volk zersetzen würde. Er schuf ein kollektives Feindbild um ein Kollektiv zu beherrschen. Die Masse der Deutschen wurde zu Mittätern.

Das ist Geschichte? Nein, es funktioniert noch heute. Heute ist es ein Sarrazin, der Migranten zum Feindbild erhebt, heute sind es Gruppenzusammenläufe, die sich einen Feind aussuchen, um all das eigene Abgespaltene abzugeben. Das Ziel: In der Gestalt des Feindes kann man den eigenen abgewiesenen Teil des Selbst, das eben nicht rein und gut ist habhaft werden.

Um sich auf diesem Weg vom verbotenen Eigenen zu befreien beschwören solche Menschen den Gehorsam. Eine teuflische kollektive Psychose, die zum Selbstverrat des Menschlichen führt und zur inneren Entfremdung des Individuums.

Fremdenhass hat auch immer mit Selbsthass zu tun. Indem wir den anderen "töten" töten wir die Menschlichkeit in uns selbst.

Unter dem Deckmantel einer Law and Order Gesellschaft, die Gehorsam, Moral und Macht glorifiziert, wird der Mensch zum freiwilligen Knecht, im Zweifel zum Schergen einer faschistischen Ideologie. Das beschrieb schon der Philosoph Ètienne de la Boétie im Jahr 1550. Zitat:" Sie leiden darunter Knecht zu sein, aber diese Verlorenen, diese von Gott und den Menschen Verlassenen lassen sich das Unrecht gefallen und geben es nicht dem zurück, er es ihnen antut, nein, sie geben es an die weiter, die darunter leiden, wie sie und sich nicht helfen können."

Auf diese Weise funktioniert die Identifikation mit dem Agrressor, dem, der das Feindbild aufbaut. Mit dieser Identifikation fällt der Mensch jedoch nicht nur auf seine eigenes inneres Nichtgutsein zurück, sondern auch auf die Wunden, die Verletzungen, die Demütigungen, die ihm im Laufe seines Lebens zugefügt wurden. Verletzungen, die er vermeidet wahrzunehmen, vermeidet zu fühlen, denn die Ohnmacht auszuhalten ist unerträglich. Also spaltet er ab und übt den Gehorsam, den ihm die Idealisierung der Macht auferlegt, aus dem einen Grunde - um seine scheinbare Integrität zu sichern.

Wer will schon hinschauen auf das eigene Schlechte?

Es schmerzt. Zudem wäre es ein Verstoß gegen das Gebot des Gehorsams, das die Idealisierung der Macht ihm auferlegt.

Der lebenslange Versuch, das eigene Böse zu verdrängen, den eigenen Schmerz nicht zulassen zu wollen, macht den Menschen zum Opfer, dass sich immer wieder Täter sucht, um sich selbst nicht bestrafen zu müssen.

Die Unvernunft, die Blindheit sich selbst im Ganzen erkennen und begreifen zu wollen, das mangelnde Bewusstsein über die Komplexität des Menschseins mit all seinen Defekten - darin besteht das Prinzip des Bösen.

Und es besteht in der Dummheit, der Gedankenlosigkeit und der Kulturlosigkeit von Menschen. Wenn die Menschen zugrunde gehen, gehen sie an ihrer Dummheit zugrunde. Und wie heißt es so schön: Gegen die Dummheit kämpfen selbst die Götter vergebens.





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen