Sonntag, 24. Mai 2020

Sinn und Verzweiflung


 
Foto. A. Wende


Wenn wir zufrieden sind mit unserem Leben, wenn wir Glück empfinden, wenn es uns gut geht, denken wir nicht über den Sinn nach. Das Nachdenken über den Sinn im Leben stellt sich meist dann ein, wenn wie Erschütterungen erfahren oder eine Krise erleben.
Aber was ist Sinn? 

Das Leben wird als sinnvoll erfahren, wenn wir Ziele haben, wenn wir einverstanden sind mit dem, was ist und wie es ist. Sinnvoll erleben Menschen ihr Leben, wenn  es einen wertvollen Zusammenhang zwischen dem ICH und dem Ziel des eigenen In-der-Welt-seins gibt. 
Oder um es mit den Worten Viktor Frankls zu sagen: “Wer ein Warum im Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Dieses Warum ist es, das uns hilft, auch problematische, leidvolle und krisenhafte Zeiten zu überstehen. Die Wurzel unserer seelischen Gesundheit liegt darin ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben zu haben, was bedeutet, Selbstwirksamkeit zu empfinden und die Erfahrung im Leben etwas zu bewirken. Dieses Gefühl stärkt das Selbstbewusstsein gegenüber Fremdbestimmung und dem Geworfensein in die Welt. Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle bedeuten – ich wirke von Innen ins Außen, ich gestalte mein Leben nach meinen Vorstellungen und Werten, nach meinen Anlagen und meinen Fähigkeiten, die ich habe, und deren ich mir bewusst bin und - ich setze diese auch um. Der Verlust von Selbstkontrolle und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit in der Begegnung mit dem Leben, führt zu Ängsten und Depressionen, zu Identitätskrisen und Sinnverlust, und schließlich in die Resignation vor der scheinbaren Übermacht des Außen.

Wer sich seiner Selbst nicht bewusst ist, wer sich selbst keinen Wert zuschreiben kann, verliert sich selbst. Wer sich selbst nicht als wertvoll und als wertvollen Teil in seiner persönlichen Welt empfindet, beginnt sich zu schämen, er beginnt sich selbst zu verachten und endet im Zweifel in einer Spirale lähmender Hilflosigkeit. Er fühlt sich als Spielball des Schicksals und verhält sich so. Er lässt sich treiben im Meer der gefühlten Sinnlosigkeit. Er hat das Gefühl zu ertrinken, wenn von Außen keine Rettung kommt.

Aber schafft Selbstbewusstsein allein schon Sinn?
Nein, denn unser Selbstbewusstsein ist eine labile Größe, es ist zu erschüttern und es ist manipulierbar. Wenn in Krisen oder bei Verlusten Selbstverwirklichungswünsche mit dem Erlebten kollidieren, bekommt unser Selbstwertgefühl Risse oder es geht im schlimmsten Falle verloren. Je nachdem wie hoch oder wie niedrig der Eigenwert empfunden wird, leidet der Mensch an den Brüchen in seiner Biografie. Er scheitert also am Verlust des Eigenwertes, nicht aber an dem, was ihm geschieht. Wer seinen Wert als Mensch erkennt und fühlt, wird zwar Krisen auch leiden, er wird vielleicht sogar für eine Zeit lang Sinnverlust empfinden, aber er wird den Sinn wieder herstellen, denn er weiß - er ist der Schöpfer seines persönlichen Lebensinns. Und dieser kann und darf sich wandeln. 

Wann stellt sich Sinnverlust ein?
Sinnverlust stellt sich nicht radikal ein, er ist dann bedroht, wenn wir nichts mehr haben, was uns von Innen hält, wenn alles Äußere wegfällt. Je stärker wir den Sinn an Dinge, Geld, Status, Erfolg und andere Menschen binden, desto tiefer ist der Fall ins Leere, wenn diese Dinge oder diese Menschen aus unserem Leben verschwinden. Dann den Sinn des Lebens wiederzufinden, heißt nichts anderes, als eine neue Vorstellung von sich selbst und dem sozialen Umfeld wiederzufinden in das wir uns selbst wirksam einbringen können. Nur die klare Vorstellung von dem, was wir sind und sein wollen, das Gewahrsein der eigenen Identität verbunden mit dem Wirken selbstständigen Handelns vermittelt uns das Gefühl von Sinnhaftigkeit, das wir daran festmachen können, dass wir uns innerlich gefüllt fühlen. Unsere eigene erlebte Gestaltungsmacht füllt unsere Seele. Die Welt wird dann als sinnvoll, als verstehbar- und gestaltbar erfahren, wenn wir eine klare Vorstellung von uns selbst haben, wenn wir wissen wer wir sind und was wir von unserem Sosein in die Welt geben wollen.

Das Leben schuldet uns nichts, nicht einmal einen Sinn, aber wir „schulden“ dem Leben etwas - ihm einen Sinn zu geben.  
Tun wir das nicht machen wir uns an uns selbst „schuldig“, in dem Sinne, dass wir uns selbst verwehren oder zerstören, was uns der Schöpfer geschenkt hat – unser Leben. In der Sinnkrise verachtet der Mensch sich selbst und sein Leben – im Sinne von: er achtet es nicht mehr. In der Missachtung des eigenen Daseins wird die eigene Identität konturlos oder sie löst sich gänzlich auf. Wir kennen das in der Depression und schließlich in der Verzweiflung, dem schlimmsten Affekt. 

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard wagte um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Behauptung, kein Mensch lebe oder habe gelebt, ohne dass er verzweifelt gewesen sei. Daher sei es keine Seltenheit, dass jemand verzweifelt, sondern - im Gegenteil - das Seltene, ja sogar das sehr Seltene sei, dass jemand nicht verzweifelt ist. Und er behauptete weiter: „Sich nicht bewusst zu sein, dass man verzweifelt ist, heißt noch lange nicht, nicht verzweifelt zu sein.“

In der Sinnkrise wird die Verzweiflung ins Unbewusste verlagert. Die Leere, die gefühlt wird, ist nicht anderes als schiere Verzweiflung am Verlust des Lebenssinns, die Verzweiflung am eigenen Sein, das wirkungslos geworden erstarrt und als nutzlos empfunden wird. 
„Zweifeln“ heißt zweifachen Sinnes sein, sich in der Schwebe zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten halten. So mündet zweifelndes Denken im besten Falle aus dem wogenden Meer der Möglichkeiten in den sicheren Hafen. Das Ziel des Denkens geht vom Ungewissen über das Mögliche zum Ziel hin. Wer aber am Leben verzweifelt erlebt den Verlust aller Möglichkeiten und damit den Lebenssinn.

Wir alle können den Sinn verlieren, auch ich kenne das. Immer wieder gab und gibt es Momente in meinem Leben in dem die Verzweiflung wie eine riesige Welle über mir zusammenbricht. Momente, in denen mich die Ohnmacht  wie ein schwarzer Schatten überfällt. Dann schwimme ich um aus der Tiefe der Wellen wieder nach Oben zu kommen. Das erfordert Kraft und führt auch immer zu Kraftlosigkeit, aber es bedeutet: Überleben, trotz und mit der Schwäche, die immer noch ausreicht um einen Sinn zu finden, auch da wo der alte verloren ist.

Sinnsuche und Sinn geben, das können nur wir selbst. Wir finden ihn nicht indem wir Vorgedachtes und Vorgelebtes übernehmen.  
Den Sinn des Lebens darf jeder selbst für sich suchen und finden, und im Zweifel auch wieder verlieren und wieder neu finden. Der Mensch ist Schöpfer, der sich zu jedem Zeitpunkt seiner Biografie selbst aus der Taufe hebt, wenn er sich dessen bewusst ist. Es ist an uns selbst den Sinn in das eigene Leben hineinzulegen, um ihn dann herauslesen zu können. Das ist Sinngebung und dem folgt Sinnempfinden. Den Sinn des eigenen Lebens finden, heißt: sich in Zusammenhänge hinein zu denken. Dem eigenen Leben Sinn zu geben heißt: die Zusammenhänge in unserem Leben erkennen, den roten Faden zu erforschen, ihn weiter zu spinnen und zwar an unserem eigenen Spinnrad und nicht die Fäden den Händen anderer zu übergeben.  

Kierkegaard behauptet nicht, dass der Zweifel notwendigerweise zur Verzweiflung führt. Er behauptet aber, dass der Zweifel sich dann in Verzweiflung ergibt, wenn er an einen Punkt gelangt, an dem er nicht mehr weiter weiß. Solange wir noch zweifeln, verzweifeln wir nicht, dann gibt es noch Alternativen und Möglichkeiten. Erst wenn diese restlos ausgeschöpft sind, macht sich die Verzweiflung breit, dann ist der Mensch erschöpft – es kommt zum Bruch zwischen Ich und Welt.

„Ich gehe davon aus, dass es sich bei der Verzweiflung um eine bestimmte phänomenale Ausdrucks-und Erlebnisqualität einer psychischen Befindlichkeit handelt, die den ganzen Menschen in leiblichen, emotionalen, motivationalen und kognitiven Hinsichten erfasst, und die sich von der phänomenalen Qualität anderer Befindlichkeiten unterscheiden lässt. Um auf diese Art und Weise zu erkennen, ob man selbst oder jemand Anderes verzweifelt ist, muss man dann zwar bestimmte phänomenale Qualitäten introspektiv oder am Verhalten des Anderen wahrnehmen, aber man muss nicht wissen, was sich kausal oder funktional, hormonell oder neuronal in Gehirn und Nervensystem dieses Menschen abspielt.“ Schreibt Friedhelm Decher in seiner Monographie "Verzweiflung. Anatomie eines Affektes."

Der  Affekt der Verzweiflung stellt sich Decher zufolge also dann ein, wenn sich ein Mensch in einer absolut hoffnungs-und ausweglosen Lage befindet, die sich dadurch kennzeichnet, dass er keine Wahl mehr hat, dass ihm jegliche Freiheit der Entscheidung genommen ist. Verzweiflung wäre demzufolge der Verlust von Wahl-und Entscheidungsfreiheit.

Ich sehe das anders. Für mich ist Verzweiflung der Moment wo wir das Gefühl haben nicht mehr weiter zu wollen, obgleich es Möglichkeiten gäbe. 
In der Verzweiflung können wir sie zwar durchaus noch sehen, aber sie nicht mehr ergreifen. Wir sind emotional dazu nicht mehr fähig, warum auch immer. Das ist Moment in dem wir Hilfe brauchen um mit dieser Hilfe nach Etwas zu suchen, was uns aus dem tiefen Meer der Verzweiflung herauszieht. 

"Wessen wir am meisten im Leben bedürfen ist jemand, der uns dazu bringt, das zu tun, wozu wir fähig sind." Schreibt Ralph Waldo Emerson

Ein verzweifelter Mensch braucht ein Gegenüber, das ihn versteht und  seine Verzweiflung annehmen kann und nicht vor ihr zurückschreckt aus dem Gefühl eigener Hilflosigkeit heraus.  Jemand, der vor der Wucht der Verzweiflung des anderen nicht flieht . 
Wir brauchen jemanden, der uns aktiv hilft, indem er uns Denk- und Handlungsalternativen anbietet, die uns zu einer neuen existentiellen Einstellung verhelfen. Wir brauchen eine neue Sinngebung. Diese kann damit beginnen unsere Gewordenheit mit allem was uns ausmacht, anzuerkennen, mit dem was war Frieden zu machen, Verantwortung für unseren Lebensweg zu übernehmen und daraus die Konsequenzen für unseren weiteren Lebensweg zu ziehen. 
Wenn es uns gelingt die Vergangenheit anzuerkennen und, ganz gleich wie sie war, produktiv auf unsere Gegenwart zu beziehen, können wir lernen, angemessen mit der Gegenwart umzughen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Dann sehen wir wieder Möglichkeiten, die uns aus der Verzweiflung auferstehen lassen wie Phönix aus der Asche.



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