Sonntag, 27. September 2020

Wenn die Möglichkeiten begrenzt sind

 

                                                                Foto: A. Wende

 

In der alten Normalität stand uns eine Unendlichkeit von Möglichkeiten zur Verfügung. Das ist jetzt anders. Wir müssen das Leben in der neuen Normalität neu lernen. Jetzt stehen wir alle so ein bisschen im Nichts. Was selbstverständlich war ist zerbröckelt oder verloren. 

 

Wir müssen uns vieles wieder neu erarbeiten. Wir müssen vieles überarbeiten und vieles überdenken. Wir müssen selektieren was nicht mehr möglich ist und was noch machbar ist, optimieren was uns noch bleibt und kompensieren, was wir verloren haben durch die Krise. Wir müssen uns klar darüber werden worauf unser Leben beruht und was wir zum Leben wirklich dringend brauchen.

 

Wenn die Möglichkeiten begrenzt sind, müssen wir uns fragen: Was sind meine Möglichkeiten, die ich realisieren kann um dem Leben Sinn zu geben, so wie es jetzt ist.

Samstag, 26. September 2020

Die Pandemie, die Psyche und wie wir uns stabil halten

 



Es hört nicht auf. Corona zieht durch die Welt und reißt alle für uns sicher geglaubten Säulen des vertrauten Lebens mehr und mehr nieder. Acht Monate nach Beginn der Krise müssen wir erkennen: Für die Corona-Krise fehlt jede Referenz. Der Virologe Christian Drosten spricht von einer Naturkatastrophe. Die kämpferischer Vokabel der Medien lautet: Wir führen einen Krieg gegen einen unsichtbaren Gegner. Wir sind nicht im Krieg, aber wir erleben eine Krise, in der es um die Bedrohung der Gesundheit und zugleich um die Bedrohung der wirtschaftlichen und finanziellen Existenz aller geht. Wir erleben Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ohnmacht und Hilflosigkeit führen zu Dauerstress. 

 

Unser Gehirn strebt nach Kontrolle und findet sie nicht. Das Gewohnte ist brüchig, der Boden auf dem wir gehen wackelt, planen können wir nichts mehr sicher und auch nur kurzfristig, unsere Lebensmöglichkeiten und unsere persönliche Freiheit ist eingeschränkt. Wir leben mit Geboten und verboten. Unsere persönliche Selbstbestimmtheit ist fragmentiet und bedroht. 

Und jetzt kommt der Herbst. "Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen“,  befürchtet Christian Drosten. Ein zweiter Lockdown scheint nicht ausgeschlossen. In München tragen Menschen jetzt auf vollen Plätzen und Straßen Masken. 

 

Herbst 2020 und wir stehen einer düstern Vorhersage gegenüber, die eine Flut von Gefühlen, die uns zwar schon die ganze Zeit begleiten, in ihrer Intensität verstärkt. Je nach Persönlichkeit und persönlicher Lebenssituation reagieren Menschen mit Ängsten und Panik, mit Depression, Trauer, sozialem Rückzug, Selbstisolation, Ignoranz, Leugnen, Resignation, Aggression oder Wut. Der Alkoholkonsum ist gestiegen, ebenso die Selbstmordrate. Häusliche Gewalt und Aggression nehmen drastisch zu. Manche Menschen gehen auf die Straße und rebellieren. Manche verweigern sich den Regeln.  

 

Alles untaugliche Versuche um die gefühlte Kontrolle über das eigene Leben wieder herzustellen. Und hinter all den Gefühlen liegt als Urgrund: Todesangst. Todesangst bedeutet den Verlust des Lebens, den Verlust der Lebendigkeit, das Ende des Seins und damit das Ende aller Möglichkeiten. Täglich konfrontieren uns die Medien mit dem Tod. Todesangst ist die Angst, die wir alle haben, aber bisher erfolgreich verdrängt haben, die meisten jedenfalls. Aber jetzt gibt es kein Ausweichen mehr. Wir sind konfrontiert mit dem Tod, auch wenn wir nicht alle an Corona sterben – wir erleben Verluste, Abschiede, Trennungen, im schlimmsten Falle Krankheit und Leid. All das sind  Erfahrungen, die dem Sterben gleichen. Sterben im Leben. 

 

Leben ist auch Sterben, aber das haben wir lange verdrängt. Vieles um uns herum, vieles in unserem persönlichen Leben, vieles an Vertrautem, an Gewohntem, an Möglichkeiten stirbt oder ist bereits gestorben. Wir müssen gezwungenermaßen von Vielem Loslassen was uns liebt und teuer ist. Sogar von liebgewonnen Gewohnheiten und sei es nur der Theaterbesuch. Die Folge: Ein chronisch erhöhter Angstpegel. Verluste machen Angst und die Aussicht auf weitere Verluste macht noch mehr Angst.

 

Angst führt zu Dauerstress. Dauerstress entsteht wenn wir keine Lösungsmöglichkeiten sehen und demzufolge mit der Situation oder dem Problem komplett überfordert sind. Hinzu kommt ein weiterer Stressfaktor: Das Ausmaß und das Ende der Krise ist nicht abzusehen. Der Ausgang ungewiss. Wir erleben ein so hohes Maß an Machtlosigkeit wie wir es nicht kennen. Wir erleben Kontrollverlust auf vielen Ebenen.

Manche Menschen kompensieren Stress indem sie sich Kontrolle vorgaukeln um ihre Gefühle von Unsicherheit und Hilflosigkeit zu  kompensieren. Bei anderen wiederum stellt sich unter emotionalem Stress mehr und mehr eine selektive Wahrnehmung ein, die nur noch die bedrohlichen Aspekte des Lebens aufnimmt und andere positive ausgeblendet. Das Gefühl der Unsicherheit und Ungewissheit führt bei Menschen mit einer Disposition zu Ängsten zur Verstärkung dysfunktionaler Denkmuster. Es kommt zu katastrophisierendem Denken.  

 

Je länger die Bedrohung anhält, umso unberechenbarer sie ist, desto mehr versagt letztlich bei fast allen Menschen die Fähigkeit zur Selbstregulation. Selbstregulation und Selbstberuhigung sind das, was wir jetzt nötig brauchen um diesen Herbst ohne größere psychische Schäden zu bewältigen. Selbstregulation ist die Fähigkeit, mit der es uns gelingt  unsere Emotionen, unsere Aufmerksamkeit, unsere Impulse und Handlungen zu steuern um nicht zum Opfer der Umstände zu werden. Zur Selbstregulation gehört auch die Kompetenz, kurzfristige Befriedigungswünsche längerfristigen Zielen unterzuordnen. Und das müssen wir jetzt gerade alle notgedrungen. 

Die Medizinsoziologie definiert Selbstregulation als „eine permanente, flexible, bedürfnisorientierte Eigenaktivierung in Bezug auf den Körper und die physische und soziale Umwelt mit dem Ziel, dort Bedingungen und Zustände zu erreichen, die sowohl eine kurzzeitige Bedürfnisbefriedigung ermöglichen als auch eine Selbstorganisation derart stabilisieren, dass eine Entwicklung und Integration unterschiedlicher Bereiche für eine effektive Problemlösung gewährleistet wird.“ Eine gute Selbstregulation besteht dann, wenn wir fähig sind uns auf Gegenwärtiges auszurichten, das Wohlbefinden, Lustgewinn und Sicherheit ermöglicht oder als Sinnerfüllung erlebt wird. Dann spricht man von einer Situations- und bedürfnisangepassten flexiblen Selbstregulation. 

 

Das Erlernen der Fähigkeit zur Selbstregulation ist ein Autonomietraining, das uns hilft auch in Krisenzeiten und Phasen emotionaler Überflutung bei uns selbst zu bleiben. Wenn wir lernen uns selbst zu regulieren stärken wir unsere Fähigkeit durch Eigenaktivität unser mentales und emotionales Wohlbefinden zu steigern, uns selbst zu beruhigen und wieder Sicherheit zu erreichen. Je besser uns die Selbstregulation gelingt, desto mehr fühlen wir wieder das gerade jetzt so lebenswichtige Gefühl von Kontrolle über uns selbst, wir erfahren, dass wir allen äußern Umständen zum Trotz unsere eigenen Gefühle und unser Verhalten aktiv selbst regulieren können. Selbstregulation ist somit ein entscheidender Faktor für die Prävention seelischer und körperlicher Krankheiten. Zur Selbstregulation gehört sich selbst achtsam wahrzunehmen und zu erkennen, was uns hilft unser Wohlbefinden im gegenwärtigen Moment steigern.

Alle Entspannungsmethoden, insbesondere  Achtsamkeitsübungen, Yoga und Mediation, die wir regelmäßig praktizieren, sind hilfreiche und effektive Methoden um uns selbst zu beruhigen. Auch alle kreativen Beschäftigungen und Aktivitäten helfen uns dabei im Moment zu bleiben und geben uns das Gefühl autonom etwas zu gestalten und Herr im eigenen Haus zu sein. Durch Achtsamkeit wird übrigens nicht nur die Selbstregulation gesteigert, auch die Konzentrationsfähigkeit nimmt zu. Wir lernen uns auf den Augenblick zu konzentrieren und destruktive Gedanken und angstbesetzte Befürchtungen nicht permanent an uns herankommen zu lassen uns unsere Psyche stabil zu halten.
Darüber haben wir noch die Kontrolle. 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 21. September 2020

Liebe braucht nicht

 

                                                                Foto: A. Wende


Da sind so viele Löcher in uns und all diese Löcher sind die Quelle unseres Brauchens. Wir brauchen einander. Wir kennen es nicht anders, seit Kindesbeinen brauchen wir andere um zu überleben.
Wir verlieben uns, weil wir einander brauchen.
Der Zauber der Verliebtheit lässt uns glauben die Einsamkeit zu überwinden. Er lässt uns glauben das Bedürfnis nach Sicherheit, unser Angewiesensein auf Anerkennung und Wertschätzung zu erfüllen.
Und wir spüren irgendwann - das ist eine Illusion.

Der Zauber des Verliebtseins ist wie der Rausch einer Droge, flüchtig. Am Ende der Verliebtheit sehen wir wieder die Löcher, die wir mit dem Verliebtsein gefüllt haben und sie sind schwärzer und tiefer als zuvor. Der Irrtum, den wir dann begehen ist, dass wir die Löcher in uns für die Löcher in der Beziehung halten, dann, wenn wir eine Weile miteinander leben, wenn die Schwierigkeiten kommen, die Probleme, der Streit, die Gleichgültigkeit und am Ende das Verlassen. Dann glauben wir die Beziehung ist das Problem, oder der andere ist das Problem, weil wir unsere eigenen Löcher des Brauchens vergessen haben.

Liebe braucht nicht.
Weil die Liebe nicht braucht ist ihr Blick klar. Ein reifes Ich in dem die Liebe wohnt, ist sehend. Liebe ist kein schicksalsschwangeres Mysterium, das irgendwo in einem anderen Menschen auf uns wartet. Liebe ist das Selbst eines reifen Ichs, das nicht besitzen will, das keine Bindung anstrebt, sondern Verbundenheit mit sich selbst und allem fühlt.

Solange wir diese Verbundenheit nicht spüren, wollen wir einander besitzen, wollen wir dass er, sie, uns glücklich und ganz macht.
Und wir halten das Brauchen für Liebe.
Die Liebe kennt kein Brauchen, keinen Zweck. Sie ist. 
Wenn wir in der Liebe sind, können wir nicht ins Leere fallen.

Verzweiflung, Wut, Schmerz, Trauer und Angst sind nicht vermeidbar, wenn eine Verliebtheit zu Ende ist. All dies sind die enttäuschten Gefühle des Brauchens, das Verlust erleidet. Über den Verlust der Verliebtheit hinaus, steht das Ich wieder alleine da.
Diese Begegnung mit dem Ich ist immer wieder die Chance zur Entdeckung der Liebe.
Ich erkenne mich selbst im Alleinsein.
Ich erkenne die Wahrheit, die mir das Brauchen vernebelt hat: Jeder ist allein. Der Glaube zu Zweit dieses Alleinsein überwinden zu können entpuppt sich als Schimäre, weiter nichts. Der Glaube, dass das Du das Ich komplett macht ist eine Illusion.

Je unvollständiger das Ich ist, desto mehr braucht es ein Du.

Es ist unser Unvollständigsein, das braucht und nicht geben kann, ohne zu erwarten zu bekommen, ohne zu erwarten, dass die Löcher gefüllt werden, die Leere ein Ende hat. Ewig sind da diese Erwartungen an den anderen.
Aber was kann man erwarten? Eigentlich nichts.

Solange wir erwarten sind wir eng.
Enge ist Angst.
Angst hat Erwartungen.
Angst will Kontrolle.
Angst will festhalten.
Angst will Erwartungen festhalten, die auf Vorstellungen gründen, wie etwas zu sein hat, wie der andere uns zu begegnen hat, wie er uns zu lieben hat, damit wir glücklich sein können und ganz.

Wenn wir nicht mehr erwarten haben wir keine Angst mehr. Wir können empfangen. Dazu müssen wir offen sein und damit beginnen unsere Erwartungen nicht mehr an andere zu stellen.

Erwartungen an uns selbst und das eigene Leben erfüllen, damit fangen wir an.
Offen sein für uns selbst. Erst wenn wir eine tiefe Verbindung mit uns selbst fühlen, die uns erfüllt, können wir geben, ohne nehmen zu wollen, ohne zu brauchen – ohne Erwartungen.
Dann ist eine echte Verbindung mit einem anderen möglich. Dann ist Liebe.
Wir wissen um die Löcher und wir haben keine Angst mehr hineinzufallen.
Weil wir wissen: Was sie füllt, ist die Überwindung des Brauchens.
Liebe braucht nicht, das wissen wir, aber wir haben es nicht anders gelernt.
Wir dürfen dazu lernen.


Sonntag, 20. September 2020

Vertrauen wir auf uns selbst

 

                                                        Foto: Angelika Wende

 

Plötzlich stehen wir allein da.

Es gibt den Vertrauten nicht mehr mit dem wir gemeinsam durchs Leben gehen.

Wir müssen es alleine tragen. Uns alleine tragen.

Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen.

Wir fühlen uns hilflos, bedürftig und klein.

 

Wozu ist das gut?

Wo wir uns klein fühlen, dürfen wir wachsen.

Wo wir uns bedürftig fühlen, dürfen wir uns unserer Bedürfnisse gewahr werden und sie uns erfüllen lernen.

Wo wir uns hilflos fühlen, dürfen wir in unsere Eigenmacht kommen.

Wir dürfen wachsen. 

 

Woran wachsen wir?

Wir wachsen immer dann, wenn das Leben nicht so mitspielt, wie wir es uns wünschen.

Wenn äußerer Halt und vertraute Strukturen wegbrechen auf die wir uns verlassen haben, dürfen wir lernen uns selbst zu halten und uns selbst Struktur zu geben.

Jetzt sind wir gefragt. Wir sind gefragt, das was ist, zu meistern.

Und noch kein Meister ist vom Himmel gefallen.

 

Das Beste was wir jetzt tun können ist nicht schnell wieder einen ähnlichen Zustand herzustellen wie er zuvor war. Das Beste was wir tun können ist, das was jetzt da ist, anzuschauen. Genau hinzuschauen, was wir mit den Trümmern und Fragmenten, die da vor uns liegen, neu zusammenfügen können, damit es für uns lebenswert ist.

So beginnen wir, wenn die Trauer um den Verlust nachlässt, mit dem Selbstheilungsversuch.

Er beginnt mit dem Alleinsein. Mit der Bereitschaft unser Alleinsein anzunehmen und es nicht als nur Verlust anzusehen, sondern als Gewinn. 

 

Unser Alleinsein ist nicht schlimm. Es ist keine Katastrophe. Es ist nicht das Ende.

Es IST einfach. Hier und Jetzt.

Wenn uns das Annehmen dessen was ist gelingt, sind wir bereit dafür zu erkennen, was gerade gelebt werden will. Alleinsein will gelebt werden um das zu tun, was du vielleicht sehr lange nicht getan hast: Dich dir selbst zuwenden, dich deiner Wahrheit, deinen Gefühlen, deinen  weggelegten Träumen, deiner Vorstellung von Leben zuzuwenden, dich selbst zu entdecken, Selbstfreundschaft zu entwickeln und vieles mehr.  

 

Vertrauen wir auf uns selbst.

Wir Menschen sind so angelegt: Wir suchen immer nach hilfreichen Wegen, nach etwas, das uns erfüllt. Wir können uns da absolut selbst vertrauen.

Auch wenn es dauert.

Samstag, 19. September 2020

Unterwegs sein

 

                                                                Foto: Angelika Wende

 

 

Zu verstehen, warum ich bin, wie ich bin, was mich zu dem gemacht hat, der ich bin, ist für mich hilfreich. Denn nur was ich verstehe, dem komme ich nah. Ganz nah. So nah, dass ich es fühlen und umarmen kann. Mich verstehen bedeutet: ich gehe den Weg nach Innen. 

Dort ist das einzig wahre Abenteuer, wie C. G. Jung einmal sagte.

Es hört nicht auf, das Abenteuer ICH. Es ist leicht und schwer, glücklich und traurig, schön und unschön und und und ... Es ist alles. Immer ist es alles. Leben. Ich in diesem Leben, das alles ist Leben.

Nein, ich werde es nie vollkommen verstehen das Leben, mich selbst nie vollkommen verstehen, aber ich muss nicht alles verstehen. 

Mir gefällt der Weg, die Suche. Es geht nicht ums Ankommen, es geht ums Unterwegssein.

Es wird Herbst und ich bin jetzt alleine unterwegs. 

Es ist okay. Manches lebt sich ab.

Es verlässt uns, weil das, was es uns geben konnte, was es uns lehren konnte, was es uns empfangen, verstehen und erfahren ließ, zu Ende ist.

Abgelebtes, gelebte Zeit, gelebtes Gemeinsames,  wird zur Erinnerung. 

Vorbei. Eine Zäsur.

Das Alte verbschieden. Immer wieder sind es Abschiede. 

Teilstrecken, die gegangen sind.

Und immer bleibt etwas zurück im Herzen.

Und weiter unterwegs sein.

 

 

 


Freitag, 18. September 2020

Du bist nicht allein

 

                                                                           Foto: A. Wende

 

Wenn du dich alleine fühlst, mach dir in einem stillen Moment einmal bewusst, womit du verbunden bist.

Mach es dann, wenn dich das Gefühl des Getrenntseins überkommt. 

Mach es dann, wenn du dich einsam fühlst oder verlassen.

Was ist es, was da alles um dich herum ist?

Schau dich um. Schau ganz bewusst auf das, was alles da ist.

An schönen Dingen, an Natur, an Tieren, an Menschen. Menschen, die du liebst, die zwar nicht an immer deiner Seite sind, die du aber im Herzen trägst. 

An Erinnerungen an das Schöne, das Wahre und das Gute und an das Glück, das du gefühlt hast.

An all die schönen und warmen Momente der Zuneigung und der Liebe, die du erleben durftest.

An all die geistigen Verbündeten, die Dichter und Denker, die du gelesen hast und mit ihnen gefühlt  und dich verbunden gefühlt und aufgehoben, durch Worte, die deine Seele berühren. Und immer wieder kannst du dahin zurück.

An all die Orte, die du besucht und gesehen hast und die Erlebnisse an diesen Orten. Ihre Gerüche, ihr Licht, ihre Stimmung.

An all die Kunstwerke, die du gesehen hast und sehen kannst.

Die Musik, die du gehört hast und hörst. Deren Klang dich berührt, wann immer du berührt werden willst.

An die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die dir im Moment nicht erfüllt wird, aber in dir ist. Auch wenn sie sich traurig anfühlt. Sie ist und schon die Sehnsucht nach Liebe ist Liebe.

All das lebt in dir.

All das verbindet dich mit allem.

Lass es wirken.

In dich hinein wirken.

Du bist nicht allein. 

Niemals bist du allein. 


 

 

 


Dienstag, 15. September 2020

Lerne zu erkennen, wenn jemand deine Knöpfe drückt und hör auf extrem zu reagieren

                                                                        Foto: A. Wende


Deine Knöpfe werden gedrückt, wenn du dich verletzt, ängstlich, wütend, selbstmitleidig, beschämt, schuldig oder verwirrt fühlst. Wenn dich jemand so fühlen macht, weist dies darauf hin, dass du getroffen bist. Du bist betroffen. Etwas in dir ist betroffen und du bist in einer Reaktion gefangen. 

Du reagierst auf etwas im Außen, was etwas in deinem Inneren trifft, das ganz viel mit dir selbst zu tun hat. Der andere, der deine Knöpfe drückt, ist nur der Auslöser für etwas, was du in dir selbst nicht sehen kannst, verdrängst oder nicht erledigt hast. 

Manchmal provozieren andere deine Reaktion. Bewusst oder unbewusst.

Aber je bewusster wir uns unserer Selbst und unserer Knöpfe sind, desto klarer sind wir uns darüber, dass wir nicht reagieren müssen. Wir müssen emotional nicht mehr außer Kontrolle geraten, weil wir wissen, was in uns gerade getroffen wurde. Meist sind es alte Gefühle, alte Erfahrungen, alter Schmerz, den wir verdrängen oder noch immer nicht erlöst haben.

Wenn also einer deine Knöpfe drückt, könntest du ganz bewusst auf deine Gefühle achten, sie beobachten, wahrnehmen und innerlich sagen: Aha, interessant! 

Das macht das also mit mir.

Warum macht es das mit mir?

Wo habe ich noch ein Problem mit oder in mir?

Und du lernst. 

Du lernst mehr und mehr zu erkennen welche Reaktionen sinnlos sind, nervenaufreibend und unverhältnismäßig. 

Du hörst auf automatisch, zu viel und zu extrem zu reagieren. 

Du erkennst mehr und mehr die Menschen, die sich so verhalten, dass du auf eine bestimmte Weise reagierst. 

Du vemiest ihnen den Spaß daran deine Knöpfe zu drücken und bist gelassen.

Du entziehst dich ihrer Kontrolle und gibst ihnen keine Macht mehr über dich.

Du spielst das Spiel nicht mehr mit und kümmerst dich um dich selbst. 

Du erlaubst ihnen nicht mehr dich betroffen zu machen.

Du kümmerst dich um dein inneres Gleichgewicht. 

 

Samstag, 12. September 2020

Was passiert wenn wir gut für uns sorgen



Es gelingt uns nach und nach, uns selbst mit all unseren Stärken und Schwächen anzunehmen.
Wir denken, handeln und reden, wie es zu uns passt und hören auf uns zu verbiegen um anderen zu gefallen.
Wir spüren immer öfter Stimmigkeit und lernen danach zu leben.
Wir kennen unsere Bedürfnisse und erfüllen sie uns selbst, so weit es in unserer Macht liegt.
Wir tun alles, was uns hilft und heilsam wirkt für unseren Körper, unseren Geist und unsere Seele.
Wir wissen, was für ein Mensch wir sein wollen. Das bedeutet: Wir kennen unsere Werte. Wir richten uns auf sie aus und folgen ihnen.
Wir wachen aus allen Illusionen auf und akzeptieren was ist, auch wenn wir es gerne anders hätten.
Wir werschätzen, bejahen und würdigen uns selbst.
Wir tun uns selbst nicht mehr weh und lassen uns nicht mehr weh tun.
Wir haften nicht an Menschen, Beziehungen und Situationen, die uns verletzen oder emotional vergiften.
Wir setzen gesunde Grenzen und halten sie ein.
Wir kümmern uns zuerst um uns selbst, anstatt uns im Kümmern um andere zu verlieren oder aufzugeben.
Wir wissen, wann unsere Hilfe vergeblich ist und lassen es sein.
Wir kümmern uns selbstmitfühlend um den eigenen inneren Zustand.
Wir hinterfragen ungute Gewohnheiten und belastende Zwänge und lassen, was uns schadet.
Wir schaffen immer wieder Raum und Zeit für Stille und Ruhe.
Wir installieren heilsame Rituale.
Wir kultivieren Achtsamkeit.
Wir achten unsere Gefühle, beobachten sie, erkennen sie an und wissen, dass sie vorüber gehen, auch die belastenden.
Wir entlarven unsere Selbstlügen und sind radikal ehrlich zu uns selbst und damit auch zu anderen.
Wir gehen freundschaftlich und fürsorglich mit uns selbst um.
Wir glauben an uns selbst, auch in Krisenzeiten.
Wir suchen uns Hilfe, wenn wir alleine nicht weiterkommen.
Wir erlauben uns schwach zu sein, wenn wir schwach sind, weil wir wissen, das ist wahre Stärke.
Wir sind dankbar für das Gute, was wir haben.
Wir tun jeden Tag unser Bestes - für uns selbst und die, die wir lieben.
Wir machen kleine Schritte und drängen uns nicht.
Wir haben Geduld mit uns selbst.
Wir vertrauen dem Prozess.

Freitag, 11. September 2020

Aus der Praxis – Die Generalisierte Angststörung

 

                                                                  Foto: A. Wende

 

Meine Klientin leidet unter Ängsten, die immer unerträglicher werden. Sie hat Panikattacken und zeigt depressive Symptome. Sie traut sich nichts mehr zu. Sie macht immer weniger von dem, was sie früher gerne gemacht hat, weil sie Angst hat sich wegen der Aerosole im Fitnessstudio oder in geschlossenen Räumen mit Covid 19 zu infizieren. Seit Corona ist ihr Zustand schlimmer geworden, sagt sie. Auch ihren Beruf kann sie nicht mehr ausüben, da sie als Künstlerin keine Arbeit mehr hat. Sie verbringt daher die meiste Zeit allein zuhause und hat kaum Freunde. Sie sagt, die Einsamkeit empfinde sie als Bedrohung. Ihr Leben wird immer enger und das mache ihr noch mehr Angst. Wenn alles so bleibt will sie nicht mehr leben. Die Angst sei so groß, dass sie an manchen Tagen völlig gelähmt sei, sich ständig Sorgen mache und nichts Sinnvolles mehr tun kann. Sie habe schon immer Ängste gehabt, eigentlich seit sie ein Kind ist. Die Angst war ihr lebenslanger Begleiter. Nur wenn sie in Beziehung ist, sei diese Angst kleiner. Sobald sie allein ist empfinde sie das Leben als bedrohlich. Sie könne sich auch nicht wirklich freuen oder es genießen, wenn es ihr mal gut geht, sofort kommt dann der Gedanke: Das bleibt so nicht, das Unglück kann jeden Moment  über sie hereinbrechen. Sie erzählt aus ihrer Kindheit. Das Mädchen wächst mit einer Mutter auf, die stark hypochondrisch ist. Es verbringt viel Zeit in Wartezimmern von Ärzten. Es erlebt eine Mutter, die ständig Angst hat, eine unheilbare Krankheit zu haben. Die Mutter ist so fixiert auf ihr eigenes Leid, das sie das Kind und seine Bedürfnisse nicht wahrnehmen kann. Der Vater ist aggressiv, er trinkt und ist mit der Mutter überfordert. Es gibt ständig Streit.  

Meine Klientin leidet unter einer Generalisierten Angststörung (GAS).

 

Risikofaktoren für eine GAS sind, neben einem ängstlichen Temperament, Lernerfahrungen, die zu einer ängstlichen Sicht auf die eigene Person und die Welt beigetragen haben. Betroffenen fehlt aufgrund dieser Lernerfahrungen das tragende Fundament, um in der Unberechenbarkeit der Welt zu bestehen.  

 

Von einer GAS betroffen sind oft Menschen, die durch die Unsicherheiten des Lebens mehr als andere belastet sind: Sie haben wenig Vertrauen in sich selbst und ihre eigene Problemlösungskompetenz.  

Sie haben eine besorgte Erwartungshaltung hinsichtlich potenzieller Gefahren entwickelt, deren Ursprung meist in einer Kindheit liegt, in der es keinen Halt und keine sicheren Bindungserfahrungen gab. Oft sind ihre Bezugspersonen selbst ängstlich vermeidende Persönlichkeiten oder sie sind in einem Milieu aufgewachsen, das aufgrund von ständigem Streit, Aggression oder Suchterkrankungen eines Elternteils oder beider Elternteile, unberechenbar und bedrohlich war. Viele von ihnen haben emotionalen oder auch körperlichen Missbrauch erfahren. Ihr gefühltes und verinnerlichtes Bild von Welt ist Bedrohung. Daher bildet sich bei diesen Menschen eine verzerrte Einschätzung von Bedrohungen aus. Sie erleben die Welt und das Leben grundsätzlich als unkontrollierbar und voller Gefahren. Sie nehmen schon als Kind, bedingt durch ein unberechenbares, emotional instabiles Umfeld, eine Haltung der ständigen Wachsamkeit ein, die sich bis ins Erwachsenenalter aufrecht erhält. Kommen dann Lebenskrisen, akute Belastungen oder gar Bedrohungen hinzu, wie bei meiner Klientin das Infektionsrisiko durch das Corona Virus, kann dies dazu führen, dass die Dauerangst auch dann nicht mehr abklingt, selbst wenn keine akute Belastung besteht. Der Körper steht über Jahre unter hormonellem Dauerstrom, was dazu führt, dass die Angst immer mehr Raum findet um sich auszubreiten. Um mit der Angst, es könnte etwas Schlimmes passieren umgehen zu können, beginnen Betroffene übermäßig viel über ihre Befürchtungen nachzudenken. Unbewusst hoffen sie dadurch, zukünftige Gefahren oder Bedrohungen berechnen und so verhindern zu können oder zumindest auf ein kommendes Unglück vorbereitet zu sein.  Was natürlich nicht möglich ist. Sie wissen das, aber das sich Sorgen machen fungiert bei der GAS paradoxerweise als Problemlösungsstrategie. 

 

Im Mittelpunkt der generalisierten Angststörung steht immer das sich Sorgen. 

Dabei ist es gar nicht der Inhalt der Sorgen, der entscheidend ist. Menschen mit GAS sorgen sich über die gleichen Dinge wie Menschen ohne große Ängste. Der Unterschied liegt im Ausmaß der Sorgen und im Maße indem sie das Leben beeinträchtigen. Das Ausmaß ist so groß, dass sich Betroffene mehrere Stunden am Tag und in der Nacht Sorgen machen. Ihr System befindet sich in permanenter Alarmbereitschaft. Die Folge davon sind: Schlafstörungen, chronische Erschöpfung, Muskelverspannungen, innere Unruhe, Herz- Kreislauf Probleme, Magen–Darm Störungen, übermäßige Nervosität und Konzentrationsstörungen.  

 

Dennoch, so sehr sie auch leiden, sie können mit dem sich Sorgen nicht aufhören. Es wird zu einer Sucht. Und zwar genau aus oben genanntem Grund: Sich ge­danklich mit seinen Befürchtun­gen zu beschäftigen, dämpft das Angsterleben. 

So beginnen sie, sich immer exzessiver zu sorgen. Der Teufelskreis nimmt kein Ende und die Seele findet keinen Frieden. Gedanklich werden immer wieder alle möglichen Katastrophenszenarien durchgespielt. Das Ende vom Lied: Die Sorgen nehmen immer weiter zu. Somit wird das Sorgen selbst zur Belastung. Viele Betroffene versuchen, das sich Sorgen in den Griff zu bekom­men, indem sie Auslöser mei­den, wie meine Klientin, indem sie immer mehr Situationen vermeidet, die für sie im Zweifel potentiell gefährlich sind. Manche neigen auch dazu sich Rückversicherungen bei vertrauten Menschen einzuholen, was aber nur eine kurzfristige Entlastung mit sich bringt, oder sie versuchen ihre Angstgedanken zu unterdrücken, indem sie sich ständig mit etwas beschäftigen und sich keine Ruhe gönnen. Sobald sie nämlich zur Ruhe kommen dreht sich sofort das Sorgenkarussell in ihrem Kopf.  

 

All diese Strategien sind leider nur kurzfristig entlastend, aber unangemessen um das Problem zu lösen. Auf Dauer verstärken sie das Problem sogar, weil die zugrundeliegenden Ängste abgewehrt werden, anstatt sie anzuschauen, sie zu verarbeiten und einen hilfreichen angemessenen Um­gang mit ihnen zu erlernen. Wird das nicht getan entwickelt sich zusätzlich eine negative Überzeugungen über das sich Sorgen. Gedanken wie: „Ich habe nichts mehr unter Kontrolle oder, „wenn ich weiter so lebe, werde ich krank oder verrückt“. Diese Gedanken führen zu zusätzlichen Ängsten. Betroffene landen in einer dauernden ängstlichen Erwartungshaltung mit einem permanent hohen seelischen und körperlichen Erregungsniveau. Die destruktive Angstspirale nimmt kein Ende mehr.  

 

Was hilft bei einer Generalisierten Angststörung?

Alle Interventionen, die direkt an den Sorgen ansetzen. Wie zum Beispiel die sogenannte Sorgenkonfrontation, bei welcher der Betroffene lernt, seine Sorgen konzentriert und bewusst zu Ende zu den­ken. Hilfreich sind auch alle Entspannungsverfah­ren, wie z.B. Mediation und Achtsamkeit. Zudem ist es hilfreich sich feste Zeiten einzurichten, an denen man sich sorgt, d.h. alle Sorgen auf diesen Zeitpunkt (Sorgenzeiten) zu verschieben. Vor allem aber müssen die Urängste, die zur GAS geführt haben angeschaut und verarbeitet werden. Es hilft wenig am Symptom herumzudoktern, der Weg geht in die Tiefe der eigenen Biografie. Es ist ein langer Weg, aber er führt am Ende wenn es gelingt, dazu, dass die Angst zwar nicht vollends verschwindet, aber nicht mehr das Leben beherrscht.

Meine Klientin ist auf dem Weg ...

 

Es wird aufhören



                                                                       

                                                                        Foto: A. Wende
 

Die guten wie die unguten Zeiten gehen vorüber.

Alles geht vorüber.

Es wird leichter werden.

Aber, dass es leichter wird, heißt nicht, dass es jetzt nicht weh tut.

Wenn Menschen versuchen deinen Schmerz kleiner zu machen, tun sie dir damit keinen Gefallen.

Und wenn du versuchst ihn kleiner zu machen, tust du dir auch keinen Gefallen.

Tu es nicht.

 

Es schmerzt, weil es real ist.

Es schmerzt, weil es Bedeutung hat.

Es ist wichtig, das du das anerkennst.

Aber es bedeutet nicht, dass es nicht besser wird.

Es bedeutet nicht, dass der Schmerz nicht aufhört.

Es wird aufhören, wenn es soweit ist.

Mittwoch, 9. September 2020

Die Flucht in den Tod – Gedanken zum Welttag der Suizidprävention am 10. September 2020

 


                                                            Malerei: Angelika Wende

 

 

Allein in Deutschland nehmen sich jährlich c.a. 10.000 Menschen das Leben.

Die Anzahl der Suizidversuche ist um ein Vielfaches höher. Suizidalität kommt in allen sozialen Schichten vor. Sie kann junge und ältere Menschen gleichsam betreffen. Studien zufolge sind jedoch Männer in fast jeder Altersgruppe wesentlich suizidgefährdeter als Frauen. Nur in der Altersspanne zwischen 15 bis 19 Jahren ist die Suizidrate bei Mädchen und Jungen in etwa gleich hoch. Besteht eine Selbsttötungsgefährdung spricht man von Suizidalität. Die Gründe für die Entwicklung einer Suizidalität und die sich anschließende Selbsttötung sind vielfältig. Eines aber haben alle Menschen, die sich selbst töten, gemeinsam: Sie befinden sich in einer verzweifelten Situation, die sie an ihre persönlichen Grenzen bringt. Sie können und wollen nicht weiterleben, weil sie einen unerträglich hohen Leidensdruck haben und keine Hoffnung mehr, dass sich etwas ändern könnte. Auf die Frage: Wozu weiter leben?, finden sie keine Antwort.

 

Wer sich selbst tötet hat den LebensSinn verloren.

Sinn ist dann bedroht, wenn ein Mensch nichts mehr hat, was ihn von Innen hält. Dann ist der Mensch verzweifelt. Ist der Sinn verloren wird die Verzweiflung ins Unbewusste verlagert. Die Leere, die dann gefühlt wird, ist nicht anderes als schiere Verzweiflung am Verlust des Lebenssinns - die Verzweiflung am eigenen Sein, das wirkungslos geworden ist und als nutzlos empfunden wird. Ein Mensch ist verzweifelt, wenn er an einen Punkt gelangt, an dem er nicht mehr weiter weiß. Solange er noch zweifelt, verzweifelt er nicht, dann gibt es noch Alternativen und Möglichkeiten. Erst wenn diese restlos ausgeschöpft sind, ist der Mensch erschöpft – es kommt zum Bruch zwischen Ich und Welt. 

Der einzige Ausweg: Diese Welt verlassen. Die Flucht in den Tod.

 

Viele Menschen glauben Suizide und Selbsttötungsversuche sind ein Symptom einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung, wie z.B. einer Depression. Tatsächlich aber konnten empirische Studien bisher keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Depression und Selbsttötung finden.  

So haben Langzeituntersuchungen ergeben, dass etwa 15% aller stationär behandelten depressiven Patienten an Suizid sterben. Ein Bestehen von ausgeprägten depressiven Verstimmungen konnte bei c.a. 70% der an Suizid Verstorbenen nachgewiesen werden. Zum Zeitpunkt von Suizidgedanken und Suizidversuchen zeigten sich zwar immer auch depressive Symptome,  andererseits berichtet ein Großteil depressiver Menschen niemals Suizidgedanken zu haben.

 

Um sich selbst zu töten gibt es viele Auslöser.

Das können Trennungen, Liebeskummer, der Verlust eines nahestehenden Menschen, Einsamkeit, Verlust der Existenz, Schulden, unerträgliche seelische und/oder physische Schmerzen, unheilbare Krankheiten oder psychische und körperliche Behinderungen sein, die der Betroffene nicht mehr ertragen kann.

Die Suizidforschung glaubt zwar, dass eine medikamentöse Behandlung  mit begleitender Psychotherapie einem Betroffenen helfen kann, ihn aber nicht  zwingend von einer Selbsttötung abhält. In einigen Fällen kommt es sogar vor,  dass sobald Betroffene ein Antidepressivum einnehmen und es anschlägt, erst die Kraft entsteht die Selbsttötung auch zu vollziehen.

Es ist enorm wichtig, dass Selbstmordabsichten möglichst früh vom nahen Umfeld der Betroffenen erkannt und vor allem ernst genommen werden. 

Nicht selten kündigen Menschen ihre Selbsttötungsabsicht immer wieder an. Selbstmordgedanken entwickeln sich in vielen Fällen über einen längeren Zeitraum. Man spricht dann von anhaltender Suizidalität. Diese ist immer mit einem langen Leidensweg verbunden. Dann plötzlich geschieht etwas, das dem Betroffenen den Rest gibt. Das Fass des nicht mehr Erträglichen kommt zum Überlaufen und wird zum akuten Auslöser für den Suizid. Nicht immer also reflektieren Menschen mit Suizidabsichten gründlich über diesen Schritt, in den meisten Fällen ist die Suizidhandlung eine Impulshandlung, die dann vollzogen wird, wenn der seelische Schmerz unaushaltbar wird. Ubrigens: Selbstmörder sind keine schwachen Menschen. Egal wie stark ein Mensch ist, es gibt in jedem Leben etwas, das einen Menschen so stark treffen kann, dass es ihn bricht.

Ich kann Menschen, die sich das Leben nehmen, verstehen. 

Ich kann absolut nachvollziehen, dass ein Mensch an einen Punkt kommt an dem er nicht mehr weitermachen will, weil der Schmerz, die Last, die Müdigkeit, die Enttäuschung, der Überdruss, die Trauer, der Ekel am Leben, so groß sind, dass seine Seele es nicht mehr schafft. Ich kann verstehen, dass ein Mensch, wenn er nach ewigen Anstrengungen keine Lösungsmöglichkeiten für seine Nöte und Sorgen sehen kann, beschließt, sich aus seiner Not zu befreien indem er den Tod wählt. Ich kann verstehen, dass das Gefühl des Scheiterns und der Sinnlosigkeit, die Einsamkeit und die Resignation so groß und übermächtig werden, dass da nur noch Verzweiflung ist. Manchmal ist die Verzweiflung so groß, dass nicht einmal mehr Hilfe angenommen werden kann. Die Seele ist müde. Sie hat aufgegeben. Das ist bitter. Das ist das Traurigste was einem Menschen widerfahren kann.

Jeder entscheidet für sich, jeder ist für sich selbst verantwortlich und damit ist er auch derjenige, der entscheidet, ob er sein Leben beendet, wenn er es nicht mehr aushalten kann. 

Aber was ist mit denen, die er zurücklässt?

Ich habe es erlebt, ich bin eine von denen, die zurückgelassen wurden. Eine von denen, die lange und vergeblich gekämpft haben um das Leben eines geliebten Menschen, der sich aufgegeben hat und keine Hilfe mehr annehmen wollte.
Was ist mit uns, die lieben und deren Liebe keinen mehr Wert hat für den, der sein Leben nicht mehr leben will? Weil er die Liebe nicht mehr spüren kann. Weil er innen tot ist.
Wir müssen erkennen: Liebe rettet nicht. Eine schreckliche Erkenntnis. Liebe, die nicht angenommen werden kann, richtet nichts aus. Hilfe, die nicht genommen werden kann oder will ist vergeblich. Auch das ist eine grausame Wahrheit, die schwer anzunehmen ist.
 

Was fangen wir damit an, wir die Zurückgelassenen? Wir haben die Wahl. Wir könnten sagen: Ja, so ist es und es akzeptieren oder wir können uns wehren gegen das was ist. Was dann? Dann leiden wir.

Vielleicht tröstet es ein wenig anzuerkennen: Wir haben keine Macht über andere Menschen.

Ich weiß, das macht den Schmerz nicht kleiner. Aber vielleicht die Wut auf den, der sich getötet hat, der uns und seine Familie verlassen hat, die ihn so sehr gebraucht hätten. Der uns zurückgelassen hat mit der Trauer, dem Schmerz, der Ohnmacht und der Frage: Haben wir wirklich alles getan um ihn zu retten?

Und wieder: Wir haben nicht die Macht einen Menschen, der sein Leben beenden will, davon abzuhalten. Und nein, es ist nicht unsere Schuld, dass wir es nicht vermögen. Es ist seine Entscheidung. Eine Entscheidung, die ihn in seinen Augen erlöst und uns damit Schmerz zufügt. Aber dieser Schmerz ist geboren aus Egoismus. Wir wollen nicht leiden unter seiner Entscheidung. Das zu erkennen tut weh, genauso weh wie es weh tut, dass ein Mensch, den wir lieben, sich aufgibt. Manchmal im Leben müssen wir erkennen, dass uns nichts bleibt als die Ohnmacht. Und das erfordert Demut. Eine der schwersten Übungen in diesem vergänglichen Leben.

Wenn ich heute, zwei Jahre nach der Selbsttötung meines geliebten Menschen, an ihn denke, empfinde ich noch immer Schmerz. Ich empfinde tiefes Mitgefühl und einen großen Kummer darüber, dass dieser Mensch so entsetztlich gelitten hat, dass er nur diesen einen Ausweg nehmen konnte. 

Möge er dort wo er ist, das gefunden haben, was er hier nicht mehr finden konnte.