Donnerstag, 29. Juni 2023

Akzeptanz ist der Schlüssel

 

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Akzeptieren was ist, heißt nicht, dass wir nichts tun.
Wenn wir etwas in unserem Leben nicht akzeptieren, bedeutet das, dass wir nicht bereit sind es anzuerkennen. Und das wird uns eine Menge Energie kosten.
Akzeptieren heißt nicht, dass wir passiv dasitzen und nichts tun. Akzeptieren ist die Beobachtung dessen was ist, ohne zu werten, ob es gut oder schlecht ist.
Es heißt, dass wir uns der Umstände dessen was ist, bewusst sind und zugleich wissen, dass alles was ist, sich wandeln wird. Denn das Leben ist Veränderung, immer.
Zunächst scheint alles unverändert zu sein.
Es ist wie es ist.
Wenn wir aber bereit sind anzunehmen was ist, machen wir schon einen Schritt in Richtung Veränderung.
Wir wissen: Es wird anders als es ist.
Wen wir uns aber beharrlich weigern anzunehmen was ist, bleiben wir im Ist-Zustand stecken. Wir sind verstrickt im Widerstand den wir leisten. Wir halten fest, was wir nicht akzeptieren können, und sind daran gebunden.
Wenn wir verstrickt sind, sitzen wir gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange und wir sind nicht in der Lage das zu erleben, was genau jetzt vor sich geht. Wir entziehen unsere Aufmerksamkeit dem gegenwärtigen Erleben, dem, was auch ist.
Wir sind starr und verbrauchen alle Energie um uns gegen das, was ist, aufzulehnen.
Genau damit halten wir es fest und es bleibt wie es ist.
Länger als es sein müsste.
Akzeptanz ist der Schlüssel.
Wir können nichts verändern, bevor wir es nicht akzeptiert haben.

Mittwoch, 28. Juni 2023

Aus der Praxis: Drama ist Intensität und Abwehr


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Drama ist ein Schauspiel. Es hat seine Protagonisten. Es braucht dazu mindestens einen von uns, besser zwei. Monologe sind okay. Dialoge sind lebendiger, intensiver.

Drama ist Intensität. All die Dramen, die wir aufführen, sind Schauspiele, von denen wir glauben, sie sind Wirklichkeit. Sinn und Zweck dieser Dramen ist es uns selbst und anderen zu beweisen, dass wir im Recht sind. In jedem Drama, das wir inszenieren, haben wir die Opferrolle. Wir sind die Leidenden, die, denen schweres Unrecht getan wurde oder wird, die, die das Recht haben zu klagen und anzuklagen. Die, die niemals verstanden wurden oder verstanden werden, die, die nie geliebt wurden und niemals geliebt werden, die, die kein Glück haben und denen ein gelingendes Leben verwehrt wird. Wir sind die, die nicht bekommen, was sie wollen, die Traumatisierten, die Zurückgewiesenen, die Übriggebliebenen. Wir sind die Opfer, die den oder die Täter attackieren, ihnen die Schuld geben, Abbitte fordern oder zumindest absolutes Verständnis.  

Wir sind die Opfer. Und wir sind es auch. 

Das bedeutet aber nicht, dass wir es bleiben müssen.

 

Opfer zu sein hat Vorteile. Es rechtfertigt alles auszuspielen, egal wie destruktiv, wie unheilsam und zerstörerisch es ist. Wir wollen uns selbst und den Zuschauern der Inszenierung beweisen, dass man uns Unrecht getan hat.

 Die meisten Drama Queens und Kings benutzen Drama auf eine Weise, die das Erleben des Leben massiv zerstört. Drama zerstört unsere klare Sicht, es zerstört unsere Beziehungen, die zu uns selbst und die zu anderen. Die aristotelische Dramentheorie besagt, dass das Drama Schaudern und Jammern beim Publikum auslösen soll. Am Ende soll es zu einer Reinigung, der Katharsis kommen. Funktioniert, auf der Theaterbühne.

Bei den Dramen, die wir auf unserer Lebensbühne aufführen bleibt die Katharsis aber aus.

Und darum geht es hier auch nicht. Es geht vor allem um den Kick.

 

Drama hat Suchtpotenzial. Es sorgt dafür, dass wir förmlich mit Adrenalin und Endorphinen überflutet sind und das Gehirn wird, je öfter wir dramatisieren, nach diesem Kick süchtig. 

Wir kreieren Dramen weil unser Gehirn süchtig nach diesem Endorphin-Kick strebt. Zumindest können wir, auch wenn wir uns dessen bewusst sind, dass unsere Dramen und nur schaden, deshalb nicht einfach damit aufhören.

Die Dramen die wir inszenieren sind meist unfreiwillig.

Den Wenigsten von uns ist es nicht bewusst, was wir da wieder und wieder inszenieren. 

Wir agieren aus, was wir nicht anders ausagieren können, weil uns die Mittel fehlen um das, was wir beweisen, rechtfertigen, haben wollen, auf gesunde Weise angemessen auszudrücken und zu äußern. Weil wir nicht gelernt haben gesund damit umzugehen, weil wir uns nicht die Mühe machen, all den dunklen Kram, der  uns leiden macht anzuschauen und uns an die Arbeit machen, um zur Katharsis zu gelangen.

Gefangen im Drama fehlt das Bewusstsein über das, was wir da tun, weil uns das Programm nicht bewusst ist, was da automatisch abläuft. Es reißt uns mit sich, wir können uns selbst nicht stoppen, wir haben keine Handhabe um uns zu regulieren. Unser Bewusstsein wird überflutet von all den unbewussten Emotionen und Erfahrungen, die sich anders keinen Ausdruck verschaffen können. Und es besteht nicht die geringste Chance das Drama zu beenden bis es ausagiert ist. Danach fühlen wir uns erschöpft. Erst mal. Der Druck ist raus. Aber es dauert nicht allzu lange und wir fühlen uns so richtig mies. Wir sind aus der Endorphine Trance aufgewacht und dürfen uns den Scherbenhaufen auf der jeweiligen Bühne anschauen.

Vielleicht tut es uns leid, nutzt nichts, das nächste Drama kommt sicher.

Es gibt Menschen, die ihre Dramen ein Leben lang aufführen, manche sogar täglich in kleinen szenischen Sequenzen und meinen so sei ihr Leben.

Das geht soweit, dass sie ihr Leben als langweilig oder gar sinnlos empfinden, ohne Drama. Da fehlt die Intensität, wie gesagt, der Kick.

Nur dieser Kick kickt sie in Wahrheit raus aus dem, was ein heilsames Leben sein kann, nämlich unter anderem: Gestaltung im besten Sinne und nicht Destruktion. 

Aufgang und nicht wieder und wieder inszenierter Untergang.

Drama ist Abwehr. Abwehr von all dem, was wir nicht anschauen wollen, von all dem Kram, den wir verdrängt haben und all dem, was wir vermeiden aufzuarbeiten. Drama ist das, was wir inszenieren, wenn wir in Trance sind, während wir wach sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Samstag, 24. Juni 2023

Aus der Praxis: Das ewige Opfer kannst du nicht retten

 



Das ewige Opfer kannst du nicht retten
Kommt dir das bekannt vor?
Du hast so viel Energie darauf verwendet, einem Menschen zu helfen, dass du zu wenig übrig hast für das, was dir wichtig ist. Du tust für ihn, was du besser für dich selbst tun solltest.
Du bist ein mitfühlender, liebevoller, fürsorglicher, Mensch, du möchtest, dass es dem/der, die dir am Herzen liegt gut geht. Und jetzt spürst du, dass du deine Energie verbraucht hast.
Du bist erschöpft, vielleicht hast du schon körperliche Symptome, vielleicht bist du schon krank. Du hast dich vollkommen verausgabt um jemanden zu helfen und das Erschütternde ist – du hast nichts bewirkt.
Was du lange Zeit, vielleicht über Jahre gegeben hast ist nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Rosen, die du gesät und gepflegt hast, sind nicht erblüht. Der andere hängt weiter in seinem destruktiven System fest und nicht das Geringste ändert sich, auch wenn er es immer wieder sagt.
Er nimmt deine Hilfe nicht an, auch wenn er ständig nach Hilfe ruft. Er klagt, er jammert, er leidet sichtbar, er sagt: Rette mich. Immer wieder. In Wahrheit aber will er sich gar nicht retten lassen, obwohl er so tut. Was er wirklich will ist deine Energie um sein unheilsames System aufrechtzuerhalten. Was er wirklich will ist: so weitermachen wie bisher.
Es gibt Menschen, die sich genauso verhalten. Alkoholiker und Suchtkranke z.B. oder Menschen, die die Vergangenheit und seelische Verletzungen nicht loslassen wollen. Sie fühlen sich als ewiges Opfer und haben sich in dieser Rolle eingerichtet. Sie wollen Opfer sein und bleiben. Sie sind ewige Opfer.
Welchen Benefit hat das?
Diese Menschen blockieren auf einer unbewussten Ebene jegliche Veränderungsansätze. Und das hat Vorteile, so paradox das scheinen mag.
Welche Vorteile sind das?
 
Opfer zu sein verschafft eine Identität.
Opfer sind „besonders“ vom Leben oder vom Schicksal bestraft, vernachlässigt, gequält und zum Leiden verdammt. Dieses „besonders“ verleiht ihnen das Gefühl genau das zu sein: besonders und einmalig. Ihr besonderes Leid ist es, was sie ausmacht, worüber sie sich definieren und was sie von anderen unterscheidet. Diese innere Überzeugung prägt ihre Opferidentität. Darum halten sie an ihrem Schmerz und ihrem Leid fest, denn: Was wären sie ohne das?
Opfer zu sein ist nicht selten ein unbewusster Racheakt gegenüber dem oder denen, die sie einst zum Opfer gemacht haben. "Mir geht es schlecht, die, der oder das Leben ist schuld. Sieh her wie ich leide!"
Opfer zu sein, verschafft Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Zuwendung.
Sie bekommen Zuwendung und Unterstützung in allen Lebenslagen. Erstaunlicherweise gelingt es ihnen immer wieder empathische Menschen anzuziehen, die bereit sind die Verantwortung für sie zu übernehmen und ihnen endlos Hilfe geben. Nur, diese Hilfe wird nicht angenommen und nicht als Hilfe zur Selbsthilfe genutzt, denn wäre das der Fall, würden sie genau das verlieren, was sie suchen: Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Zuwendung. Sie müssen nicht aktiv werden und keine Verantwortung für sich selbst übernehmen.
Opfer sein verleiht Macht.
Sie haben Macht über dich. Eine subtile manipulative Macht, die du gar nicht wahrnimmst, weil sie sich ja ständig als schwach und hilfsbedürftig präsentieren. Sie haben die Macht, dass du alles tust, damit es ihnen gut geht. Diese Macht speist sich aus dem Gefühl moralischer Überlegenheit, denn sie sind die Leidenden, an denen die Welt (Du) etwas gutzumachen hast. Diese Macht wird bis oft bis zum Exzess ausgespielt und im worst case gegen dich verwendet. Wenn die Dinge schieflaufen, wenn sich nichts zum Besseren wendet, bist du schuld, weil du dich nicht genug gekümmert hast, weil du nicht fürsorglich, verständnisvoll, lieb genug warst, weil du wütend warst. Du allein bist für alles verantwortlich, was ihr Leid schlimmer macht.
Ein typischer manipulativer Satz z.B. bei einem Alkoholiker klingt so: "Weil du dich nicht änderst, muss ich saufen."
Du bekommst ein schlechtes Gewissen und strengst dich noch mehr an.
Gründe warum Menschen in der Opferidentität stecken bleiben gibt es viele. Aber diese interessieren mich in diesem Kontext nicht. Denn nach Gründen graben oder zu analysieren, warum ein Mensch für den du alles tust, für den du dich vielleicht sogar aufopferst und nichts bewirkst, sich nicht ändert, ist typisch für Menschen, die in eine derart toxische Konstellation verstrickt sind: Sie wollen verstehen, sie verstehen und verzeihen nahezu alles, auch wenn es sie ihr eigenes Seelenheil kostet.
Sie vergessen, dass sie nicht die Therapeuten einer verletzen Seele sind, sondern Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen – und vor allem: Mit dem Recht auf eine gesunde Beziehung und die eigene seelische Unversehrtheit.
 
Genau das endlose Verstehen wollen führt dazu, dass sie irgendwann vollkommen ausbrennen, dass sie leiden, während der andere weitaus weniger leidet als sie selbst, auch wenn er so tut. Er ist weiterhin in seiner Komfortzone. Und du bist es, die sie aufrecht hält.
Diese Verstrickung ist unheilsam und hochtoxisch. Sie hilft weder dir noch dem anderen. Sie wirkt vielmehr wie ein sich selbst verstärkende Prozess, dessen Auswuchs dich am Ende krank macht. So weit darf es nicht kommen.
Du musst akzeptieren, dass all deine Mühe vergeblich ist. Du kämpfst wie Don Quichotte gegen Windmühlen.
Dazu musst erkennen:
Du hast keine Macht über andere Menschen.
Liebe rettet nicht, wenn der andere sich nicht retten lassen will.
Ein Mensch ändert sich nur, wenn er selbst dazu bereit ist. Solange du ihm die Verantwortung abnimmst, hat er keinen Grund sich zu ändern.
Jeder hat das Recht sein Leben so zu leben, wie er es will. Es ist seine Entscheidung. Er will es so.
Und du kannst absolut nichts daran ändern.
Der einzige Mensch, den du retten musst, um die unheilsame Verstrickung zu lösen, bist Du.
 
 
Wenn Du Dich aus einer solchen Verstrickung lösen willst, bin ich für Dich da.
Schreib mir eine Mail unter: aw@wende-praxis.de

Freitag, 23. Juni 2023

Aus der Praxis: Resilienz ist endlich

 



 
Resilienz, kurz: Die Fähigkeit, individuell oder kollektiv schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen, oder - die Fähigkeit, seine psychische Gesundheit während Widrigkeiten aufrechtzuerhalten oder danach schnell wiederherzustellen - ist zur Zeit in aller Munde.
Kein Wunder bei all den Katastrophen der letzten Jahre und dem Zustand unserer Welt. Es ist ungut, sehr ungut, was da vor sich geht, auf allen Ebenen. Und wir alle spüren das.
Da müssen wir Resilienz beweisen, um heil durch die Stapelkrisen zu kommen, um durchzustehen, was da noch kommen kann, um nicht zu verzweifeln oder der Resignation anheim zu fallen.
Der Buchmarkt ist voll von Büchern über Resilienz.
„So meisterst du jede Krise!“, wird verkündet. 
Na dann mal lesen. Nutzt leider nichts. So einfach ist das nämlich nicht mit der Resilienz. Man hat sie oder man hat sie nicht und ja, man kann sie lernen, aber das dauert und ich persönlich glaube nicht, dass das allen gelingt, so sie denn wollen. Das zeigt auch meine Erfahrung. Nicht alle Menschen sind gleich lernfähig und nicht alle Menschen sind gleichermaßen resilient. Die innere Widerstandskraft ist bei jedem von uns unterschiedlich stark ausgeprägt. Was den einen Menschen in Verzweiflung stürzt, ist für den anderen eine Herausforderung, die er meistert. 
 
Woher Resilienz kommt, weiß die Wissenschaft nicht so genau. 
Sie liege vornehmlich in den Genen, behauptet z.B. Der Neurowissenschaftler Raffael Kalisch, Mitbegründer des Deutschen Resilienz-Zentrums in Mainz. Er zählt drei erbliche Resilienzfaktoren auf: Intelligenz: Sie hilft, kreative Wege aus Krisen zu finden. Eine optimistische Lebenseinstellung: Das Vertrauen darauf, dass sich alles zum Guten wenden wird. Und Extraversion: Die Fähigkeit soziale Bindungen zu knüpfen.
Des Weiteren gibt es psychische Schutzfaktoren, die resiliente Menschen besitzen. Dazu zählt vor allem die Selbstwirksamkeitserwartung, die Überzeugung, dass man sein Leben aus eigener Kraft meistern kann, also die unerschütterliche innere Überzeugung: Egal was passiert, ich werde damit fertig. Menschen mit Selbstwirksamkeitserwartung zeichnet aus, dass sie sich nicht als Opfer der Umstände fühlen und keinen Schuldigen suchen, sondern nach einer Lösung, im Vertrauen, dass sie sie finden und dass sie funktioniert.
 
Nun kann man von sich behaupten, ich bin resilient.
Ist man auch, wenn man viele Krisen im Leben gemeistert hat und immer noch aufrecht dasteht. Frei nach Nietzsche: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Aber so einfach ist es nicht, ohne den ultimativen Härtetest weiß man eh nichts.
Es gibt Menschen, die viel überlebt haben, die immer stark und resilient waren. Plötzlich geschieht ein vergleichsweise kleines Ereignis und sie brechen komplett zusammen.
So berichtet der Resilienzexperte Boris Cyrulnik von einem Feuerwehrmann, der jahrelang unfassbar viel Leid gesehen hat, der unzählige Menschen das Leben gerettet hat und als er an einem Tag Kinder mit nackten Füßen über Eis gehen sieht, bricht der Mann zusammen. 
 
Resilienz ist endlich.
Langanhaltender oder immer wiederkehrender starker Stress, immer wiederkehrende seelische Erschütterungen belasten die Psyche und den Organismus enorm, vor allem wenn der Stress chronisch wird. Irgendwann kann auch der resilienteste Mensch zusammenklappen. Die bisher gelungene Abwehr gelingt nicht mehr. Die Resilienz ist erschöpft. Der Mensch ist erschöpft.
Warum ich das schreibe?
Weil ich solche Sprüche wie: „Wenn du nicht mehr kannst, mach einfach weiter!“, für hochgefährlich halte. Weil ich Sätze wie: „Du bist stark, du schaffts das auch noch!“, nicht mehr hören kann. Weil ich weiß, dass auch der stärkste Mensch irgendwann nicht mehr kann und dann darf er nicht mehr können.
Wenn du nicht mehr kannst, hör auf, denn wenn du nicht aufhörst und dich weiter antreibst, war es das im Zweifel.
Wir dürfen, wenn wir am Rande der Belastbarkeit stehen, innehalten. Wir dürfen kürzer treten, wenn wir erschöpft sind und wir dürfen uns Hilfe suchen, wenn wir nicht mehr können.
Wir dürfen sagen: Genug ist genug!
Wir müssen niemand beweisen wie stark wir sind, auch uns selbst nicht.
Auch das ist für mich Selbstliebe.

Mittwoch, 21. Juni 2023

Aus der Praxis: Grübeln führt zu immer mehr vom selben

 

                                                              Foto: A.Wende


Wir alle kennen es, wir möchten nicht an etwas Bestimmtes denken, aber wir können nicht damit aufhören. Quälende Gedanken können uns beherrschen. Mehr noch, sie werden zu Gefühlen, die uns besetzen, die unseren Tag beherrschen und uns in den Nächten den Schlaf rauben. Jedes Gefühl, das wir haben, kann internalisiert werden. Geschieht das, hört das Gefühl auf wie ein Gefühl zu wirken, es wird zu einem Teil unserer Persönlichkeit mit dem wir uns identifizieren.
Wenn wir uns bewusst machen, dass die Dynamik unseres Seins aus Gefühlen, Bedürfnissen und Trieben zusammensetzt ist, können wir uns leicht vorstellen, dass wir mir diesen Identifikationen eine Störung in diese Dynamik bringen. Das ganze System ist im Ungleichgewicht und wir reagieren und handeln aus dem internalisierten Gefühl heraus.
Es hat uns im Griff.
Es ist normal, dass wir mit uns selbst reden oder Dinge im Kopf hin und her denken. Menschen, die nicht grübeln, haben die Fähigkeit, Gedanken auch wieder zu stoppen. Und darum geht es - ums Stoppen. 
 
Warum grübeln manche von uns mehr?
Grübeln, in der Fachsprache "Ruminieren" genannt, hängt mit Hirnaktivität zusammen. Bei Menschen, die viel grübeln, zeigt sich eine erhöhte Aktivität im linken Gyrus frontalis inferior. Das ist eine Region im Gehirn, die besonders beim lauten Reden aktiv ist. Diese Region ist umso stärker aktiv, je mehr wir grübeln. Für die Hirnforschung ist das ein Hinweis darauf, dass Grübeln mit Sprache zu tun hat, genauer: mit dem Mit-uns-selbst-sprechen. Du kannst ja einmal beobachten wie oft du das am Tag so machst. Wer also viel innere Selbstgespräche führt, grübelt viel. 
 
Was wir brauchen ist ein Weg um uns von diesem belastenden Grübeln zu lösen, oder wie man in der Psychologie sagt: Wir disidentifizieren uns von unseren Gedanken.
Wie geht das?
In der Psychoanalyse wird zwischen verschiedenen Ich-Zuständen unterschieden. Wir haben ein sogenanntes Ego das uns mit Gedanken und Gefühlen überfluten kann. Aber all die Stimmen die wir so im Kopf haben - das SIND wir nicht. Wir sind nicht unsere Gedanken. Wir erschaffen sie und nicht sie erschaffen und beherrschen uns, auch wenn es sich so anfühlt. Diese einfache Wahrheit wird oft übersehen und viele von uns können sich nicht vorstellen, dass es so ist. Können wir uns aber darauf einlassen, haben wir eine gute Chance nicht weiter das Opfer unserer grübelnden Gedanken zu sein.
Wir können uns unsere Eigenmacht zurückholen, wenn wir wissen: Alles was wir denken, können wir beeinflussen, denn WIR sind es, die denken. Es gibt niemanden, der uns sagen kann: Du musst jetzt so oder so denken. Es ist unsere Interpretation der Dinge, die unsere Gedanken erschafft. Diese Interpretation läuft allerdings in Sekundenbruchteilen ab. Und manchmal merken wir es erst, wenn wir mitten drin stecken im Dilemma.
Viktor Frankl sagte einmal: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum“. Was er damit meinte ist, dass wir genau diesen Raum für uns nutzen können um nicht wie ein Pawlowscher Hund auf einen von außen kommenden Reiz zu reagieren. Wir haben diesen Raum, der eine Distanz zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Reiz und Reaktion, schaffen kann und dieser Raum ist ein hilfreiches Geschenk, wenn uns wieder einmal ein quälender Gedanke massiv zusetzt und wir in der Grübelfalle landen.
Hierzu gibt es eine einfache und wirksame Methode aus der Psychologie: den Gedankenstopp.
Der Gedankenstopp hilft nicht noch tiefer in die quälenden Gedanken zu fallen, sondern nach einer Lösung zu suchen und diese auch zu finden. Der Sinn des Gedankenstopps liegt darin, uns selbst aufzuwecken, bevor wir von destruktiven Gedanken überflutet werden.
Zugegeben das zu verinnerlichen ist schwer und es braucht Übung. Es braucht vor allem die Bereitschaft es zu üben.
Wie funktioniert diese Übung?
Sobald quälende Gedanken auftauchen:
Setz dich in aufrechter würdevoller Körperhaltung an einen stillen Ort und lass diese Gedanken bewusst zu. Dann sage laut „Stopp“ zu dir selbst. Du wirst überrascht sein, wie du plötzlich wieder im Hier und jetzt bist und die quälenden Gedanken an Intensität verlieren. Klappt nicht sofort, aber mit der Zeit.
 
Auch hilfreich ist es unsere Gedanken aufzuschreiben.
Statt denken, schreiben. Alles rauschreiben, was da oben in der Denkmaschine für Chaos sorgt. So sind die Gedanken erst mal aus dem Kopf und wir wenden uns aufmerksam dem Jetzt zu. Sicher, vergessen werden sie natürlich nicht. Aber die Auseinandersetzung damit wird pausiert und es kehrt für eine Weile Ruhe im Kopf ein.
 
Eine weitere Übung, die mir persönlich hilft, ist diese kleine aber sehr effektive Übung in Selbstmitgefühl:
Sag mitfühlend zu dir selbst: „Ja, so ist das. Es ist okay."
Wenn du magst, lege dabei deine Hände auf dein Herz und atme dabei ruhig ein uns aus. Tu das solange bis zu fühlst, dass es ruhiger in dir wird. Bei manchen Menschen nützt schon diese kleine Übung um innerlich wieder zu sich selbst zu kommen.
Und zum Schluss ein Zitat des Psychoanalytikers Roberto Assagioli:
„Ich habe einen Körper, aber ich bin nicht mein Körper.
Ich habe Gefühle, aber ich bin nicht meine Gefühle.
Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht meine Wünsche.
Ich habe einen Geist, aber ich bin nicht mein Geist.
Ich bin ein Zentrum aus reinem Bewusstsein.“
Man mag das nun glauben oder nicht, aber wer übt, weiß, dass er Recht hatte.

Freitag, 16. Juni 2023

Aus der Praxis: Wo toxisches Verhalten herrscht ist das Toxische das Problem.

 

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Viele Frauen, die zu mir kommen, weil sie in einer toxischen Beziehung stecken sind starke, erfolgreiche Frauen. In einer toxischen Beziehung zu landen hat nicht generell mit Schwäche, einem verletzen Inneren Kind, Trauma oder einem mit einem Helfersyndrom zu tun. Gerade starke Frauen landen oft in toxischen Beziehungen. Sie geraten schleichend in Co-Abhängigkeit oder in eine emotionale Abhängigkeit.

 

Es ist genau diese Stärke, die schwache, unreife, verantwortungslose, beziehungsunfähige, manipulative, narzisstiche oder suchtkranke Partner anzieht.

Eigenschaften wie Liebesfähigkeit, Empathie, Mitgefühl, HIlfsbereitschaft, Kraft, die Fähigkeit zuzuhören, der Wunsch zu verstehen, Fürsorglichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Loyalität, Toleranz, Unabhängigkeit sind positive Eigenschaften, die diese Frauen besitzen. Genau das macht sie so attraktiv für toxische Männer. Sie ziehen sie an wie Motten das Licht.

Wenn sie dann merken, dass sich Probleme in der Beziehung zeigen, fragen diese Frauen sich zuerst, was ihr Anteil am Problem ist und suchen nach einer Lösung.

In gesunden Beziehungen ist das eine Stärke. In gesunden Beziehungen werden beide gemeinsam eine Lösung für ihre Probleme suchen und konstruktiv damit umgehen.

In einer toxischen Beziehung ist das eine Falle.

Je mehr die starke Frau nach ihrem Anteil sucht, desto mehr Selbstzweifel kommen auf, desto mehr verliert sie den Kontakt zu sich selbst, desto mehr zweifelt sie an ihrer Wahrnehmung, desto schwächer wird ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl.

Sie wird klein und kleiner.

Im selben Maße nutzt der toxische Partner ihre Schwäche aus um sie weiter zu manipulieren, zu beschuldigen und damit zu destabilisieren.

Bis sie sich selbst nicht mehr erkennt.

Und dann fragt sie sich: „Was an mir ist falsch, kaputt, krank?

Wie konnte mir das passieren?“

Wie das passieren konnte?

Sie übernimmt eine Verantwortung, die nicht die ihre ist.

Wo toxisches Verhalten herrscht ist das Toxische das Problem.

 

 

 

 

 

Donnerstag, 15. Juni 2023

Schrei nach Liebe


                                                                           Zeichnung: A.Wende

 

Versuche dich zu erinnern, als du vor lauter Wut am Liebsten explodiert wärst. Aber du hast sie unterdrückt. Du hast die geballte Faust versteckt, sie fest zusammengepresst, die Lippen zusammengepresst., hast dich am Riemen gerissen, da wo du den Riemen am Liebsten ausgepackt hättest und vor Wut draufzuschlagen.

Erinnere dich an die dich zerreisende innere Spannung, weil du dagegen ankämpfst, dir deine Wut nicht erlaubst, weil ein guter Mensch sie gefälligst kontrolliert.

So hast du es gelernt, so hat man es dir gesagt, so hat man dir die Wut verboten und abtrainiert. Aber deine Wut ist nicht abzutrainieren, sie wächst, wenn sie keinen Kanal findet. Sie zeigt sich in den Rissen innen und außen, wenn die Haut der Lippen aufreißt, wenn du eine Rasierklinge nimmst und dich ritzt, um zu spüren, was du spüren musst, um nicht vor unterdrückter Wut zu implodieren.

Du hast sie verpackt die Wut in ein gutes Gewissen, stolz, dass du sie unterdrücken konntest. Dein gutes Gewissen, das doch nie gut war, sondern schlecht wegen der Wut, die du nicht haben sollst und darfst ob des Schlechten, dass sie dir angedichtet haben in ihrer Schlechtigkeit.

Du hast ihnen geglaubt und dein Schlechtes begleitet dich bis heute. Und nie wirst du es wagen sie schlecht zu nennen, oder nur in den dunklen Nächten in denen du allein mit dir dein Schweigen brichst und sie benennst, die Wut um dann vor Scham- und Schuldgefühlen nicht schlafen zu können. Du willst doch ein gutes Kind sein.

Und dein Gut sein wollen begleitet dich bis heute.

Und die Wut begleitet dich bis heute.

Aber heute darfst du wütend sein.

Gib dir jetzt die Erlaubnis!

Schrei sie raus die alte Wut, schrei sie Einem entgegen, der sie mit dir zusammen aushalten kann.

Lass ihn raus, den Schrei nach Liebe.

Compassion Fatigue - Mitgefühl ohne Grenzen ist Selbstzerstörung

 


                                                                  Foto: www
 

Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen. So kann man ihr Verhalten verstehen, vorhersagen, sich darauf einstellen und darauf antworten. Mitgefühl geht weit darüber hinaus. Es geht mit Gefühlen der Fürsorge, Zuwendung und Wärme einher und dem Impuls, aktiv Leiden zu lindern und zu helfen.
Ein mitfühlender Mensch kann sich den Auswirkungen kaum entziehen, den der ständige enge Kontakt mit leidenden Menschen hat. Irgendwann entsteht Mitgefühls-Stress. Wenn dieser Stress über längere Zeit anhält, führt er zu Mitgefühlsmüdigkeit (Compassion Fatigue).
Sie kann bei professionellen Helfern auftreten, bei Ärzten, Therapeuten, Rettungskräften, pflegenden Angehörigen und bei Menschen, die mit seelisch Kranken oder Suchtkranken leben.
Irgendwann ist die Batterie leer. Man hat sich verausgabt. Man ist erschöpft. Man fühlt im Extremfall Wut oder emotionale Taubheit.
Die Kraft zur Hilfe, die man gibt, ist nicht unerschöpflich.
Irgendwann brennt auch der stärkste mitfühlende Mensch aus und sein Mitgefühl züngelt nur noch als kleines Flämmchen. Dann ist es höchste Zeit die Reißleine zu ziehen und sich zur Abwechslung Selbstmitgefühl zu schenken.

Nur dass viele Mitfühlende das nur schwer können.
Sie sind so darauf programmiert anderen zu helfen, dass sie Selbsthilfe und Selbstmitgefühl gar nicht auf dem Schirm haben. Eine lange Zeit ist Mitgefühl nicht ermüdend, es gibt sogar Kraft und Energie. Man wird gebraucht, man hilft Menschen und macht die schöne Erfahrung: die Hilfe wirkt.
Manchmal aber wirkt sie nicht.
Dann kommt die Erkenntnis: Vergeblichkeit.
Man hat sich vergeblich engeagiert. Man hat nichts bewirkt. Man muss anerkennen: Nicht jedem ist zu helfen. Man hat alles gegeben und es kommt nicht zum gewünschten Erfolg.
Das geschieht, wenn man dort helfen will, wo ein anderer die Hilfe nicht annimmt, obwohl er sie wünscht oder, wenn der andere keinerlei Bereitschaft zeigt mitzuwirken, damit es ihm besser geht und weiter klagt und jammert.
Die Falle in die der Mitfühlende dann oft tappt ist selbstschädigend. Er macht immer mehr, anstatt loszulassen und die Vergeblichkeit seine Anstrengungen zu akzeptieren.
Mitgefühl sollte niemals dazu führen, sich zu verausgaben.
Das geschieht insbesondere dann, wenn der Mitfühlende auf das Ergebnis seiner Bemühungen fixiert ist und sich vom Erfolg derselben abhängig macht oder seinen Eigenwert darüber definiert.
Es geschieht dann, wenn er keine Grenzen setzt. Wenn er immer verfügbar sein will für die Nöte und Sorgen anderer und sich selbst und seine Bedürfnisse dabei völlig vergisst.
Es geschieht dann, wenn er seine Lebensenergie in andere fließen lässt ohne sie aufzufüllen, was heißt: sich Zeit und Muße zu nehmen für Dinge, die ihn inspirieren, Freude machen und seine Seele nähren.
Das geschieht dann, wenn er nur gibt, ohne etwas zu empfangen.
Es geschieht dann, wenn er grenzenlos ist und nicht spürt, wo das Du aufhört und das Ich anfängt.
Denn letztlich, bei allem Mitgefühl – jeder ist für sich selbst verantwortlich, wenn er nicht gerade geistig oder körperlich schwer erkrankt ist oder in lebensbedrohlicher Not.
Das vergessen die Mitfühlenden leicht. Angemessen helfen bedeutet nicht: Alles für den anderen zu tun oder ihn retten zu wollen. Es bedeutet: Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Ist das Mitgefühl erschöpft, ist es höchste Zeit die eigenen Grenzen neu zu justieren, denn Mitgefühl ohne Grenzen ist Selbstzerstörung.

Sonntag, 11. Juni 2023

Einsamkeit entsteht

 

                                                                      Malerei: A.Wende

 

 

Einsamkeit entsteht ...

Wenn du alles verlassen hast.

Wenn du keine Verbundenheit mit nichts und niemanden mehr spürst.

Sie entsteht, wenn du glaubst, dass du es nicht verdienst Verbundenheit mit anderen zu haben.

Sie ensteht, wenn du glaubst, du musst die Erwartungen anderer erfüllen um dazuzugehören, um gesehen und um geliebt zu werden.

Sie entsteht, wenn du aus schmerzhafter Bedürftigkeit durch Türen gehst, die nicht für dich bestimmt sind und hinter denen du nichts findest, was dich nährt.

Sie entsteht, wenn du in Verbindungen bleibst, wo man dich nicht wichtig nimmt und nicht wertschätzt, nur um nicht einsam zu sein.

Sie entsteht, wenn dein Gegenüber deine Gefühle und deine Gedanken nicht im Ansatz versteht, nicht achtet und nicht nachvollziehen kann oder sie ignoriert.

Sie entsteht, wenn du dich verbiegst, dich selbst verleugnest, dich anpasst und auf Menschen fixierst für die du nur eine Option bist. 

Sie entsteht, wenn du niemanden hast, dem du vertraust und dem du dich anvertrauen kannst.

Sie entsteht, wenn du dich versteckst und isolierst, weil du denkst, du bist nicht gut genug, nicht normal genug, nicht liebenswert genug, nicht interessant genug, nicht wertvoll genug.

Sie entsteht, wenn da nichts ist, was dich von Innen hält. 

Sie entsteht, wenn du versuchst dir Verbundenheit zu verdienen.

Sie entsteht, wenn du dich mit dir selbst nicht verbunden fühlst.

 

Wenn das Leben dir eine Zeit der Einsamkeit beschert, ist es Zeit, dich mit dir selbst zu  befassen, dich mit dir selbst bekannt und vertraut zu machen, dich mit dir selbst liebevoll zu verbinden und den Teil zu finden, den du die ganze Zeit erfolglos im Außen gesucht hast.

 

Freitag, 9. Juni 2023

Aus der Praxis: Wie kommt das Selbst ins Kind?

 

                                                                 Malerei: A.Wende


Das Selbst stellt den zentralen Mittelpunkt der Gesamtperson dar. Es ist ein Konzeptsystem aus den Gedanken und Einstellungen über uns als Person. Wenn vom Selbst die Rede ist gibt es den Ausdruck vom wahren Selbst, das von Anfang an in uns vorhanden ist und ideal ist, also so, wie wir als Mensch gemeint sind. Stellt sich die Frage: Von wem?
Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften behaupten: Der Mensch wird ohne ein Selbst geboren. Das Selbst eines Menschen ist nicht von Beginn an vorhanden, es entsteht. Entgegen aller spirituellen Annahmen, dass das Selbst als Urgrund in uns angelegt ist, sei das ein Fantasma. 
 
Wie aber entsteht unser Selbst, das sich später von anderen Menschen abgrenzen kann? Wie gelingt es uns, ein Ich, Du oder Wir zu denken, zu fühlen, zu erleben? Was macht einen Menschen zum Individuum?
Die Neurowissenschaften sprechen von der Komposition des Selbst durch Resonanzerfahrungen. Der menschliche Säugling, obwohl ein fühlendes, impulsives neugieriges Wesen, verfügt über kein Selbst und keinerlei Ich-Gefühl. Erst nach und nach komponiert sich ein Selbst und zwar durch Resonanzerfahrungen mittels der Gefühle, Stimmungen und Reaktionen unserer Bindungspersonen, die wir in uns aufnehmen. All diese Resonanzen werden auf uns übertragen und formieren unser Selbstgefühl. Das bedeutet: Das Baby sieht und interpretiert die Welt über den Blick seiner Bindungspersonen. Die Erfahrungen, die wir als Säugling und als Kleinkind machen, sind prägend für unsere Identitätsentwicklung.
Ein kleines Beispiel:
Wenn die Mutter immer traurig und ängstlich gestimmt ist, übernehmen wir das als Grundgefühl. Ist sie lebensbejahend und positiv gestimmt, übernehmen wir das als Grundgefühl.
Mit anderen Worten: Was wir als Säugling und als Kleinkind als Du erleben wird zum Teil unseres Selbst. Was unsere Bindungspersonen fühlen, denken und wie sie handeln wird zur Introjektion. Introjektion ist in der Psychoanalyse der umgekehrte Vorgang der Projektion, heißt: Wir nehmen fremde Gefühle, Anschauungen, Motive und Verhaltensweisen ins Eigene auf und integrieren dies. 
 
Warum ist das so?
Die Netzwerke im Stirnhirn speichern alles, was wir denken, glauben und fühlen. Diese sogenannten Selbstnetzwerke speichern und formen das Wissen, was wir über uns selbst erlangt haben. Und dieses Wissen kommt nicht aus uns selbst, es wird uns übermittelt. Die Art und Weise wie unsere Bindungspersonen auf uns reagieren, geben uns also Auskunft und Informationen darüber, zu fühlen, wer und was wir sind. Sie vermitteln uns auch das Grundgefühl willkommen zu sein oder unwillkommen zu sein. Fühlen wir uns willkommen, ergibt sich ein differenziertes, vertrauensvolles Aufgehobensein in der Welt. Fühlen wir uns unwillkommen und abgelehnt, fehlt uns dieses Gefühl des Aufgehobenseins. Somit legt dieses, über die Bindungspersonen empfangene Grundgefühl, die Basis dafür, wie wir uns im späteren Leben fühlen und bildet zugleich den Urgrund für unser Selbstkonzept und unser Selbst-Bewusstsein. Sprich: Die Haltung unserer Bindungspersonen zur Welt wird zu der unseren.
 
So weit so gut. Aber ist da wirklich wahr?
Kann und will ich das glauben?
Zum Teil ist es wahr. Vieles was in uns wirkt und Macht hat, ist übernommen. Aber gibt es da nicht doch etwas, ganz tief drinnen, unsichtbar für jede Bildgebung, das mich selbst als einzigartiges Wesen ausmacht ohne die Introjektionen meiner Kindheit?
C. G. Jung war davon überzeugt, wohlgemerkt, ohne die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften: Das Kind kann sich nur in der Beziehung zu seinen erwachsenen Vorbildern verwirklichen und entwickeln und so ein Selbst bilden. Und an anderer Stelle behauptet er, das Selbst sei in der psychischen Entwicklung schon gegeben, noch bevor das Subjekt seiner eigenen Existenz gewahr würde. Also noch bevor es ein Ich-Bewusstsein gibt, ist das Neugeborene schon ein Selbst. Donald Winnicott entwarf den Ausdruck „falsches Selbst“ für die Charakterisierung einer Persönlichkeitsstörung, die die Betroffenen schon in ihrer frühen Kindheits als Abwehr und Schutz ihres „wahren Selbst“ entwickeln.
Wie also jetzt?
Dann würde es ja doch ein wahres Selbst geben, zumindest wenn ich Jung und Winnicott Glauben schenke. Aber woher kommt das dann? Woher kommt dieses Etwas in uns, das wir auf diese Welt mitbringen, dieser innere Kern, der einzigartig und unzerstörbar ist?
Man kann jetzt glauben, was man will. Die einzige Wahrheit wird sich wohl nie finden lassen, Tatsache ist, wir sind zu einem großen Teil geprägt von den Erfahrungen unserer Kindheit. Aber diese Entwicklung ist danach nicht abgeschlossen, sie geht weiter. Das bedeutet, das Selbst ist nicht in Stein gemeiselt, wir entwickeln uns weiter und damit ist unser Selbst keine unveränderbare starre Größe, auf dessen Entwicklung wir keinen Einfluss haben. Es ist nicht passiv, es kann auch agieren.
Es kann lernen und verlernen, es kann sich verändern und entfalten. Es kann sich seiner Teile bewusst werden und damit ganz.
Auch der Buddhismus verneint die Existenz einer beständigen, unwandelbaren Identität, die im Allgemeinen mit dem Begriff des Selbst verbunden wird, da es nichts gibt, das beständig ist und alles wandelbar. Der Glaube an ein beständige Selbst gilt im Buddhismus sogar als eines der Geistesgifte, unter dessen Einfluss das menschliche Bewusstsein einer Täuschung unterliegt. Ziel ist es also diese Täuschung zu durchschauen und dadurch zu unserer wahren Natur zu gelangen. C.G. Jung nennt das den Individuationsprozess. Und der beginnt mit Selbsterkenntnis. 
 
Egal ob es nun ein wahres Selbst gibt oder ob es aufgrund von Resonanzen gebildet ist, es macht Sinn dieses Selbst zu erforschen, um uns selbst zu verstehen, denn uns selbst verstehen ist die Basis um mit uns selbst gut leben zu können. 
Vieles was zu unserem Selbst gehört ist uns nicht bewusst. Es liegt unter der Spitze des Eisbergs. Darum ist es sinnvoll ins Meer unseres Unterbewussten einzutauchen um unserem Selbst zu begegnen und es zu ergründen. Viele Menschen vermeiden das, weil ihnen dann etwas begegnen könnte, was sie meinen nicht ertragen zu können. Sie vermeiden die Begegnung mit sich selbst indem sie sich permanent mit dem Außen beschäftigen, sich ständig ablenken nur um nicht bei sich selbst zu sein. Sie sind im Reiz-Reaktionsmechanismus, nur um nicht bei sich selbst zu sein.
Das größte Glück aber ist, wenn ich mich selbst finde, mich selbst gestalte und es mit mir selbst gut aushalte, weil ich mich selbst akzeptiere und mag.
Und dazu muss ich mich selbst erst einmal kennen.
Das ist für mich der Sinn jeder Therapie: Uns selbst erkennen und es mit uns selbst gut auszuhalten

Einfach da sein

 

 

                                                                 Zeichnung: A.Wende

 

 

Wir wollen nichts aushalten.

Wir glauben immer wir müssen etwas tun.

Wir wollen immer sofort am Ziel sein. Sofort die Lösung haben.

Wir glauben immer wir müssen Ratschläge geben, wenn ein Mensch leidet.

Warum gestehen wir diesem Menschen nicht zu, dass er leidet? Wenn wir uns selbst nur im Ansatz hineinfühlen, müssten wir das spüren.

Weil wir nicht fähig sind Ohnmacht und Angst auszuhalten.

 

Es geht nicht darum Angst und Ohnmacht auszuschalten.

Es geht darum, wirklich wahrzunehmen, was dieser Mensch fühlt.

Ihn zu trösten und zu halten und ihn auf seinem Weg zu begleiten.

Ihn zu stärken, ihn immer wieder aufzurichten, ohne Verantwortung für ihn zu übernehmen und ohne das Ziel zu kennen.

Schlicht und einfach: Da zu sein.

Montag, 5. Juni 2023

Was wir festhalten wollen, hat uns längst verlassen

 

                                                                   Foto: A.Wende

 

Manchmal ist das Mutigste, was wir tun können, einen Menschen loszulassen und die Wahrheit zu akzeptieren, dass es einfach keine Passung (mehr) gibt, dass er einfach nicht (mehr) richtig und gut für uns ist. Das bedeutet nicht, dass wir keine Gefühle mehr für ihn haben oder ein Teil von uns Teile von ihm noch immer liebt, es bedeutet nicht, dass er das Problem ist, es bedeutet, der andere geht einen anderen Weg, seinen Weg, der mit dem unseren nicht mehr in Harmonie ist. Es bedeutet zu akzeptieren, dass er ganz woanders ist, als wir es sind und es keine Resonanz mehr gibt, egal wie sehr wir uns das wünschen oder darum kämpfen. Es bedeutet anzunehmen, dass die Zeit, die wir mit ihm hatten, zu Ende ist. Sie ist Vergangenheit. Wir haben keine gemeinsame Zukunft mehr.

Was sich ablöst, löst sich ab, ob wir das wollen oder nicht. Es ist eine sinnlose Energieverschwendung, es festhalten zu wollen. Was wir festhalten wollen, hat uns längst verlassen. Sonst müssten wir nicht versuchen festzuhalten.

Wir müssen anerkennen, dass jemand für uns verloren ist. Auch wenn es ein großer emotionaler Schmerz ist. Jetzt haben wir die Wahl: Wir können alle Energie ins Festhalten stecken und wir werden dennoch nicht bekommen, was wir wollen, oder wir nehmen diese Energie und investieren sie in uns selbst. Wir müssen weitergehen und wieder neu anfangen. Wir brauchen neue Orte, neue Begegnungen, neue Erfahrungen. Wir brauchen neue Dinge, mit denen wir unser Leben füllen, um den Verlust zu überwinden. Wenn wir nicht endlos leiden wollen, müssen wir offen sein für das, was sich jetzt in unserem Leben zeigen will. Statt einer leblosen, unbefriedigenden oder unheilsamen Beziehung, schenken wir uns selbst neue Lebendigkeit.