Sonntag, 28. Juni 2020

Wenn aus Schuldgefühlen Ängste werden

Foto: A. Wende

Ein Kind, dem man immer wieder vermittelt hat: „Dich hätte es eigentlich nicht geben sollen“, entwickelt Schuldempfinden. Auch wenn das Kind diese Ablehnung nicht wörtlich, sondern in einem abwertenden und entwertenden Verhalten erfährt, hinterlässt dies Spuren in der Seele.
Sein Selbst, seine Identität, sein Sein und sein Werden, werden durch das Gefühl nicht sein zu dürfen, geprägt. Kommen im späteren Leben weitere traumatische Erfahrungen hinzu, bestätigt und verfestigt sich die innere Überzeugung in dieser Welt keinen Platz zu haben, nicht da SEIN zu dürfen.
Das kann dazu führen, dass das eigene „Über“ Leben als schuldhaft empfunden wird. Dieses innere Empfinden schreibt dann das Lebensdrehbuch und beeinträchtigt die Gesamtpersönlichkeit massiv.
Das in der Kindheit beschädigte Selbst entwickelt kaum oder kein Selbstwertgefühl, es hat Versagensängste und im späteren Leben oft Nähe-Distanz-Probleme und neigt zu Abhängikeit. Die Psyche kämpft mit den ständig aufkeimenden Schuldgefühlen, die sich in vielerlei Persönlichkeitsstörungen äußern können.

Schuldgefühle sind häufig verbunden mit Scham und dem unbewussten Bedürfnis bestraft werden zu müssen.
Der sich als schuldig empfindende Mensch unterdrückt seine Bedürfnisse, seine Kreativität, seine Vitalität und seine Lebensfreude. Die innere Überzeugung „Es darf mir nicht gut gehen, weil ich mich schuldig gemacht habe", enthebt sich seiner bewussten Kontrolle. Schuldgefühle, wenn sie als solche nicht idenifiziert, benannt, wahrgenommen und verarbeitet werde, führen nicht selten zu Angststörungen wie: Zukunftsangst, Krankheits-und Todesängste, Versagensängste, Generalisierter Angststörung und Panikattacken. Das Leben, das es nicht verdient hat zu sein, ist gefühlt ständig bedroht. Um eine Art Sicherheit zu erlangen, können Betroffene übersteigerten Perfektionismus und Zwangstörungen entwickeln.

Viele Angsterkrankungen haben als Ursache unbewusste Schuldgefühle. Sie sind die psychischen Folgen einer Traumatisierung, die nicht erkannt wird.
Deshalb ist es sinnvoll, wenn Menschen unter Ängsten leiden, nachzuforschen ob unbewusste Schuldgefühle diese aufrechterhalten und verstärken.
Schuldgefühle lösen sich erst dann, wenn wir sie erkennen und verarbeiten.


Samstag, 27. Juni 2020

Überdruss

Foto: www


Heute morgen sitze ich am Fenster, höre dem Rauschen des Regens zu und lese folgenden Satz: „Die aufregenden Dinge auf der Welt hat ein Mensch sehr schnell satt, und die Dinge, derer er nicht überdrüssig wird, sind meist langweilig. Zwar gibt es in meinem Leben langweilige Perioden, Überdruss jedoch empfinde ich nicht. Die meisten Menschen können beides nicht voneinander unterscheiden“. Dies schreibt Haruki Murakami in seinem Buch „Kafka am Strand“.

Er hat Recht: Langeweile und Überdruss zu unterscheiden ist für viele Menschen gar nicht so einfach.
Was ist also der Unterschied, frage ich mich?
Langeweile ist ein vorrübergehender Zustand, den wir alle kennen, der Überdruss hingegen entwickelt sich langsam und verfestigt sich.
Ich bin es leid. Ich habe es satt, sagt der Überdruss.
Es leid sein bedeutet, man ist es überdrüssig.
Die Arbeit, den Alltag, die immer gleiche Routine, die immer gleichen unguten Nachrichten, die Zeit, die fehlt um das zu tun, was man wirklich tun will, eine Beziehung, die nicht besser wird, eine Situation, die sich nicht verändert, die Einsamkeit, die schon zu lange an uns nagt, die Trauer, die nicht gehen will, am Ende kann man sogar der Menschen, sich selbst und dem Leben gegenüber Überdruss empfinden.

Überdruss bedeutet Abneigung und Widerwille gegen etwas, von dem man glaubt, man habe es zu oft erlebt oder sich zu viel damit beschäftigt. Wir haben genug, es hängt uns zum Halse heraus. Wir haben keine Lust mehr.
Überdruss kann dann zur Niedergeschlagenheit führen und am Ende in eine Depression.
Überdruss kann sogar so weit gehen, dass ein Mensch sich selbst tötet, wenn er das Leben als ein ewig Dahinplätscherndes empfindet, ohne Höhen und Tiefen, keinen Sinn mehr sieht und alle Hoffnung auf Veränderung verblichen ist.

Müde, gelangweilt, enttäuscht, verbittert – all das sind Gefühlszustände des Überdrusses. Abscheu, Ekel, Unbehagen, Lustlosigkeit, Unlust, Unwilligkeit, Antipathie, Aversion, Widerwille, Abneigung, Langeweile, Lethargie, Verbitterung – all das sind Befindlichkeiten geboren aus Überdruss. Manch Überdrüssiger ist dauerhaft passiv aggrressiv. Er läuft herum wir ein Pulverfass, immer kurz vor dem Explodieren. Weil es, verdammt noch mal, so wie es ist, einfach nicht mehr erträglich ist. Andere versinken im Alkohol, der das betäubende Gefühl des Überdrusses bis zur Unfühlbarkeit betäuben soll.

Der Überdruss ist lebensfeindlich. Der Neurotizismus des Überdrüssigen führt dazu, dass die Lebensfreude abstirbt. Nichts mehr von dem was das Leben lebenswert macht wird wahrgenommen. Das Gute, das Wahre und das Schöne wird bis zur Vernichtung seiner Existenz ausgeblendet – der überdrüssige Mensch ist blind und taub geworden gegenüber dem Leben und sich selbst. Nichts berührt ihn mehr und nichts lohnt sich für ihn es zu berühren. Es ist als würde ein Licht ausgehen und eine ewige Dämmerung hält Einzug. Am Ende – der gefühlte Tod im Leben.

Was dann?
Wie kommt ein Mensch da raus? Vorausgesetzt er ist bereit dazu.
Lebensüberdruss zeigt uns – so wie es ist, kann es nicht weiter gehen. Und so kann der Überdruss eine Chance sein.
Wenn wir Überdruss empfinden sind wir aufgerufen uns intensiv mit der Frage zu beschäftigen: Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Gibt es eine höhere Wirklichkeit? Und wenn es sie gibt - wie kann ich sie erfahren?
Was ist meine Begierde? Was sind meine Bedürfnisse? Woran mangelt es in meinem Leben und wo habe ich selbst Defizite, die dazu führen, dass ich der Dinge überdrüssig bin?
Was in mir will gelebt werden, was ich die ganze Zeit verdränge und mir selbst nicht eingestehe? Was kann ich kultivieren um mich wieder lebendig zu fühlen?
Die Krise des Überdrüssigen ist wie jede Krise eine Chance, wenn wir sie nutzen.

Donnerstag, 25. Juni 2020

Es ist nie zu spät!

Foto: A. Wende

Du hast den Eindruck, dass du gescheitert bist.
Du hast gekämpft und verloren.
Du hast einen Traum begraben müssen.
Deine Job verloren.
Deine Liebe.
Deinen Glauben an das Gute und Schöne.
Was auch immer es ist, es ist so einfach, sich selbst zu entmutigen zu sagen „Das schaffe ich nicht“, oder „Für mich gibt es kein Glück“ oder „Ich finde nie den richtigen Partner“ oder auch „Andere schaffen das alles, nur ich nicht“.
Es gibt keinen Grund, dass die anderen es schaffen ihre Vorhaben zu realisieren und du nicht.

Welchen Unterschied gibt es zwischen den anderen und dir?
Der Unterschied liegt meist in deinen negativen Glaubensätzen, deinem mangelnden Willen, deiner mangelnden Bereitschaft und deiner Selbstverleugnung.

Es gibt die, die nicht an sich selbst glauben und es gibt die, die glauben nichts Gutes verdient zu haben oder nicht wertvoll genug zu sein, um ihr Glück finden und dann aufgeben es zu versuchen. Und es gibt die, die so lange beharren, so lange an etwas dran bleiben, so oft von Vorne beginnen, bis sie es schaffen.

Du hast die Wahl.
Wenn du gesund bist und Herr deiner Sinne hast du die Wahl.

Du kannst deine negativen Glaubensätze, die dich seit ewigen Zeiten blockieren, weiter glauben oder du kannst sie ändern.
Dazu darfst du sie dir erst einmal bewusst machen. Das dauert eine Weile und das ist auch nicht ganz einfach, aber du kannst es schaffen, wenn du es willst. Und wenn du es allein nicht schaffst, kannst du dir Hilfe holen, damit du es schaffst.
Dann kannst du dir diese Glaubensätze mal ganz genau anschauen und sie hinterfragen, damit du einen anderen Blick auf dich selbst bekommst und aus dem unheilsamen Programm in deiner Denkmaschine, das sie seit einer Ewigkeit abspult, aussteigst.

Und wenn du plötzlich an einem Morgen mit Freude den Tag begrüßt, dann spürst du – ja, ich bin auf dem richtigen Weg.
Also Mut, Kopf hoch und ändern was dir nicht gut tut.
Schritt für Schritt. In deinem Tempo.
Vielleicht mal die Routine ändern. Kleine Dinge ändern, die dich im Alltag, in der Arbeit, in der Beziehung, in deinem Gefühlsleben müde machen und ausbremsen.
Vielleicht hast du auch den Eindruck, alles schon gesehen zu haben. Oder alles schon versucht zu haben, damit es sich ändert.
Wieder so ein Glaubenssatz.
 

Du hast nie ALLES versucht, wenn du ehrlich zu dir selbst bist.

Manchmal kann es unbefriedigend sein, mit der Routine zu leben. Das sich Wiederholende im Denken und Handeln, ist der persönlichen Entwicklung nicht immer zuträglich. Du kannst immer noch weiterkommen in deinem Leben. Du hast jederzeit die Möglichkeit Neues zu lernen und Neues zu entdecken, dir Ziele zu setzen und sie zu erreichen, wenn du anfängst an dich selbst zu glauben und nicht deinen alten Glaubensmustern, die dich kein Stück weitergebracht haben.
Es ist nie zu spät für einen neuen Anfang!
Wie sagte Picasso einst: "Spring und das Netz wird sich auftun." Manchmal müssen wir springen und zwar über den eigenen Schatten.

Wenn du es alleine nicht schafftst - ich helfe dir gern.

Mittwoch, 24. Juni 2020

Aus der Praxis – Heimatlos

 
Malerei: A. Wende


Anna erzählt:
"Ich habe oft Gedanken der Zerstörung. Mich selbst zerstören und mir ausmalen wie ich es tun könnte. In den zerstörerischen Gedanken finde ich kurzzeitig eine Art Befriedigung, aber keine Erlösung. Im Leben bin ich nicht fähig zerstörerisch, brutal oder gewalttätig zu sein, nicht auf der körperlichen Ebene. Ich kompensiere meine Aggression indem ich diesen Gedanken nachhänge. Das wirkliche Ausmaß an Gewaltbereitschaft, das ich besitze und verdränge, ist mir nicht bekannt. Ich habe als Kind viel Aggression erlebt. Ich habe mich nicht wehren können gegen die verbale und körperliche Gewalt, die ich erleben musste. Ich habe nicht gelernt, wie man sich wehrt, ich habe nicht gelernt wie man sich abgrenzt, aber wie man überlebt, das habe ich gelernt. Wenn du als Kind misshandelt und missbraucht wirst, sei es körperlich oder emotional, oder beides, hast du keine Waffen, die dir helfen könnten. Du bist absolut wehrlos. Du bist fassungslos. Du hast nur diesen Gedanken: Ich verstehe das nicht!"

Anna ist über Fünfzig. Sie lebt allein. Ihre Beziehungen halten nicht lange. Meist sind sie zerstörerisch, geprägt von Abhängigkeit und einem ständigem On und Off.
Sie ist zu mir gekommen um zu verstehen.

 ...

Wie soll ein Kind verstehen, dass Menschen, die es liebt und von denen seinen Überleben abhängt, fähig sind es zu verletzen. Das versteht ein Kind von vier oder fünf Jahren nicht. Es beginnt zu glauben, dass es schlecht ist, dass es böse ist, dass es verdient hat, was man ihm antut. Um eine Entschuldigung für den oder die Täter zu finden, macht es sich selbst für sein Lied verantwortlich.
Es intojiziert das Böse der Täter, es verinnerlicht das Fremde als eigenes. Auf diese Weise wird das fremde Böse zum eigenen Bösen. Hier beginnt die Spaltung des Inneren. Das Kind muss das tun, um die Eltern weiter als gut empfinden zu können. Indem es selbst die Ursache des Bösen ist, gelingt es ihm die lebensnotwenige Beziehung zu den Eltern zu erhalten. Es sagt sich: Sie haben mich lieb, aber ich bin böse, darum haben sie einen guten Grund mich schlecht zu behandeln. Wenn sie mir wehtun, habe ich es verdient. Ich bin schlecht, nicht sie. Sie weisen die Schuld ja auch von sich und sagen, du bist ein böses Kind. Die Eltern haben immer Recht.
Die Tragik des Kindes liegt darin, dass es sich zum einen selbst aufgibt und zum anderen das Böse als Eigenschaft in sich selbst aufnimmt. Dort bleibt es, lebenslang, wie ein Dämon, der ihm sagt, was es tun muss, um sich selbst zu schaden. Das geschieht unbewusst.   


                                                                              ...

Anna erzählt:
„Mein Vater hasste sich selbst, er hasste seine Arbeit, seinen Körper, sein Leben. Er hasste uns Kinder und er hasste sich wohl selbst für seinen Hass. Er war immer aggressiv. Er sagte, ich sei schlecht, ich sei an seinem Unglück schuld. Er sagte ständig solche Dinge zu mir. Er hat mir damit Angst gemacht. Ich blieb verwirrt, verängstigt und mit einem schlechten Gefühl zurück. 
Ich habe meine Mutter gefragt, was ist mein Fehler, was habe ich dir getan? 
Sie sagte, der Fehler ist, dass du überhaupt da bist. Du bist ist das Unglück. Sie sagte, ohne dich hätte ich deinen Vater niemals geheiratet, wegen dir habe ich meine Träume begraben müssen, wegen dir habe ich ein ungelebtes Leben. Das kannst du auf meinen Grabstein schreiben, wenn ich tot bin. 

Ich hatte immer eine Bringschuld, ich musste ihnen und mir selbst beweisen, dass ich es doch in irgendeiner Weise wert war zu leben. Die Grundschuld, überhaupt am Leben zu sein, die ist da nch heute es darf mir nichg tu gehen. Wenn es mir gut geht, kommt die Angst. Ich empfinde dann Todesangst. Da ist immer der gedanke: Du darfst eigentlich nicht leben, aber wenn du schon lebst, dann fühle dich schlecht und schuldig! Irgendwie denkst du immer es wäre besser nicht da zu sein und entwickelst Selbstzerstörungstriebe. Man muss da sehr aufpassen auf sich selbst, dem nicht nachzugeben.

Mein Vater war ambivalent. Einerseits hatte ich das Gefühl, er mag mich, weil er mich manchmal auf den Schoß nahm und mir Dinge erklärte, andererseits war da dieses Vernichtende in seinen Worten und Blicken. Irgendwie fühlt es sich an als sei mein Empfinden für mich selbst in zwei Teile gespalten – der eine, der sich selbst zerstören will, weil er glaubt schlecht zu sein und kein Recht auf ein Leben zu haben, der andere, der rebelliert, weil er leben will, weil der Vater ihn doch irgendwie zu mögen schien. Leben, aber wie? Wie geht leben? Wie fühlt sich das an? Es gibt da keine Erlösung und immer bist du gefühlt schuldbeladen. Und dann ist da eben auch diese Aggression. Mich kaputt machen, damit es enlich aufhört weh zu tun.
Es war vollkommen egal, was ich machte, alle Versuche Liebe oder Anerkennung zu gewinnen, alle Anpassungsversuche bewirkten nichts. Ich konnte diese Ablehnung nicht ändern. Ich führe ständig Krieg in meinem Inneren, die Eine kämpft gegen die Andere. Ich will eine Identität finden, ein klares umrissenes Ich. So ist das kein Leben mehr."
...

Annas Leben – das ist die Suche einer Frau, die in dieser Welt noch keinen sicheren Ort gefunden hat, die nicht weiß, wohin sie gehört, weil sie nicht weiß, wer sie ist. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Wenn ein Mensch keine Heimat sich selbst hat, ist er heimatlos. Er ist immer auf Besuch, niemals angekommen. Wie auch? Er sucht ja sich. Das ist ein ewiges Getriebensein. Das ist der Identitätszweifel, der verzweifelt macht, ein ewiges Schwanken, ein Gefühl von unvollständig sein, von falsch sein, ein Gefühl der Spaltung. Existenzschuld, die das Leben zur Qual macht.
Wer gelernt hat, dass er kein Recht auf Leben hat, hat auch kein Gefühl für Autonomie, denn das würde ja bedeuten für sich selbst zu stehen. Und wie soll ein Mensch wie Anna zu sich selbst stehen, wenn man ihr Selbst vernichtet hat? Autonomie erlangen, das ist die Herausforderung für die, die nicht wissen, wer dieses Selbst ist.
Ein langer Weg.
Auf diesem Weg begleite ich Anna.

Dienstag, 23. Juni 2020

Herzenswärme

Foto: A. Wende

Den Schmerz und die Angst anderer zu verleugnen ist eine beliebte und wirksame Methode, Schmerz und Angst zu verleugnen. Uns den Schmerz anderer einzugestehen, kann uns Angst machen. Unbewusst fühlen wir dass der Schmerz, der den anderen betrifft, das Unglück, das ihn ereilt hat, auch uns treffen kann. Das Anerkennen des Schmerzes des anderen bedeutet sich mit etwas zu konfrontieren, was wir vermeiden wollen – die eigene Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit. Wir wollen da nicht hineingezogen werden. Das ist eine Bedrohung unserer Komfortzone und das wollen die meisten vermeiden.
Also wenden sie sich ab.

Mitgefühl wendet sich nicht ab.
Mitgefühl zeigt Mut.
Es gehört Mut dazu sich dem zuzuwenden, der Schmerz erleidet oder Angst hat. Und es gehört noch mehr Mut dazu ihn in seinem Schmerz und in seiner Angst anzunehmen und ihn zu tröten, zu unterstützen und Hilfe zu leisten.
Indem wir das tun begegnen, wir vielleicht auch unserem eigenen Schmerz und unserer eigenen Angst.
Aber die Angst wird kleiner, der Schmerz wird kleiner, wenn wir uns dem anderen unterstützend zuwenden und mitfühlend handeln.

Mitgefühl heißt nicht, Leid zu teilen oder gar das Leid eines anderen Menschen zu übernehmen.
Beim Mitgefühl handelt es sich um den Wunsch, dass andere Menschen frei sein mögen von Leid. Es basiert darauf, die Gefühle anderer nicht nur zu verstehen und sie begreifen zu wollen, sondern sie auch wertzuschätzen und den Impuls zu verspüren helfen zu wollen.

Dem Nächsten helfen bedeutet immer auch sich selbst helfen. Wer Mitgefühl praktiziert wächst – über ich selbst hinaus und zum anderen hin.

In den alten asiatischen Sprachen gibt es nur einen Ausdruck für Mitgefühl und Selbstmitgefühl und das ist das Wort "karuna". Daran erkennen wir, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist. Das ist der Weg, den Buddha gelebt hat und den er gegangen ist. Das ist es, was Jesus meinte als er sagte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Genau wie wir Achtsamkeit praktizieren können, können wir auch Herzenswärme entwickeln und dieser Wärme Raum in unserem Leben geben – Raum für ein herzliches, beherztes Miteinander und ein herzliches mit-uns-selbst-sein.
Das ist es, was unsere Welt braucht, dringend.

Montag, 22. Juni 2020

Ohnmacht macht wütend

Malerei: Angelika Wende

Wenn wir über alle Maßen wütend sind ist das ein sehr inhaltsschwere Emotion. Wir haben das Gefühl für unsere unsere Größe, unsere Kraft und unsere Eigenmacht verloren, wir erleben uns klein, schwach, hilflos und nichtig. Wir fühlen uns ohnmächtig.

Ohnmacht hat viele Gesichter. Alle sind unschön und bedrückend. Wir unterdrücken die Ohnmacht, sobald wir sie fühlen oder wir flüchten vor diesem schwer aushaltbaren Gefühl und wehren es ab. Wir konsumieren Dinge, die wir nicht brauchen, wir stopfen zu viel Essen in uns hinein, trinken zu viel Alkohol, kiffen, rauchen und all das wohl wissend, dass es unsere körperliche und seelische Gesundheit schädigt. Wir ruinieren unser Hirn, unser Herz und unsere Seele, um die unguten Gefühle, die hochkommen zu unterdrücken, um sie nicht fühlen zu müssen. Das gesamte Repertoire des Ausagierens unserer Abwehr in Form von suchtgleichen Handlungen steht unter dem unbewussten Motto: Bloß nicht wieder ohnmächtig sein!

Die Wurzel aller Wut ist das Gefühl von Ohnmacht.
Immer wenn wir uns ohnmächtig fühlen sind wir in Wahrheit „mächtig“ vor Wut, wir haben nur noch nicht erkannt wie wir sie, anstatt sie nach Innen zu drücken, und durch Substanzen oder unheilsames Verhalten, ins Außen fließen zu lassen, als kreativen Treibstoff sinnvoll und effektiv für uns nutzen zu können.
Wut, die an uns nagt, ist die Wut über unsere eigene Ohnmacht.
Wir bleiben solange in der Ohnmacht stecken, bis wir für uns selbst eintreten.
Wut dagegen fordert uns auf vorzutreten, uns ernst zu nehmen, unsere Gefühle zuzulassen, uns auszudrücken und so groß und stark zu werden, wie wir es sind.
Wie oft hassen wir uns selbst für unsere Unfähigkeit Klartext zu reden, auszusprechen was wirklich ist, wie oft schämen wir uns vor uns selbst, dafür, dass wir nicht tun, was wir wirklich wollen und ständig tun, was andere von uns wollen. Stattdessen kompensieren wir, lenken uns ab oder tun so, als sei alles in Ordnung.

Wenn wir auf jemanden wütend sind, wenn wir auf eine Situation wütend sind, ist das ein Zeichen. Es zeigt auf uns selbst, es be"deutet": Wir lassen etwas zu, obwohl wir genau spüren - wir sollten uns wehren, wir sollten handeln und der eigenen Wahrheit eine kraftvolle Stimme geben.
Wenn wir uns darüber aufregen, dass ein anderer uns nicht achtet, nicht ernst nimmt und uns verletzt, klagen wir im Grunde darüber, dass wir das selbst nicht tun, dass wir uns selbst nicht genug achten, dass wir uns selbst nicht ernst nehmen. Wir wählen Ohnmacht.

Wir alle haben als Kind auf mehr oder weniger massive Weise Ohnmacht erlebt und in vielen von uns steckt es noch, dieses Gefühl aus Kindertagen, in denen wir auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen hilflos ausgeliefert waren.
Während der Entwicklung auf der emotionalen Ebene haben wir als Kind emotionale Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist groß, so groß, dass wir als Kind alles nehmen, was wir bekommen können: Im besten Falle Liebe, Wärme und Geborgenheit; im schlimmsten Falle Misshandlungen oder Missbrauch. Letzteres sind Ohnmachtserfahrungen die uns ein Leben lang unbewusst beeinflussen. Ohnmacht, das ist der totale Kontrollverlust, die absolute Starre, die sich einbrennt in jede Faser unseres Seins. Das greift tief und bleibt stecken, tief in der Seele, bis hinein ins Erwachsenenleben.
Wer massive Ohnmachtserfahrungen gemacht hat, will als Erwachsener in die Macht. Er wird immer ein Thema mit Kontrolle haben. Je massiver der Kontrollverlust empfunden wurde, desto stärker ist die Angst die Kontrolle wieder zu verlieren, also kontrollieren wir - auch die Wut, die in der Ohnmacht steckt - und unterdrücken sie.Und dann ploppt sie hoch, dort wo sie nicht angemessen ist.
Es kann uns keiner wütend machen wenn wir mit uns selbst im Reinen sind. Und um mit uns selbst ins Reine zu kommen ist es hilfreich unsere alten Ohnmachtserfahrungen anzuschauen und sie zu bereinigen.

Solange wir uns selbst nicht die Wertschätzung, die Achtung und die Liebe geben, die wir so dringend brauchen, sind wir angreifbar. Wenn wir nicht selbst für uns handeln, handeln andere für uns. Wir werden zum Spielball, den andere hin und her werfen, anstatt den Ball selbst zu werfen.
So wie als Kind. Wir erfahren im Außen das, was wir von uns selbst denken, denn so wie wir über uns denken, so fühlen wir uns, so geben wir uns. So wie wir über uns selbst denken, behandeln wir uns – und dann wundern wir uns, warum die anderen uns genauso behandeln.

Wenn wir unsagbar wütend sind, ist etwas „ungesagt".
Wir sagen nicht was wir denken, wir sagen nicht, was wir wollen und was wir fühlen. Wir ergreifen nicht die Macht der Worte um das Auszusprechen, was raus will. Wir erfahren keine Selbstwirksamkeit.
Wo innen keine Wut ist kann sie von außen nicht entzündet werden.
Ein Mensch der mit sich im Reinen ist, der selbstbestimmt und selbstwirksam lebt, ein Mensch, der in der eigenen Macht ist, empfindet keine Wut. Darum ist es so heilsam unsere Wut zu fühlen, sie fühlen zu dürfen und sie auszudrücken, um an die wahren Gefühle heranzukommen, die sich hinter der Wut verbergen. Wenn die Wut gefühlt wird, wenn sie sein darf, nehmen wir uns selbst ernst. Dann nehmen wahr, was wir versäumt haben für uns zu tun. Wir für uns, denn die, die uns ohnmächtig gemacht haben, werden nichts für uns tun, sei es, weil sie sich dessen nicht bewusst sind oder weil sie es einfach nicht können oder wollen. Das zu erkennen macht oft noch wütender und noch ohnmächtiger.

Solange wir die Wut verleugnen, anstatt sie anzunehmen und ihr zuzuhören was sie uns sagen will, riskieren wir, dass wir in der Ohnmacht festsitzen - wir sind blockiert für das, was fließen will - nämlich Energie, unsere Lebensenergie.
Wut will gefühlt werden wie alle anderen Gefühle auch – sie ruft uns auf in unsere Kraft zu kommen von der wir oft nicht einmal mehr wissen, dass wir sie haben.

Ohnmacht bindet Kraft. Wut ist Energie, kraftvolle Energie, die in die richtigen Bahnen geleitet, dazu führt, dass wir aus der Opferrolle aussteigen.
Wir sind dann nicht mehr länger Opfer unserer ohnmächtigen Wut, sondern wir suchen nach einer Lösung für das, was verändert werden will.
Wir fragen uns: Was kann ich für mich tun, damit ich diese Wut nicht mehr brauche?
Der erste entscheidende Schritt ist das Anerkennen der Ohnmacht. In sie müssen wir hineinspüren.  Dann erst kann es gelingen den Knoten, der uns innerlich verschließt, zu lösen.
Sie darf sein, die Wut. Wut ist nichts Schlechtes, wenn wir bewusst in sie hineingehen für uns, in uns, sie zulassen, sie wandeln in die Kraft, die uns wieder selbstmächtig macht.
Dann ist Wut transformiert in die heilsame Quelle kreativen Treibstoffs.

Wut hat wie alles gute und schlechte Seiten. Schlecht, weil Wut Gefahr und Zerstörung schaffen kann - gut, weil Wut den Antrieb  in uns wecken kann, kreativ zu sein, Lösungen zu finden und zu überleben.

Sonntag, 21. Juni 2020

Die fünf Hindernisse oder: die Betrachtung der Wirkungen ist immer ein Hinweis auf die Ursachen und die Chance zur Transformation

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Jede innere Veränderung beginnt mit dem Wunsch wie es sein soll. Und in jedem Prozess der Veränderung soßen wir an innere Hindernisse.
Nach der buddhistischen Psychologie werden wir darin unweigerlich mit einigen Geisteszuständen konfrontiert, die Buddha als „Die fünf Hindernisse“ bezeichnet hat.
Wir Menschen werden diese Hindernisse wohl nie ganz überwinden. Sie gehören zu uns. Das ist okay – aber, da sie uns das Leben schwer machen können, können wir etwas tun: Wir können sie uns anschauen, sie benennen, in uns hineinnehmen, integrieren und transformieren.

Diese 5 Hindernisse und ihr Transformationspotenzial sind:

1. GIER: Sie will immer mehr. Sie ist nie zufrieden. Es ist nie genug. Es ist nie perfekt genug. Manche von uns haben en Glaubenssatz: "Ich bin nicht gut genug". Und sie leben danach, ständig getrieben davon besser zu sein, es besser zu machen.
Die Gier will haben, die Gier will es anders haben als es ist. Sie will immer mehr haben. Immer ist sie in einer Zukunft, wo immer mehr sein soll. Ihr größtes Unheil finden wir in der Sucht, wo die Gier die Kontrolle übernimmt und Mäßigkeit aufgelöst und schließlich zerstört wird.
Die Gier hat wie alle Hindernisse das Potenzial der Transformation.
Und dieses Potenzial liegt im Keim, in der Essenz der Gier: Ihre Essenz ist: Verlangen, ist Sehnsucht, ist der tiefe Wunsch nach Zufriedenheit, nach "es genug sein lassen", frei zu sein vom Wollen. Es endlich gut sein lassen wie es jetzt ist. Uns gut sein lassen.
Das ist die Quelle der Gier, und zu ihr hin geht der Weg heraus aus der Gier – hin zur inneren Zufriedenheit.

2. UNRUHE: Sie ist Ungeduld, Ruhelosigkeit, Aufgewühltsein, ständig unterwegs sein (auch gedanklich), nie ankommen dort wo man ist, immer mit den Gedanken woanders sein, ein fernes Ziel, ein anderer Ort, ein Mensch, den wir haben wollen, ein Job, den wir haben wollen, eine Veränderung, die schnell passieren soll. Ungeduldiges hasten ohne jemals anzukommen – und niemals achtsam im Moment sein.
Die Unruhe ist getriebenes Sein.
Ihr Transformationspotenzial ist die Sehnsucht nach Ruhe. Nach Stille. Nach Achtsamkeit im Moment für auf den Moment. Das ist die Quelle der Unruhe, und zu der hin geht der Weg heraus aus der Unruhe – hin zu innerer Ruhe und Frieden in uns selbst.

3. TRÄGHEIT: Sie ist Lähmung, Nichtbewegung, Müdigkeit, Mattigkeit, Stumpfheit, Abstumpfung. Nichts wird getan um das was ist, zu ändern, es wird passiv gelebt nach dem Glaubenssatz: „Ich kann ja doch nicht mache!" Und es werden gründe gesucht, um nichts machen zu müssen. Schuldige, die uns am machen hindern. Eigenverantwortung wird abgegegeben.
Machtlosigkeit, Ohmacht, Opferhaltung, am Ende Resignation. Der träge Mensch wird passiv, dumpf und gefühllos – sich selbst, anderen und dem Leben gegenüber. Seine Haltung: Untätiges Abwarten.
Ihr Transformationspotential ist die Kraft zur Kontemplation und tiefer Einsicht. Das ist die heilsame Quelle der Trägheit: Reflexion, Geduld, Langmut, dann bewusstes Handeln, das der Einsicht folgt.

4. WIDERSTAND: Er ist Ablehnung, Verweigerung und Hass.
Im Widerstand ist Entwicklung blockiert. Was ist wird abgelehnt, was vom Leben von uns erwartet wird, wird verweigert. Der Ruf zur Wandlung wird ignoriert. Es muss bleiben wie es ist, auch wenn es ungut ist. Eine Weigerung zu akzeptieren was ist.
Wut und Hass kommen auf, auf das was ist, und so nicht gewollt ist. Wut und Hass auf das, was uns im Wege steht. Hass auf andere, Hass auf die böse Welt.
Selbsthass, weil wir sind, wie wir sind und uns so wie wir sind, nicht mögen, aber es nicht zugeben wollen. Weil wir Gefühle nicht zulassen, nicht fühlen wollen, weil wir die eigene Wahrheit verdrängen und uns selbst etwas vormachen. Nicht akzeptieren wollen was ist.
„Ich kann das nicht, das schaffe ich nicht, das will ich nicht!“ Das sind Glaubenssätze des Widerstandes. Sein Transformationspotenzial liegt in seiner Essenz: Der Aggression. Die Aggression als Triebkraft für Veränderung hin zum Besseren. Die Aggression als männliches Prinzip, das angreift, anpackt, was notwendig ist und es durchsetzt, zum eigenen Wohle und zum Wohle anderer – Der Weg geht hin zu Entwicklung und Wachstum und zur Gestaltung des eigenen Lebens.

5. ZWEIFEL: Er ist Skepsis. Zweifel zeigt sich in Glaubensätzen wie: „Soll ich oder besser nicht?"" Ich weiß nicht, ob ich okay bin, ich weiß nicht, ob ich das richtig mache, ob dies das richtige Leben für mich ist, der richtige Ort, der richtige Job, der richtige Partner." "Ich weiß nicht, ob mir das hilft, ich weiß nicht, ob das funktioniert." "Ich weiß nicht was ich tun soll, was ich denken soll, was ich fühlen soll, was ich glauben soll" ...usw.
Zweifel ist nicht ungut, vor allem dann, wenn der Zweifel uns weiterbringt. Wird er aber zur Sucht ist er unheilsam. Zweifel zerstört Vertrauen, macht das Leben bodenlos und unser in-der-Welt-sein instabil. Das Transformationspotenzial des Zweifels liegt in der Klarheit. Wer klar ist, zweifelt nicht. Er ist sich seiner selbst sicher, egal was andere meinen, sagen, erwarten. Er ist selbstsicher und stabil – der Weg geht hin zur geistigen und emotionalen Klarheit.

Freitag, 19. Juni 2020

Angst – bloß nicht drüber reden

Foto: Angelika Wende

Angst - bloß nicht drüber reden. Du wirst mitleidig belächelt. Oder sarkastsich belächelt oder sonstwie belächelt. Angst zeigen, gar darüber sprechen. Das geht gar nicht.
Angst scheint für die meisten zu beängstigend um darüber zu reden.
Jetzt übertreib mal nicht so, die Pandemie? Also so schlimm ist das doch gar nicht mehr. Willst du so lange auf Schmalspur leben, bis der Spuk vorbei ist? Na, da kannst du lange warten. Haha.
 

Der Spuk, der so schlimm nicht ist.
Das meinen viele. Sie verhalten sich so, sie machen unbeeindruckt von dem was ist, was sie schon immer gemacht haben - ihr Ding. Soweit das noch geht. Aber genau bis an diese Grenze. Manche darüber hinaus. Wohin es führt, zeigen die Infektionszahlen, die wieder steigen, weltweit.
Sollen sie machen. Drüber leben über die Angst. Sie ignorieren. Sie verdrängen. Sich Sorgen machen um die banalen Dinge des Alltags, sich flüchten in die Arbeit, in die Ablenkung, in den Suff, in den Urlaub, sonstwohin. 


Schutzmaßnahmen gegen uneingestandene Angst.
Bloß nicht hinschauen. Die Angst muss ein Geheimnis bleiben.
Bloß keine Angst zulassen. Die Angst, die dort hin zeigt wo die eigene Verletzlichkeit, die eigene Hilflosigkeit, die eigene Schwäche und Zerbrechlichkeit auf sich aufmerksam machen. Blos nicht hinschauen. Mit Schutzmaßnahmen gegen die Angst handeln, damit sie schön weg bleibt. Drüber leben. Schon gar nicht sich selbst eingestehen.
Angst haben nur Schwächlinge und Angsthasen.
Angst ist was Schlechtes.


Angst ist nichts Schlechtes. Angst ist ein Gefühl.
Auch kluge Menschen, sensible Menschen, weise Menschen kennen Angst. 

Angst ist nichts Schlechtes. Angst kann sogar sinnvoll sein, dann, wenn sie angemessen ist, dann, wenn sie uns etwas zu sagen hat. 

Vergiss es.
Verächtliches Belächeln.
Sollen sie machen ...

Gedankensplitter



Foto: A. Wende

Werden
Vergehen
Vergehen
Werden
Das Werden bedarf des Vergehens.
So entsteht Bewegung.
Bewegung impliziert Vorübergehendes.
Ist Lebendigkeit.
Das Durchleben des Vergehens ist Leben an sich.

Samstag, 13. Juni 2020

Es hört jeder nur, was er versteht ...


Malerei: A.Wende
 

Wir hören nehmen etwas wahr, wir sehen etwas, wir lesen etwas und schon geht es los: Die Denkmaschine da Oben fängt an zu interpretieren. Zack – und dann ist da kein Raum mehr zwischen Reiz und Reaktion. Der Reiz, der das Gehirn über die Sinnesorgane erreicht, findet sofort eine Zuordnung in einen Kontext. Er wird gedeutet und ihm wird automatisch ein Sinn zugeschrieben. Es wird, ohne zu reflektieren was eigentlich ist, nur das wahrgenommen, was mit der eigenen Wahrnehmung zu tun hat, alles andere wird ausgeblendet. Vielmehr wird bewertet, durch den Filter der eigenen Sicht der Dinge, und die hat im worst case mit dem was es ist, nicht mehr viel oder gar nichts mehr zu tun.

Elementar wichtig für die menschliche Kommunikation ist die Interpretation von Sprache. Mittels Sprache, mittels Worten, teilen wir uns einander mit.  

Dies führt oft dazu, dass nur eine Sprache, die dem eigenen Denken entspricht, als wahre Deutung empfunden wird. Worte enthalten Informationen. Wir sprechen sie, wir schreiben sie um uns anderen mitzuteilen. Jedoch zeigt die Erfahrung, dass wir nicht davon ausgehen können so verstanden zu werden, wie wir es meinen. Daher ist es gut sich darüber bewusst zu sein, dass der eigene Erfahrungs- und Wissensstand mit dem des Gegenübers nicht gleichzusetzen ist. Wir senden und der Empfänger empfängt und interpretiert. Oft genügt schon ein Satz, der vom Empfänger aus dem Zusammenhang einer Aussage oder eines Textes herausgefiltert wird und die Interpretation nimmt ihren Lauf direkt ins eigene kleine Universum.

"Es hört doch jeder nur, was er versteht", schrieb Johann Wolfgang von Goethe einst und trifft es auf den Punkt.
Es werden unreflektiert sofort Schlussfolgerungen gezogen, die mit dem ursprünglich Wahrgenommenen nichts mehr oder nur wenig zu tun haben. Der Inhalt des Gesendeten wird in seiner Komplexität ausgeblendet. Empfangen wird nur das, was die eigene Denkmaschine verstehen kann und demzufolge deutet. Durch die individuelle Deutung ergibt sich daher nicht selten das Dilemma des Missverständnisses, weil unterschiedlich wahrgenommen wird.

Sind wir uns dessen bewusst, wissen wir: Ich bin verantwortlich für das, was ich sage, aber nicht für das, was der andere versteht und daraus machst.
Die Interpretation ist ein kognitiver Prozess. Als einer der Filter unserer Wahrnehmung sorgt sie dafür, dass wir Eindrücke und Situationen, die wir mit unseren Sinnen aufnehmen, in einen Kontext bringen und Schlussfolgerungen ziehen, abhängig von persönlicher Erfahrung, persönlichem Wissen und der Fähigkeit Reize richtig zuzuordnen. Die Interpretation ist demnach immer rein subjektiv und eng mit den Assoziationen verbunden, die ein Mensch macht.

Je weniger offen, je weniger reflektiert, je weniger achtsam, je weniger empathisch ein Mensch ist, desto mehr neigt er zu Interpretationen.  

Er landet bei allem, was er im Außen wahrnimmt, automatisch bei sich selbst und seiner Sicht von Welt. Er kann sich nicht oder nur begrenzt in die geistige und in die emotionale Welt anderer hineinversetzten. Er lebt in seinen eigenen Vorstellungen, Deutungen, Bewertungen und Urteilen, ohne anderes zulassen zu können bzw. überhaupt verstehen zu können. Sein Gehirn konstruiert anhand einzelner Elemente eine Auslegung der gesamten Situation, die seinen Erfahrungen, seinem Erleben, seinen Konditionierungen und seinen inneren Überzeugungen entsprichen. Er ist nicht fähig seine Interpretation der Dinge zu hinterfragen. Was letztlich dazu führt, dass er sich selbst und Welt immer auf die gleiche Weise sehen wird und für geistiges, wie seelisches Wachstum wenig bis gar nicht empfänglich ist. Er ist ein Gefangener seiner Interpretation.

Auch in der Praxis sind diese Menschen eine Herausforderung. Es braucht viel Empathie, Zeit und Geduld sie aus dem eigenen kleinen Universum in dem sie gefangen sind, behutsam herauszuholen um ihren Blick auf das Meer von Möglichkeiten, abseits ihrer Interpreationen, zu lenken.

Mittwoch, 10. Juni 2020

Aus der Praxis: Der eingebildete Kranke – Hypochondrie verstehen


 
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Le Malade imaginaire, Der eingebildete Kranke ist eines der berühmtesten Theaterstücke von Moliere und zugleich sein letztes Werk. Die Komödie wurde im Februar 1673 uraufgeführt und Moliere selbst spielte darin die Hauptrolle des Argan. Argan ist besessen: er ist davon überzeugt krank zu sein, aber außer seinen Ärzten glaubt ihm das niemand. Mehr noch - alle lachen ihn aus. Es scheint wie eine Ironie des Schicksals, dass Moliere bei der letzten Vorstellung einen Blutsturz erlitt. Der Dichter starb in Kostüm und Maske nur wenige Stunden später.
Heute würde man Argan einen Hypochonder nennen. Menschen mit einer Hypochondrie werden sich in ihm und seiner quälenden Krankheitsangst wiederfinden, vorausgesetzt sie sind sich ihrer Störung bewusst.

Hypochonder gelten als hysterisch. Man sagt ihnen nach, dass sie sich ohne Grund verrückt machen. Für die Betroffenen selbst ist die Hypochondrie, auch „Krankheitsangst“ genannt, jedoch eine starke psychische Belastung mit hohem Leidensdruck. Hypochondrie ist ein ständiger Tanz gegen die Angst.
 
In der Psychologie zählt die hypochondrische Störung zu den somatoformen Störungen. Eine ausgeprägte Krankheitsangst geht häufig mit Ängsten, Panikattacken und einem zwanghaftem Überprüfen des Körpers nach Krankheitsanzeichen einher, was dazu führen kann, dass die Empfindungen noch unangenehmer werden oder dass Krankheitssymptome erst entstehen oder verstärkt werden. Die Krankheitsangst wird zwischen somatoformen Angst-, Panik- und Zwangsstörungen angesiedelt. 

Hypochonder haben eine übersteigert große Angst vor Krankheiten. Ständig kreisen ihre Gedanken sorgenvoll um ihre Gesundheit. Die Angst vor körperlichen Schmerzen, Leiden, Sterben und Tod beherrscht ihren Alltag und legt sich wie eine schwere Nebeldecke über alles andere. Sie sind besetzt von dem Gedanken, eine Krankheit wolle ihnen ans Leben und es ihnen nehmen.  
Die Angst des Hypochonders bezieht sich auf alle möglichen Köperteile und die dort potentiell entstehenden oder schon bestehenden Krankheiten, die er selbst diagnostiziert. Er betreibt intensive Recherchen im Internet oder in medizinischen Fachbüchern in Bezug auf die von ihm gefürchteten Krankheiten. Jedes kleine Wehwehchen kann für ihn Schlimmes bedeuten. Hypochonder achten übersteigert auf jedes noch so kleine Signal ihres Körpers, und nehmen es  bereits in geringer Intensität wahr.  Sie sind felsenfest davon überzeugt an einer Krankheit zu leiden oder demnächst krank zu werden und das immer ernsthaft. Sie rennen ständig zum Arzt um sich zu versichern, dass sie doch nicht so schwer krank sind wie sie glauben und, werden sie ob ihrer Angst und ihren Symptomen, die sie ja haben, nicht ernst genommen, wechseln sie Ärzte und Notfallambulanzen. Andere Betroffene wiederum vermeiden es zum Arzt zu gehen, obwohl sie Beschwerden haben, aus Angst, ihre Befürchtung krank zu sein, könnte sich bestätigen. 

Im Kopf des Hypochonders kreist ein Katastrophen-Karussell. Ein Karussell, das in Wahrheit weniger eine Krankheit als eine große Lebensangst am Kreisen hält. Diese Lebensangst ist bei vielen Betroffenen der Urgrund der Hypochondrie.
 
Der Hypochonder ist davon überzeugt, dass es ihm nicht gut gehen darf, dass er nicht gesund sein darf, dass er leiden muss. Und er leidet ja auch in seiner sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Hypochonder sind von der Persönlichkeit her oft depressiv-melancholische Menschen. Man schreibt ihnen narzisstische und hysterionische Verhaltensweisen zu, weil sie dramatisieren und nach Aufmerksamkeit schreien. So wie der Junge in der Geschichte mit dem Wolf, den er jede Nacht im Dorf ankündigt und der nie kommt, sondern erst dann, als dem Jungen keiner mehr glaubt: Der arme Junge wird schließlich vom Wolf gefressen. 

Das Leben mit einem Hypochonder ist anstrengend und es ist noch anstrengender selbst ein Hypochonder zu sein. Seine Krankheitsangst ist ein Drama in unzähligen Akten.  

Gefangen in seiner Angst produziert er jedoch unbewusst das Drama selbst. Immer mit einer Hybris und ohne Katharsis. Erlösung hat er nicht verdient, weil er tief im Innersten glaubt ein gutes und gesundes Leben nicht verdient zu haben oder weil er der Überzeugung ist, dass das Leben Leiden und Tod bedeutet.Diese destruktiven Überzeugungen sitzen wie eine Krebsgeschwulst in seinem Unterbewusstsein. Wer davon überzeugt ist kein gutes gesundes Lebens verdient zu haben, glaubt unbewusst von sich, dass er ein schlechter Mensch ist, dass er nicht wertvoll genug ist um leben zu dürfen und wenn, dann nur leidend und unter Schmerzen. Oder er glaubt, dass er für Etwas bestraft wird, was er einmal getan hat. Meist kommt dieser Glaube aus Introjektionen der Kindheit. Gefühle wie Scham und Schuld spielen bei der Hypochondrie eine nicht unwesentliche große Rolle. Wohlgemerkt all das ist dem Betroffenen nicht bewusst. In sein Bewusstsein schießt nur die seelische Angst – die sich in der Krankheitsangst einen Platz sucht, weil ihr wahrer Grund unbekannt ist. 

Die Ursachen der Hypochondrie sind noch wenig erforscht. Man geht jedoch davon aus, dass eine genetische Disposition und das Persönlichkeitsmerkmal „Neurotizismus“ eine Rolle spielen. Auch ein unsicher, ein unsicherer oder ablehnender Bindungsstil in der Kindheit und Alexithymie können eine Rolle spielen.  
Alexithymie ist ein Konzept der psychosomatischen Krankheitslehre.
Der Begriff wurde 1973 von den amerikanischen Psychiatern John Case Nemiah und Peter Emanuel Sifneos geprägt. Alexithymie bezeichnet die Unfähigkeit mit somatisierten Beschwerden umzugehen, Gefühle adäquat wahrzunehmen und sie zu beschreiben. Mit anderen Worten: Gefühle werden auf seelischer Ebene verdrängt und auf die körperliche Ebene verlagert. Beispielsweise werden Beschwerden wie Herzrasen nicht als Ausdruck von Angst erkannt, sondern als rein körperlich gedeutet.  

Die Hypochondrie ist ein Symptom, das selbst zur Krankheit wird und ein eigenes Krankheitsbild herausbildet, wenn tiefverdrängte Gefühle nicht erkannt und nicht verarbeitet werden konnten.  
Die meisten Hypochonder sind hochsensible Menschen. Sie besitzen ein geringeres Selbstbewusstsein verbunden mit erhöhter Empfindsamkeit für alles was verletzend ist und haben eine hohe Vulnerabilität. Der tiefenpsychologische Erklärungsansatz in Bezug auf die Hypochondrie geht von einem traumatischen Erleben in der Kindheit oder auch im späteren Erwachsenenalter als Auslöser für die spätere Neurose aus. Es ist kein Zufall, dass die Krankheiten, vor denen sich der Hypochonder besonders fürchtet, bei genauer Betrachtung in Beziehung zu früheren Erlebnissen in seiner Biografie steht. Bei Herzangst z.B. kann es sein, dass ein nahe Angehöriger herzkrank war oder früh daran gestorben ist. Auch eine frühe Konfrontation mit dem Tod eines geliebten Menschen in der Kindheit, die nicht verarbeitet werden konnte, kann so nachhaltig prägen, dass sich im späteren Leben eine Hypochondrie entwickelt.

Im Grunde können wir die Hypochondrie als die vom Betroffenen einzig mögliche Bewältigungs- und Selbstheilungsstrategie anderer unbewusster Probleme verstehen.  
Sie ist der unbewusste Versuch Kontrolle und Sicherheit in einem Leben herzustellen, das als unsicher und bedrohlich erfahren wurde und wird. Sie ist das Leiden eines Menschen, der sich selbst, dem eigenen Körper und dem Leben, nicht vertraut, weil sein Urvertrauen an einem Punkt in seinem Leben radikal erschüttert wurde. Sie ist ein Schrei nach Zuwendung und Aufmerksamkeit, die schmerzlich vermisst wird und keinen anderen Weg findet diese zu erhalten, als den über die Neurose.

Ein Hypochonder leidet wirklich und wenn er Schmerzen hat fühlt er sie wirklich. Man sollte ihn nicht verlachen wie den Argan in Molieres Komödie. Vielmehr braucht er Annahme, Verständnis und Mitgefühl für seine Lebens- und Todesangst. Er braucht Zuwendung, Trost und Liebe und vor allem einen guten Therapeuten, der ihm hilft seiner wahren Angst auf die Spur zu kommen, damit  diese nicht mehr auf den eigenen Körper projizieren werden muss. 
Die Behandlung der Krankheitsangst verfolgt mehrere Ziele. Sie soll dem Patienten helfen, alternative Erklärungen und Deutungen für seine Missempfindungen zu finden, die Wahrscheinlichkeit der Krankheitsannahmen zu verändern und das nach Sicherheit suchende Verhalten zu reduzieren. Ein wichtiger, edukativer Bestandteil der Therapie besteht darin, dem Betroffenen zu vermitteln, welche Körperempfindungen normal sind, wie zum Beispiel sein Herzschlag oder die Bewegungen des Magen-Darmtraktes. Darüber hinaus wird vermittelt, zu welchen körperlichen Reaktionen Stress und Angst führen, denn diese kommen unter anderem als Erklärung für sein Missempfindungen infrage. Der Betroffen lernt sich selbst neu zu beobachten und seine Symptome auf gesunde Weise zu deuten. Es geht besonders darum zu lernen, realistisch die Wahrscheinlichkeit abzuwägen, ernsthaft krank zu sein. Dazu gehört auch die Aversivität von Körperempfindungen und Krankheitsängsten zu reduzieren, indem beispielsweise angstbesetzte oder Gedanken von Trauer zugelassen und hinterfragt werden. Auch Achtsamkeitsübungen sind hilfreich. Achtsamkeitsübungen wirken erwiesenermaßen sehr gut gegen alle Arten von Angstzuständen. Da die Komorbidität mit Depressionen, Angst-, Panik- Zwangs- und Somatisierungsstörungen hoch ist, sollten diese Störungen unbedingt mit einbezogen werden.
Es ist ein langer Weg, aber es kann gelingen, die Krankheitsangst zumindest auf ein Maß zu reduzieren, dass sie nicht das ganze Leben beherrscht.

Findet der Hypochonder keinen Ausweg lebt er sein einsames Drama weiter – ohne Katharsis wie gesagt, denn auch wenn er ständig mit dem Tod spielt, die Angst vor dem Tod verliert er trotzdem nicht.

www.wende-praxis.de




Samstag, 6. Juni 2020

Verlust und Trauer

Foto: A.W.


Wenn die Realität, wie wir sie kennen, zerbricht fallen wir ins Bodenlose. Verlieren wir einen Menschen, mit dem wir unser Leben geteilt haben, verlieren wir nicht nur ihn, sondern auch ein Stück unserer Welt. Wir verlieren, was uns Halt, einen Bezugspunkt und einen Sinn gab. Der Verlust eines geliebten Menschen fühlt sich an als hätten wir einen Teil von uns selbst verloren. Wir vermissen nicht nur den Menschen, wir vermissen die Gewohnheiten, die wir mit ihm geteilt haben, wir vermissen das Gefühl, dass jemand an unserer Seite ist, wir vermissen, dass wir die Aufgaben, Probleme und das Schöne des Alltags teilen können, wir vermissen die gemeinsamen Gespräche, wir vermissen die Beziehung an sich und wir vermissen das Gefühl geliebt zu werden und zu lieben. Es ist völlig egal warum wir diesen Menschen verloren haben - ob er gegangen ist, ob wir selbst gegangen sind oder ob der Tod uns von diesem Menschen getrennt hat, wir erleiden einen schmerzhaften Verlust.

Plötzlich ist da eine Lücke in unserem Leben, ein riesiges dunkles Loch, das sich vor uns auftut, und wir wissen nicht womit wir es füllen könnten.
Dieses Loch füllt sich zunächst mit all den Gefühlen von Trauer, Angst, Schmerz, Wut, Ohnmacht und vielleicht sogar Verzweiflung. Wir gehen durch alle Phasen der Trauer, die sich bei einem Abschied einstellt. Diese Phasen hat die Psychoanalytikerin und C.G. Jung Schülerin Verena Kast so zusammengefasst: Den Schock des Nicht-Wahrhaben-Wollens, Verzweiflung, Hilf- und Ratlosigkeit herrschen vor. Die Phase der aufbrechenden Emotionen: Gefühle bahnen sich ihren Weg. Schmerz, Wut, Zorn, Traurigkeit und Angst, wobei je nach der Persönlichkeitsstruktur des Trauernden andere Gefühle vorherrschen. Beim einen sind es Wut, beim anderen Schmerz, beim nächsten sind es Schuldgefühle, weil er meint, er hätte das, was ist verhindern können oder er sei gar verantwortlich für das, was ist. Diese Gefühle haben einen Sinn, sie müssen durchlebt werden, sie müssen an die Oberfläche. Werden sie unterdrückt kommt es nicht selten zu einer andauernden Melancholie, zu Depressionen und zur Desorientierung im weiteren Lebensverlauf.

Eine weitere Trauerphase ist die des Suchens und Sich-Trennen
Auf jeden Verlust reagieren wir mit Suchen. Im Schmerz der Trauer suchen wir nach dem verlorenen Menschen, wir suchen nach dem gemeinsamen Leben, wir suchen in Erinnerungen, wir suchen an gemeinsam besuchten Orten, in den Gesichtern Fremder, in Gewohnheiten, die wir aufrecht erhalten um was uns Halt gab, nicht auch noch zu verlieren. Im Verlauf dieses Suchens, Findens und Wieder-Trennens, so Kast, kommt irgendwann der Augenblick, wo der Trauernde die Entscheidung trifft, wieder ja zum Leben und zum Weiterleben zu sagen. Kommt dieser Augenblick nicht, verharren wir in der Trauer. Wir können nicht loslassen, wir lösen die Fäden nicht, die uns an den Anderen gebunden haben - wir bleiben gebunden an die unwiderbringliche Vergangenheit, unser Leben im Jetzt stagniert. Wir erstarren emotional. So wird aus Schmerz Leiden. Wir leiden immer, wenn wir etwas verloren haben und wir leiden, wenn wir etwas Erwünschtes nicht haben können. Das Leiden, sagt Buddha, hat eine einzige Wurzel - das Verlangen. 

Es ist schwer kein Verlangen mehr zu haben. Sich endgültig zu verabschieden bedeutet - nicht mehr zu verlangen, dass das Alte wiederkehrt.  
Das Ende des Leidens heißt, dieses Verlangen, diesen Wunsch zu begraben. Es bedeutet zu akzeptieren was ist - loszulassen was nicht mehr ist und die neue Wirklichkeit anzuerkennen wie sie ist. Ja, so ist es! Das bedeutet es annehmen. Es hilft diese Worte immer wieder zu sagen. Ein kluger Mann gab mir diese Worte in meiner Trauer und ich sage sie, ich wiederhole sie immer dann, wenn ich den Drang verspüre mir zu wünschen, dass die Dinge anders sein sollen, als sie sind. Das Ja zu dem was ist heißt nicht, dass es weniger schmerzt, heißt nicht, dass es weniger schlimm ist - es heißt: Ja, es ist schlimm, aber ich akzeptiere den Schmerz, ich will ihn auch nicht wegmachen. Ich lasse ihn sein und versuche ihn nicht zu verdrängen, ich lasse ihn da sein, solange er da ist. Ja, so ist das!, macht den Schmerz erträglicher, weil der Widerstand wegfällt und weil damit das Verlangen wegfällt es anders haben zu wollen.  

Wir leiden weniger, wenn wir den Schritt wagen kein Verlangen mehr zu haben. Es ist wahr. Es ist wahr, weil es keinen Sinn macht, nach etwas zu verlangen, was für uns nicht erreichbar ist.
Das ist eine schwere Aufgabe für alle Menschen, denn wir Menschen haben Verlangen und wir haben Wünsche. Wir sind nicht Buddha und nicht so erleuchtet, dass die bloße Erkenntnis ausreichen könnte um unseren Schmerz zu lindern. Aber wir können lernen, aus dem Schmerz kein Dauerleid zu erschaffen indem wir an Verlorenem hängen bleiben. Oh ja, es ist verlockend, denn das Gebundenbleiben an das Verlorene, an den Menschen, den wir verloren haben, füllt die Lücke des Verlustes - wir müssen nicht nach dem Neuem suchen, was sie füllen könnte. Wir suggerieren uns damit unbewusst: Da wo eigentlich Leere ist, ist noch Fülle, die Fülle des Vergangenen. Das Gebundenbleiben soll uns bewahren vor diesem entsetzlichen schwarzen Loch, das sich auftut, wenn wir Ja zu dem sagen, was nicht mehr ist. 

Trauer hat keine begrenzte Zeit und jeder Mensch braucht seine Zeit der Trauer. Die Einen mehr, die Anderen weniger. Trauer lässt sich nicht abkürzen und nicht beschleunigen.  
Jede Trauerphase kann Wochen, Monate oder Jahre dauern und die Phasen können einander immer wieder abwechseln. Trauer ist eine Achterbahn der Gefühle. Trauer erfordert Geduld mit uns selbst. Sie erfordert aber auch, dass wie irgendwann begreifen, dass Verluste zum Leben gehören. Verluste sind allgegenwärtig und unvermeidlich. Verluste sind notwendig, weil wir an ihnen wachsen. Nur durch sie werden aus uns vollentwickelte Menschen. Verlust und Trauer sind Anpassungsprozesse. Wohl gemerkt: Prozesse. Jeder Prozess hat verschiedene Stadien und Ebenen in denen er verläuft. Wir können diesen Prozess weder beschleunigen noch manipulieren, aber wir tun gut daran uns ihm zu überlassen. Damit beginnen wir bereits ein wenig loszulassen. 

Im Loslassen beginnt langsam und allmählich das, was Verena Kast den neuen Selbst- und Weltbezug nennt.
Nachdem wir unseren Schmerz, unsere Wut und unsere Verzweiflung gefühlt haben, nachdem alle Anklagen und Vorwürfe gegen Gott, das Schicksal und das Leben gemacht werden durften, kehrt mit der Zeit allmählich Frieden in die Seele zurück. Der Verlust hat dort seinen Platz gefunden. Das Herz wird ruhiger. Wir erkennen, dass unser Leben auch ohne den Anderen weitergeht und dass wir selbst dafür verantwortlich sind die Lücke zu füllen. Die große Herausforderung besteht jetzt darin, Wege zu finden uns ein neues Leben zu gestalten, was uns, weil es so ganz anders ist als das alte Leben, schwer fällt. In diesem Moment kommen Fragen wie: Wer bin ich? Was will ich? Wohin will ich gehen? Was gibt meinem Leben noch einen Sinn oder was gibt ihm einen neuen Sinn? Es braucht wieder Zeit um Antworten zu finden. Und manchmal brauchen wir in dieser Zeit Hilfe um sie zu finden. Jemand, der uns hält und uns die Kraft gibt um nach dem Verlust weiterzumachen.
Und irgendwann ist das schwarze Loch ist nicht mehr so bedrohlich, auch wenn der Verlust noch immer schmerzt. Ja so ist das! Und ja, das tut weh. Aber da ist nicht nur der Schmerz, da ist auch das Leben, das auf uns wartet, trotz aller Verluste.



Freitag, 5. Juni 2020

Du musst nicht von allen gemocht werden





Wir sind Beziehungswesen. Das liegt in unserer menschlichen Natur. Wir alle haben das Bedürfnis nach Zuneigung. Wir wollen gesehen, anerkannt, akzeptiert und geliebt werden. Diese Bedürfnisse sind gut und gesund, weil sie zu unserem Seelenheil beitragen und menschliches Miteinander überhaupt erst möglich machen. Diese Bedürfnisse resultieren aus einem tief in uns verwurzeltem alten Überlebensmechanismus. Früher war es einfach nicht möglich, alleine ohne die Gruppe zu überleben. Diese Erfahrung steckt noch immer in unserem kollektiven Gedächtnis.

Zum Problem werden diese Bedürfnisse dann, wenn wir glauben, dass das Wohlwollen, die Akzeptanz oder die Liebe anderer der entscheidende Faktor für unseren eigenes Wohlergehen ist. 
Es gibt Menschen, denen es so wichtig ist von allen gemocht zu werden, dass sie sich schlecht fühlen, wenn sie nur die geringste Zurückweisung erfahren. Sie können es nicht ertragen, wenn andere sie nicht mögen. Diesen Menschen ist es deshalb auch enorm wichtig, was andere über sie denken. Haben sie das Gefühl, dass es nichts Gutes ist, macht sie das zutiefst unsicher und unglücklich. Um das zu vermeiden sorgen sie immer dafür niemanden zu enttäuschen oder zu verärgern.
Gemocht werden ist für diese Menschen wie die Luft zum Atmen. Sie brauchen sie um nicht emotional zu ersticken. Positives Feedback ist der Treibstoff für ihr gesamtes Handeln in der Interaktion mit anderen. Sie müssen einfach gefallen. Diese Menschen sehnen sich so sehr nach Wertschätzung durch andere, weil es ihnen nicht gelingt, sich selbst wirklich zu wertschätzen. Früher nannte man dieses Verhalten Gefallsucht. Heute nennt man solche Menschen "People Pleaser". Das Paradoxe ist: Je mehr der "People Pleaser" versucht zu gefallen, desto schlechter gelingt es und, bleibt der Erfolg aus, geht es ihm umso schlechter.

Anderen Menschen gefallen zu wollen macht geistig und emotional abhängig. Und es macht uns klein vor den anderen, die genau spüren, dass wir von ihrem Wohlwollen abhängen.  
Wir machen uns damit selbst klein. Das kann uns sogar großen Schaden zufügen, denn so sind wir manipulierbar und verletzbar. Indem wir alles tun um anderen zu gefallen, laden wir sie förmlich dazu ein uns zu benutzen. Wir machen uns also selbst unglücklich, wenn wir alles tun, um zu gefallen, damit andere uns wertschätzen oder lieben. Bekommen wir das Ersehnte nicht, fühlen wir uns frustriert, hilflos und ohnmächtig. Und wir werden oft enttäuscht.

Frustration, Hilflosigkeit und Ohnmacht sind unheilsame Gefühle, die auf Dauer nicht nur zu seelischen Verstimmungen führen, sondern krank machen können.Diese unheilsamen Gefühle können wir nicht immerzu wie einen Ball ins Wasser runterrücken, sie ploppen hoch, so wie der Ball sobald man ihn loslässt. Meist allein zu Hause, in der Nacht, wenn es dunkel ist, wenn da keiner ist, der uns gibt, was wir so dringend brauchen und für das wir bereit sind alles zu tun schleichen sie sich an uns heran. 

Unheilsame Gefühle zehren am Gemüt. Und sie entmutigen mit der Zeit.
So traurig es ist, das Leben zeigt uns, andere Menschen sind nicht immer bereit zurückzugeben was ihnen geschenkt wird, auch wenn wir uns das wünschen. Es ist und bleibt ein Wunsch, geboren aus der Sehnsucht geliebt zu werden. Diese Sehnsucht ist ein starkes Gefühl, das meist aus der Kindheit rührt, aus einer Zeit wo wir abhängig waren von der Zuwendung anderer. Haben wir diese nicht ausreichend und in gesundem Maße bekommen, bleibt diese Sehnsucht bis ins Erwachsenenalter.
Und das ist der Fallstrick für Gefallsüchtige: Sie fordern etwas ein, was sie nie bekommen haben, in der Hoffnung den kindlichen inneren Mangel endlich doch noch füllen zu können.  Es gelingt nicht, wie die Erfahrung zeigt. Wir müssen also etwas ändern um uns selbst nicht weiter Schaden zuzufügen.

Wir könnten darüber nachdenken, was in uns es ist, warum wir so sehr gemocht werden wollen und alles tun um zu gefallen.
Vielleicht wollen wir ja selbst nicht zurückgewiesen, enttäuscht oder verletzt werden. Und so tun wir alles um es anderen nicht zuzumuten. Nach dem Motto: Ich tu dir nichts an, was ich nicht möchte. Vielleicht fürchten wir uns vor Konflikten und glauben ihnen nicht standhalten zu können, wenn wir sagen, was wir in Wahrheit denken und fühlen oder wenn wir Nein sagen.
Vielleicht möchten wir, dass andere es uns immer Recht machen.
Vielleicht geben wir den Geber um zu bekommen, was wir gerne hätten. 

Wer sein gefallsüchtiges Verhalten ändern will oder es zumindest versucht, landet schnell beim Thema Selbstliebe.  
Jemand, der sich selbst lieb hat, ist nicht abhängig von der Liebe und der Zuneigung anderer. Er ist nicht abhängig davon, ob er anderen gefällt. Es ist schön wenn das so ist, aber es ist nicht überlebenswichtig. Sind Zuneigung oder Liebe von anderen gerade nicht da, weiß er dennoch um seinen Wert als liebenswerter Mensch.

Aber woher die Selbstliebe nehmen, wenn sie nicht vorhanden ist? Woher das Gefühl nehmen: Du bist wertvoll, du bist liebenswert so wie du bist, wenn ein Mensch das nicht oder genau das Gegenteil erfahren hat?
Das ist schwer und das muss dieser Mensch sich erarbeiten. 
Wobei, Selbstliebe ist so ein großes Wort - nennen wir es lieber Selbstfreundschaft. Und die kann man durchaus lernen. Man kann lernen, wie man gut für sich sorgt. Man kann lernen, wie man Grenzen setzt. Genau das ist es, was ein Mensch der allen gefallen und um jeden Preis geliebt werden will, nicht kann: sich abgrenzen. Grenzen ziehen. Er kann es nicht, weil er nicht spürt wo er aufhört – wo seine Grenze ist und wo der andere anfängt – wo dessen Grenze ist. 

Wenn ich meine eigenen Grenzen nicht spüre, fehlt mir das Gefühl für mein ganzes Sein. Es fehlt das Bewusstsein für mich selbst, für mein Sosein. 
Und mir fehlt das Bewusstsein für die Grenzen anderer Menschen.
Fehlt dieses Erleben spüre ich mich selbst nur in Kontakt mit anderen und definiere mich über andere. Ich fühle mich verloren sobald ich diesen Kontakt und dieses Erleben verliere.
Um dieses Gefühl für mich selbst zu bekommen, darf ich lernen mich auf mich selbst zu zentrieren, ich darf mich selbst erforschen und letztlich darf ich lernen mich selbst zu akzeptieren. 

Ich muss wissen, was mich als Mensch ausmacht um ja zu mir selbst zu sagen.
Erst mit dem Ja zu mir selbst bin fähig ein Nein zu sagen, wenn diesem Selbst Schaden zugefügt wird.
Damit beginnt die Fähigkeit mich abzugrenzen.
Und zwar auch von den inneren kindlichen Bedürfnissen, die mir schaden.
Das wird an dem Bedürfnis von allen gemocht oder geliebt zu werden erst einmal nichts ändern, aber ich erlaube diesen Bedürfnissen da zu sein ohne dem kindlichen Bedürfnis kopflos zu folgen und es sofort stillen zu müssen. Mitfühlend mit mir selbst, weil ich weiß, ich habe einen Hunger nach Liebe, der sehr alt ist, so alt wie ich selbst und der nie gestillt wurde. Ich werde aber, weil ich mir selbst ein guter Freund sein will, nicht mehr versuchen ihn um jeden Preis durch andere stillen zu lassen, zumal ich weiß, dass ich mich damit emotional und geistig in eine unheilsame Abhängigkeit begebe.
Ich lerne den Mangel da sein zu lassen und ich lerne ihn auszuhalten.

Und mit der Zeit lerne ich wie ich mir selbst geben kann, was mir fehlt. Nicht alles, aber vieles was mir gut tut und heilsam ist. Ich werde dann aufhören mich zu verbiegen, mich selbst zu verleugnen und mich selbst so klein zu machen, dass ich mich selbst herabwürdige und damit anderen die Erlaubnis gebe, das mit mir zu tun.