Mittwoch, 24. Juli 2024

Aus der Praxis: Wenn das Ego stirbt

 

                                                                   Foto: pixybay

 
 
„Werde der du bist“, steht in Nietzsches Ecce homo“ als Aufruf zur Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung.
Wer bin ich? Was ist mein wahres Selbst?
Ich will ich selbst sein, ich selbst werden, zu mir selbst finden, ich habe mich selbst verloren, mein Selbst ist fragmentiert, ich kenne mich selbst nicht (mehr).
Das sind Wünsche und Gedanken, die wir alle kennen.
Bewusste Menschen, die sich auf den Weg zur Selbstkenntnis machen, suchen sich selbst und viele finden sich nicht.
 
Warum ist das so?
Weil das Es, das Ego, uns dabei im Wege steht.
"Du musst dein Ego auflösen!", oder ganz radikal: "Du musst dein Ego töten!, gilt als Voraussetzung um zum wahren Selbst zu finden und damit beginnt das Problem.
Wie etwas auflösen was zur Struktur unserer psychischen Instanzen gehört, was einen Sinn und eine Aufgabe hat, was zum Überleben dient, uns das Überleben seit Kindesbeinen sichert, was auf Bedürfnisse verweist und uns hilft unser Leben überhaupt zu gestalten? Ohne Ego könnten wir nicht einmal unsere überlebensnotwendigen Bedürfnisse stillen und würden zugrunde gehen. Stirbt das Ego, stirbt der Körper.
Was aber sein kann und das kann äußerst schmerzhaft sein: Ein Teil des Egos stirbt.
Das geschieht indem wir durch eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt erlangt oder ein plötzlich ins Leben einbrechendes erschütterndes Ereignis, einen Weckruf oder eine tiefe Erkenntnis die Identifizierung mit dem eigenen Ego aufgeben müssen, indem wir plötzlich hinter die Fassade des Egos blicken und erkennen, wo es uns nicht mehr nützt oder sogar schadet.
Wir können es nicht mehr. Wir identifizieren uns nicht mehr mit den alten Gefühlen und Gedanken, die das Ego erschaffen hat, denen wir lange geglaubt haben und ihnen automatisch im Überlebensmodus gefolgt sind. Das Bild, das wir von uns hatten, hält der Illusion von uns selbst nicht mehr stand, das Wollen, das uns beherrscht hat, funktioniert nicht mehr, weil wir erleben müssen, dass wir so, wie wir drauf waren, plötzlich im Jetzt nicht mehr klar kommen. 
 
Das geschieht häufig wenn wir in eine Krise gleiten oder wenn wir in einen anderen Lebensabschnitt übergehen, wenn Vertrautes zusammenbricht, wenn was uns Halt und Sicherheit gab verloren ist, wenn wir hinfällig, alt und krank werden, wenn Werte zerbröseln und Überzeugungen der Realität nicht mehr standhalten, wenn alle Ego-Mechanismen versagen, die uns bisher dienlich waren. Das geschieht, wenn wir nicht mehr der oder die Starke, die Schöne, der Tolle, der Erfolgreiche, Wonderwoman oder Superman sind, die uns unsere Ego vorgegaukelt hat und die wir irgendwie auch waren, und wir erkennen müssen, das unser Wollen an innere und äußere Grenzen stößt. Unser Wollen prallt am Jetzt-Zustand ab.
 
Wir wissen nicht mehr wer sie sind, was wir noch wollen wollen, wozu wir da sind, was der Sinn ist. Wir wissen nicht mehr, wohin mit uns. Etwas fühlt sich an wie Sterben. Was in Wahrheit stirbt ist das alte Ego. Das tut verdammt weh und das ist schmerzhaft. Wir spüren, da geht die alte Identität zugrunde. Wie eine neue aussieht, davon haben wir keinen blassen Schimmer. Also kämpfen wir um die alte Identität aufrecht zu erhalten, merken aber, egal wie sehr wir kämpfen, es funktioniert nicht – das alte Ego geht zugrunde und die alten Überlebenstrategien mit ihm.
 
Was jetzt?
Das muss man erst einmal wirklich gefühlt begreifen um etwas tun zu können. Man muss begreifen, dass das alte Ich stirbt, weil es seine Zeit überlebt hat.
Mi einem: Ich lasse das jetzt einfach los, gelingt diese Transformation den meisten von uns nicht. Schön wäre es, funktioniert aber nicht, denn unsere Überlebenstrieb bekommt es mit der Angst zu tun. Wir haben ja noch keine neuen Strategien um die alten zu ersetzen.
Wir müssen diese erst einmal finden und installieren um eine neue Identität überhaupt formieren zu können, um uns selbst neu finden zu können, aber wir fühlen uns nur so wie wir jetzt in diesem Moment der Zeit sind – gefühlt halbtot innerlich.
Da klafft ein Loch von dem wir nicht wissen wie wir es füllen sollen, denn diese Erfahrung ist brandneu. Wir müssen sie erst einmal erfahren, sprich: uns selbst anders erfahren als wir uns über Jahrzehnte erfahren haben. Uns selbst anders sehen und begreifen als wir es gewohnt sind. Einen neuen Blick auf uns werfen und erforschen was da sonst nicht ist, was wir nie zuvor gesehen haben, was uns ausmacht wenn das Alte stirbt.
Dieser transformative Prozess ist eine riesige Challenge.
Und ja, er macht eine Heidenangst. Aber wenn wir den Mut haben und trotz und mit der Angst da durch gehen, haben wir die Chance zu erkennen, wer wir wirklich sind, das volle Potenzial, das in uns schlummert zu wecken, unsere Ganzheit zu erkennen und zu entfalten, was da noch ist, außer dem alten Ego Trip. Wir haben die Chance zu erkennen, dass wir mehr sind als unser Ego dachte. Dann erst kann Wandlung stattfinden. 
 
"Wenn das Ego stirbt, erwacht die Seele"
- Mahathma Ghandi 
 
 
Wenn Du Dir Unterstützung in diesem Prozess wünscht, schreib mir jetzt eine Mail unter: aw@wende-praxis.de
 

Dienstag, 23. Juli 2024

Eine kleine Geschichte über die Wahrnehmung

                                                                 Foto: Alexander Szugger
 
 
Der blinde Mann und der Elefant
 
Vier blinde Gelehrte bekamen vom König die Aufgabe einen Elefanten zu beschreiben. Der Erste fasste den Elefanten an seinem Bein an und sagte, der Elefant ist rund und steht fest in der Erde. Der zweite hielt den Rüssel und beschrieb den Elefanten als eine Art Schlange. Der Dritte berührte das Bein und meinte, der Elefant sei wie eine Säule. Der vierte fasste den Schwanz an und sagte, der Elefant sei wie ein Seil. Jeder der vier Gelehrten war fest davon überzeugt, dass seine Beschreibung die richtige ist und bestand darauf, dass die anderen falsch liegen.
Die Geschichte vom blinden Mann und dem Elefanten ist eine Parabel aus der indischen Philosophie hat. Sie veranschaulicht die Begrenztheit und Subjektivität menschlicher Wahrnehmung und die Unfähigkeit die komplexe Wirklichkeit zu erkennen. Sie zeigt, dass jeder von uns sein eigenes Modell von Wirklichkeit hat, die sich von den Wirklichkeiten anderer unterscheidet.
Dabei geht es nicht um richtig oder falsch. Es geht einzig um Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Wahr ist, alle vier blinden Gelehrten hatten ja teilweise Recht, aber eben nicht ganz.
Paul Watzlawick brachte es auf den Punkt:
“Der Glaube, dass die eigene Sicht auf die Realität die einzige Realität sei, ist die gefährlichste aller Wahnvorstellungen.“
 
Jeder von uns hat im Laufe seines Lebens sein eigenes Modell von Wirklichkeit geschaffen und denkt, fühlt und handelt im Rahmen dieses Modells. Die Basis für dieses Modell sind unsere Erfahrungen und unsere Prägungen aufgrund derer wir Welt und Wirklichkeit dann filtern. So treten nur bestimmte Ausschnitte und Inhalte in unser Gewahrsein, die wir dann für Wirklichkeit halten und auf der die Mehrzahl der Menschen dann beharren.
Persönliches Wachstum findet so nicht statt.
Persönliches Wachstum bedeutet eine Ausdehnung und Erweiterung des eigenen Gewahrseins, Offenheit für die Komplexität der Dinge, Bewusstwerden der eigenen Automatismen, die Bereitschaft über die Begrenzung des eigenen Denkrahmens hinausschauen, ein Hinterfragen dessen, was wir meinen zu wissen, ein beständiges Lernen und ein Ausweiten des eigenen Denkrahmens – im Außen wir im eigenen Inneren.

Montag, 22. Juli 2024

Leben

 

                                                                     Foto:pixybay
 
 
„Das Leben macht dies und das, das Leben nimmt und das Leben gibt, das Leben entfernt, was nicht zu uns gehört, das Leben straft uns, das Leben belohnt uns, und, und, und.“
Kling alles so als sei das Leben ein alleiniger Herrscher, eine Kraft, die über uns entscheidet, im Guten wie im Bösen.
Ist das wirklich wahr?
Wahr ist, was ich glaube.
Möge jeder seinem Glauben folgen.
Ich glaube nicht an das Leben, das alles macht.
Ich glaube, dass es etwas gibt, das größer ist als wir, aber nicht an das Leben, als allmächtige und dirigistisch eingreifende Kraft. Würde ich das glauben wäre ich ein ewiges Opfer, denn dann könnte ich machen was ich will, wenn das Leben nicht will, wäre es wirkungslos.
Ich glaube, was das Leben angeht, an das Prinzip von Ursache und Wirkung. 
Die Buddhisten nennen es Karma.
Das Gesetz von Karma besagt:
Alles, was du jetzt tust, ist die Ursache für eine zukünftige Wirkung und alles, was jetzt geschieht, ist die Wirkung einer früheren Ursache.
Kurz: Einer Aktion folgt eine Reaktion.
 
Alles was wir denken und tun, all unsere Handlungen haben Konsequenzen. Wenn wir unheilsam gegen uns selbst und andere handeln wird unser Leben nicht heilsam sein, wenn wir uns selbst vernachlässigen wird es uns irgendwann nicht gut gehen. Wenn wir Fehler machen, werden wir die Konsequenzen erfahren. Wenn wir nicht achtsam sind mit dem Leben, wird es Folgen haben.
Diese Zeit der Transformation zeigt uns allen, was wir versäumt haben, was wir ignoriert haben, was wir zugrunde gerichtet haben, was wir nicht gelernt haben, was wir achtlos und ignorant mit der Natur getrieben haben, was wir an Unheilsamen wiederholen, was wir aus der Geschichte nicht gelernt haben. All das fällt uns jetzt kollektiv und als Einzelne vor die Füße.
Aktion – Reaktion, wie im Kleinen so im Großen.
 
Karma wird oft fälschlicherweise als Belohnung und Bestrafung verstanden, nach dem Motto: Wenn du in diesem Leben leidest, musst du in einem früheren Leben Böses getan haben. Wenn du ein gutes Leben hast, musst du in einem früheren Leben Gutes getan haben. So einfach ist es nicht.
Es geht um das Bewusstsein für die Eigenverantwortung. Und die lässt sich nicht dem Leben in die Schuhe schieben.Wir selbst tragen die Verantwortung dafür, wie wir mit uns und dem Leben umgehen und das Leben antwortet dann mit den entsprechenden Folgen. Daran glaube ich, weil meine Erfahrung mit mir selbst und vielen anderen Menschen, mir das immer wieder zeigt.
 
Wenn ich mir meiner Eigenverantwortung bewusst bin, werde ich mit meinem Denken und Handeln anders umgehen – bewusster, verantwortungsbewusster. Ich werde mir bewusst werden über das, was ich in die Welt geben will und was für ein Mensch ich sein will. Ich werde meine unbewussten Gedanken ans Licht holen, meine destruktiven Überzeugungen über mich selbst und das Leben überprüfen. Ich werde existenzielle Wunden wie Traumata oder schwere Schicksalsschläge nicht einfach übergehen, sie abdecken und durch konstruierte Sinnfindung kompensieren, denn das führt niemals zur Heilung.
 
Ich werde versuchen ein heilsameres Denken und Handeln zu entwickeln – für mich selbst und für andere. Ich werde mit meinem kostbaren Leben achtsam umgehen und mit dem Leben anderer ebenso. Ich begreife mein Leben als mein Leben und nicht als etwas, das außerhalb von mir ist und bin mir meiner Schöpferkraft bewusst. Ich begreife das Leben als Ganzes, und alles Leben dieser Welt als ein miteinander verbundenes Ganzes und erkenne die Energie dieses Ganzen, zu der ich beitrage, mit jedem Gedanken und jeder Handlung. Ich agiere „pro Leben“ und nicht als Abhängige eines Lebens, das macht, was es will. 
 
“Bis du dem Unbewussten bewusst wirst, wird es dein Leben steuern und du wirst es Schicksal nennen.”
C.G.Jung
 
 
Angelika Wende

Freitag, 19. Juli 2024

Aus der Praxis: Hypervigilanz & Achtsamkeit

 

                                                                                                               Foto: Pixybay


Traumata und die darauf folgende posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) führen oft zur Hypervigilanz. Hypervigilanz ist eine kontinuierliche Hab-Acht-Stellung über eine lange Zeit, die zum Automatismus werden kann. Hypervigilanz äußert sich in innerer Unruhe, ständiger Reizbarkeit und erhöhter Wachsamkeit in Bezug auf potenzielle Gefahren. Es kommt zu Konzentrationsschwierigkeiten und einer übersteigerten Reaktion auf laute Geräusche und erhöhter Schreckhaftigkeit gegenüber anderen Reizen. Das Angstniveau traumatisierter Menschen ist permanent erhöht, manche neigen zum Katastrophisieren. In schweren Fällen kann es zu zwanghaftem Verhalten bis hin zu paranoiden Zuständen kommen. Traumatisierte nehmen die Realität oft verzerrt wahr. 
 
Besonders Kindheitstraumata führen dazu, dass Betroffene lernen mussten immer auf der Hut zu sein und genau zu beobachten, wie die Stimmung der Bezugspersonen ist
Dieser Bewältigungsmechanismus ist tief im Gehirn gespeichert, sodass diese Menschen auch später im Leben extrem wachsam sind, vor allem in zwischenmenschlichen Situationen und Beziehungen. Sie sind übermäßig misstrauisch anderen gegenüber, fürchten Nähe obwohl sie sich danach sehnen, haben aber Angst wieder verletzt zu werden. Im Extremfall birgt jede soziale Interaktion eine Gefahr, was in der Folge zur sozialen Phobie, zu sozialem Rückzug, Vereinsamung und in die Isolation führen kann.
Im Grunde meint es unser Gehirn gut. Es versucht uns mit der übersteigerten Wachsamkeit zu schützen, allerdings vor etwas, was längst passiert ist und mit dem Jetzt nichts mehr zu tun hat. 
 
Was kann man tun?
Außer einer Traumatherapie, deren Ziel ist das Trauma zu integrieren ist, ist Achtsamkeit hilfreich.
Achtsamkeit umfasst mehr als bewusstes Atmen oder Achtsamkeitsübungen.
Achtsamkeit ist das kontinuierliche Bewusstsein über unsere Gedanken, unsere Gefühle und unsere Umgebung. Sie hilft uns präsent im gegenwärtigen Moment zu sein, was gerade für traumatisierte Menschen wichtig ist. 
 
Durch die Praxis kontinuierlicher Achtsamkeit gelingt es uns, uns unserer inneren Zustände und unserer Gefühle gewahr zu sein und sie wertfrei und ohne uns damit vollkommen zu identifizieren, zu beobachten.
Mittels der kontinuierlichen Praxis der Achtsamkeit kultivieren wir Selbstberuhigung.
Wir lernen uns selbst zu regulieren um das Gehirn und das Nervensystem zu besänftigen.
Wenn wir täglich Achtsamkeit praktizieren, verhilft sie zu mehr innerem Frieden und Klarheit, was es uns ermöglicht, mit mehr Gelassenheit zu reagieren und uns nicht von unseren Gefühlen beherrschen und überfluten zu lassen. 
 
Achtsamkeit ist ein hilfreiches Werkzeug um bewusst unser Nervensystem zu beruhigen, dafür müssen wir es aber täglich nutzen. Wir dürfen uns Zeit nehmen, wichtig ist, dass wir konsequent sind, um Erfolg zu haben.
 
Slow and steady wins the race!

Sonntag, 14. Juli 2024

Denken

 

                                                                                 Foto: A.Wende

 

Unser Denken kann vollkommen absorbierend sein. Unser Verstand mit all seinen Dramen, Befürchtungen und Erwartungen kann uns wie ein Sog in tiefe Abgründe ziehen. Manchmal zieht er uns in eine Welt hinein wo es nur noch dunkel und bedrohlich ist. In eine Welt wo wir das Gefühl haben nichts mehr kontrollieren zu können, wo wir nur noch Spielball der äußeren Umstände sind, die unser Leben kompliziert und anstrengend machen. 

In dieser Gedankenweltwelt des Ich-fixierten Denkens geht es fast immer um das Haben Wollen, das Behalten Wollen oder des Nicht Haben Könnens was wir meinen haben zu müssen um ein gutes Leben zu führen.  

Es geht fast immer um Kontrolle, um Berechenbarkeit, um Festhalten. Je tiefer wir uns in dieses urteilende, wertende, kontrollierende Denken verstricken, desto leidvoller wird unser Leben. Wir leben unter ständigem Druck, wir leben in Angst vor der Zukunft, wir leben fremdgesteuert vom eigenen destruktiven Gedankengebäude, das wir nicht abstellen können. 

Jedes Gedankengebäude wird zur Gewohnheit

Unser Gehirn arbeitet gerne mit Mustern und Automatismen. Erfahrungen werden abgespeichert und dann in Blitzgeschwindigkeit abgerufen. Das gilt auch für unsere Gedankengewohnheiten. Sie werden mit der Zeit so selbstverständlich, dass sie kaum mehr reflektiert und hinterfragt werden. Sie werden zum Autopiloten, der das ganze Sein steuert. Je fester diese Gewohnheiten sind, desto mehr geht aus dem Blick, was wir das „Selbst“ nennen. Es verliert sich im Ich-fixierten unbewussten Denken. Wir denken wie wir denken, weil wir es schon immer so tun. Wir reagieren wie wir reagieren, weil wir es schon immer so tun. Und wir handeln wie wir handeln, weil wir es schon immer so tun. Im Autopiloten hinterfragen wir nicht mehr was wir denken, auch wenn wir uns damit kaputt denken. Darum ist es so wichtig immer wieder in die Stille zu gehen und inne zu halten um unser Denken zu beobachten, es zu durchschauen und die Welt, die es kreiert zu hinterfragen, ob sie wirklich so ist, wie wir sie uns denken. Es ist wichtig uns zu fragen, ob dieses Denken hilfreich ist oder nicht hilfreich, ob es heilsam ist oder unheilsam.

Heilsame Bewusstheit ist notwendig um das Unheilsame zu befrieden und ihm die destruktive Kraft zu entziehen, die es auf uns hat. 

Es ist heilsam unsere destruktiven Gedanken immer wieder auf den ihnen gebührenden Platz zu verweisen, indem wir die Täuschung durchschauen und uns von ihnen disidentifizieren. Das ist eine Sache der Übung, eine schwere Übung, weil wir damit von unseren Denkgewohnheiten Abstand nehmen müssen, weil wir uns selbst hinterfragen müssen und damit auch in Selbstzweifel gleiten können. Aber nur im Beobachten und Hinterfragen unserer Denkgewohnheiten können wir sie erneuern, in dem Sinne, dass sie uns stärken anstatt weiter schwächen.

 

Wenn Du in diesem Prozess Unterstützung wünscht, bin ich gerne für Dich da. 

Kontakt: aw@wende-praxis.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 12. Juli 2024

Aus der Praxis: Scham

                                                                                                                 Malerei: Angelika Wende

Wer mit Menschen arbeitet, bekommt es immer wieder mit dem Thema Scham zu tun. Die meisten sind sich ihrer Schamgefühle nicht bewusst oder sie verdrängen sie. Nachvollziehbar, denn Scham ist eine sehr intensive, schwer aushaltbare Emotion mit der wir alle im Leben konfrontiert werden, auf die ein oder andere Weise. Der Traumaexperte Peter Levine schreibt über Scham sinngemäß, dass die Scham so eine intensive Emotion sein muss, damit gewisse Dinge in der Kindheit wirklich verinnerlicht werden. Ein Kind fühlt sich beschämt, wenn es für etwas, was ihm selbst oder anderen schadet oder zur Gefaht werden kann, gerügt wird. Es verinnerlicht dann, dass es das nicht mehr tun darf. Folgt der Rüge allerdings ein Beziehungsabbruch der Bindungsperson oder wird das Kind in seinem ganzen Sein gedemütigt oder hart bestraft, fühlt es sich in seinem ganzen Sein abgewertet und beginnt in der Folge sich selbst abzuwerten. Das Kind und später der Erwachsene verurteilt sich selbst für bestimmte Eigenschaften, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Das macht die vernichtende Qualität der Scham aus: Sie nimmt dem kleinen Menschen seine Existenzberechtigung. Das nennt man toxische Scham, eine Scham, die das Selbstbild eines Menschen dauerhaft, im wahrsten Sinne des Wortes, vergiften kann.

„Scham ist das Gefühlsäquivalent zu einer Erfahrung von innerer und/oder äußerer Zurückweisung, Missachtung oder Ablehnung, die der Beschämte als durch eigene Unfähigkeit, Unzulänglichkeit oder Mangelhaftigkeit ausgelöst erlebt, wobei keine Kontroll-, Alternativ- oder Ausweichmöglichkeiten bestehen und daher die Unentrinnbarkeit der Situation ein tiefes Ohnmachtsempfinden erzeugt. Das so entstehende Schamgefühl zeigt immer eine Verletzung des Selbst(-wertgefühls) an.“
Bastian/Hilgers: Scham und Schuld
 
Scham ist ein existenzielles Gefühl und es ist komplex.  
Verwandte Gefühle sind: Kränkung, Demütigung, Verachtung, Bloßstellung, Entblößung, Entwertung, Ekel, Erniedrigung, Schande. Scham ist das Gefühl des Unwürdigseins, das Gefühl total versagt zu haben. Ein vor sich selbst zurückschrecken, sich selbst verachten, sich selbst entwerten für die Schande, die man fühlt. Scham ist die Angst vor der Verurteilung von außen. Innere Scham ist innere Verurteilung. Je größer die Scham, desto brüchiger die Selbstachtung eines Menschen. Ich kenne Scham. Ich habe noch heute den Satz meiner verzweifelten Mutter im Kopf, den sie herausschrie, als ihre Mutter nach der Diagnose einer Krebserkrankung innerhalb kürzester Zeit starb. Ich war fünf Jahre alt und hatte diese ersten fünf Jahre bei meiner Oma verbracht, weil meine Mutter mich nicht bei sich haben wollte. „Du bist ein böses Kind, du hast die Oma totgeärgert!“, sagte sie und wandte sich emotional von mir ab. Ich war von da an immer das böse Kind. Mein Daseinsrecht wurde in Frage gestellt. Ich war für meine Mutter liebensunwert. Ich war verachtungswürdig. Durch Verachtung wird ein Kind in ein Nichts verwandelt oder in etwas, das keiner in seiner Nähe haben will. Das ist die Erfahrung von Urscham. Die innere Repräsentanz meiner Mutter: Du bist böse!, immer war sie da. Früher unbewusst, wie ein inneres Rauschen, heute ist sie mir vollkommen bewusst. Ich habe mir von Kindheit an eine Fassade der fleißigen, guten, klugen, hilfsbereiten, verantwortungsvollen Angelika zugelegt. Ich trug eine Rüstung von hohen Werten und Perfektion, mein Schutzpanzer für die Angst vor Entdeckung des tief verinnerlichten Bildes von mir selbst: Das böse Kind. Niemand darf den Schandfleck sehen. Ich wurde die Leistungstochter, die Erfolgreiche, die Problemlöserin für andere, die Starke, die alles bewältigt für sich selbst und andere. Was für ein Schauspiel. Der kraftzehrende Versuch ein Ideal-Selbst herstellen zu wollen. Egal welche Leistung ich erbrachte, sogar als ich als Moderatorin vor der Fernsehkamera stand, ich verfiel immer wieder in ein tiefes Gefühl von Wertlosigkeit. Wie konnte irgendetwas einen Wert haben, wenn es ein Teil von mir ist? 
 
Scham ist durchdringend. Sie ist gnadenlos und vernichtend, wenn wir sie nicht ablegen können.  
Da ist immer die gewünschte Vorstellung eines idealen Selbst und zugleich die Diskrepanz zwischen dem, was man tut, um diesem idealen Selbst zu entsprechen und dem, was man fühlt und sich wünscht. Und immer ist da die Angst vor Selbstverlust, vor Zurückweisung, Beschämung und Bloßstellung, wenn man sich offen zeigen würde. Ein Leben mit Scham ist eine permanente Rettungsaktion gegen die tiefe Verachtung und die Scham in uns selbst. Immer ist da die Angst nicht „gut“ anzukommen, keinen „guten“ Eindruck zu machen, nicht „gut genug“ zu sein. Weil man ständig so viel Angst hat nichts wert zu sein, muss man ständig so tun, als ob man besser wäre als man es ist. Dahinter steht die Überzeugung: Wenn ich, ich selbst bin, dann will mich keiner sehen und schon gar nicht lieben. Man will perfekt sein, damit man den Makel nur ja nicht sieht. In Wahrheit ist da ständig Angst die Kontrolle zu verlieren, erkannt zu werden. Ständig Versagensangst. Angst nicht genügen können.
 
In der Scham erleben wir uns als schwach.  
Alles, was mit Selbstabwertung und/oder Selbstzerstörung zu tun hat, hat immer auch mit Scham zu tun. Ein Mensch, der sich schämt lebt in der inneren Überzeugung, dass er schadhaft ist, mangelhaft, meist unbewusst, manchmal bewusst.
Scham erfindet viele Abwehr- und Kompensationsmanöver um nicht entlarvt und bloßgestellt zu werden. Perfektionismus gehört dazu. Überheblichkeit gehört dazu. Manche Menschen wehren Scham ab, indem sie andere abwerten und beschämen, indem sie arrogant, (passiv) aggressiv und zynisch sind. Auch beim Narzissmus findet sich unbewusst die Scham, die auf destruktive Weise abgewehrt wird. Trotz gehört dazu. Trotz als Abwehr gegen das überwältigende Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Zurückweisung von Nähe gehört dazu. Flucht vor Nähe. Nähe bedeutet die Gefahr erkannt zu werden. Aber intime Nähe gelingt nur durch das Überwinden von Scham. Funktionieren durch gewisse Umstände, wie z.B. Verluste, Trennung, Verlassenwerden, Scheitern, Krankheit, Altern oder traumatische Erlebnisse, die Abwehr- und Kompensationsmechanismen nicht mehr, kommt es zur Dekompensation. Die Scham kann dann so groß werden, das der Mensch innerlich zusammenbricht. Die Folge: Selbstverlust, Fragmentierung, Versagen und wieder Scham.
 
Wenn die Scham ganz groß wird, hat sie nur ein Ziel: Verstecken.
Der Mensch will sich verbergen, am besten verschwinden, so dass ich nicht mehr (an) gesehen werde. Die schützende Maske fällt, er hat sein Gesicht verloren. Das ist ein Gefühl der totalen Vernichtung. Nur noch Rückzug und Selbstisolation schützen vor der Gefahr preisgegeben zu sein. Es kann zu Ängsten, Zwängen, Depression und sogar zu Suizid(gedanken) kommen. Und wieder Scham, weil man sich selbst verurteilt, ausschließt, einsperrt und hemmt. Wenn die Scham riesengroß wird, hat sie nur noch ein Ziel: Im Erdboden versinken.
 
Toxische Scham auflösen ist schwer.
Letztlich geht es darum zu erkennen, zu verstehen und zu fühlen, dass man beschämt wurde, dass diese Scham etwas ist, was von außen introjiziert wurde und dass das, was sie in einem selbst an Destruktion anrichtet, etwas ist, was nicht wahr ist. Wahr ist: da ist etwas maximal schief gelaufen und das hat nichts mit dem eigenen Wert als Mensch zu tun, sondern mit denen, die diesen Wert missachtet und zerstört haben. Bis das wirklich tief verinnerlicht ist braucht es viel Geduld und Mitgefühl mit sich selbst und es braucht eine empathische, wertschätzende therapeutische Begleitung, die vor der Scham, auch der eigenen, nicht zurückschreckt. 
 

Mittwoch, 10. Juli 2024

Schmerzen

 




Selbstmitgefühl bedeutet fürsorglich, wohlwollend, sanft und freundlich mit uns selbst umzugehen. Es ist eine Sache der Bereitschaft und der Übung. Dabei geht darum innerlich eine Haltung des Wohlwollens, der liebenden Güte und der Geduld uns selbst gegenüber zu kultivieren. Es geht darum uns hinreichend gut zu behandeln, besonders dann, wenn wir uns nicht gut fühlen, wenn wir verletzt wurden, traurig sind oder krank. Wir aber wollen immer schnell wieder funktionieren und da stört eine solche Haltung. Also ignorieren wir die Güte uns selbst gegenüber und leben drüber, auch wenn wir längst auf dem Zahnfleisch gehen.

Ich bin auch so jemand, besonders mit der Geduld habe ich es als Widder nicht so. Geduld, besonders wenn ich krank bin, ist eine meiner schwersten Übungen. Ich komme mit vielem klar mit Kranksein ganz schlecht. Ich ertrage es nur schwer, wenn mein Körper nicht will wie mein Geist will, wenn er mich stoppt, mich quält und ich etwas aushalten muss, was ich überhaupt nicht beeinflussen kann, zumal ich keine Schmerztabletten schlucke und den Schmerz dann so richtig fühle. Aber ich weiß auch, je größer der Widerstand, desto größer der Schmerz. Und trotz meines Wissens steht er dann vor mir, ganz groß, der innere Widerstand und ich ganz klein und mit viel Aua und viel Wut, weil ich es nur schwer schaffe loszulassen von meinem gesund sein Wollen. Dann geht es mir noch schlechter, weil ich gegen mich selbst ankämpfe, anstatt mich zu fügen in mein Kranksein und alles zu tun um zu genesen und zwar geduldig und nicht mit dem Druck, es muss schnell wieder gut sein.

In diesen letzten Tagen habe ich viel über Kranksein und körperliche Schmerzen nachgedacht. Es kann jedem von uns passieren kann, auch mir, dass wir so schwer krank werden, dass wir nicht mehr gesund werden, dass wir mit Schmerzen, Schwäche und Einschränkungen leben lernen müssen. Ich habe an meine siebzigjährige Freundin gedacht, die ohne Schmerzen nicht mehr laufen kann, für die jede kleine Anstrengung eine große Kraftanstrengung ist und an eine Klientin, die unheilbar krank ist, für die ein „normales“ Leben nicht mehr möglich ist und ich konnte beide nach einer Woche Dauerschmerzen fühlen. Ich kann jetzt fühlen wie es ist, wenn man will und nicht kann, weil die Schmerzen einen ganz ausfüllen. Und ich habe gefühlt wie es ist, zu dem körperlichen Schmerz begreifen zu müssen – das hört nicht auf, weil ich das will.

Man muss damit leben. Man muss damit leben nicht mehr der Mensch zu sein, der man war, denn eine schwere Krankheit verändert alles, innen wie außen und damit auch die Seele und das eigene in-der-Welt-sein. Damit klar zu kommen ist eine existenzielle Herausforderung. Ich bin auf dem Weg der Genesung, jetzt ist es so, aber vielleicht ist es irgendwann nicht mehr so, denn das Alter bringt im Zweifel auch chronisch und schwer Kranksein mit sich. Und dann ist plötzlich alles anders. Da hilft kein Widerstand. Da hilft nur Akzeptanz. Hört sich cool an, ist aber nicht cool, wenn man das so sagt oder denkt oder es einem empfohlen wird. Etwas akzeptieren was chronisch schmerzt und nicht aufhört zu schmerzen ist eine so große Herausforderung, dass es uns an unsere Grenzen bringen kann.

Wenn das Leben zur Last wird, was dann? Wenn der Körper uns derart einschränkt, dass ein normales Leben nicht mehr möglich ist, was dann? Wenn wir die Kontrolle über den Körper verlieren, wenn wir der eigenen Machtlosigkeit und Hilflosigkeit gegenüberstehen, was dann? Dann wird uns gefühlt bewusst wie klein wir doch sind, wie verletzbar, wie zerbrechlich und wie vergänglich und vor allem wie viel von dem, was wir für wichtig halten, absolut unwichtig ist. Dann sind wir nur noch wir selbst, wir sind so sehr bei uns selbst in diesem Schmerz, das alles andere, was wir an Rollen und Masken so mit uns herumtragen, abfällt. Mir ging es jedenfalls so. Eine kleine Ahnung von Sterben lag in diesem Zustand und das ich dem letztlich entgegengehe, denn ich bin angezählt. Ich muss noch besser auf mich aufpassen und langsamer machen, noch mehr Grenzen ziehen wenn ich spüre, das ich mir zu viel zumute.
Aber was wenn ich, trotz aller Selbstfürsorge, einmal nicht mehr gesund werde?

Meine siebzigjährige Freundin sagte zu mir: „Ich schaue nicht mehr auf das, was ich nicht mehr kann, ich schaue nur auf das, was ich noch kann und das mache ich dann.“
Wie groß, wie weise und demütig.
Ob ich das wäre?
Ich weiß es nicht.

Freitag, 28. Juni 2024

Aus der Praxis: Coping - wie wir Krisen bewältigen

 


                                                         Foto: A. Wende

 

Jede Art von Verlusterfahrung, sei es Arbeitslosigkeit, Trennung oder der Tod einer nahestehenden Person, eine schwere Krankheit, ein Unfall, der Verrat durch einen vertrauten Menschen, Einsamkeit im Alter, all das sind drastische biografische Zäsuren in unserem Leben. Solche kritischen Lebensereignisse, stellen für jeden Menschen eine Herausforderung dar. Die Fähigkeit uns emotional, mental und im Verhalten an diese Zäsuren anzupassen um sie zu bewältigen, wird in der Psychologie als „Coping“ bezeichnet, was so viel bedeutet wie „bewältigen“ oder „meistern“.

Ein gewisses Maß an Coping gehört zum Leben. 

Jeder von uns hat immer wieder gewisse Herausforderungen zu bewältigen. Mit der Schwere des Ereignisses aber steigt die Anpassungszeit. Nicht jedem gelingt eine Anpassung, auch nicht mit der Zeit. Es gibt resiliente Menschen, die wahre Anpassungskünstler sind und andere, die schon bei geringfügigen Veränderungen überfordert sind. Es gibt Menschen, die jeden Schicksalsschlag meistern und es gibt Menschen, die an Dingen zerbrechen, die andere nicht einmal nachvollziehen können.

Jede schwere Krise ist eine existenzielle Herausforderung.

Wie beim Trauma ist nicht das auslösende Ereignis entscheidend, sondern wie wir auf das Ereignis reagieren.

Wie wir auf kritische Lebensereignisse reagieren hat viel damit zu tun, wie sehr wir uns der Herausforderung gewachsen fühlen. Fühlen wir uns der Krise gewachsen, fällt es uns leichter damit umzugehen. Wir vertrauen auf unsere innere Stärke, wir wissen um unsere Lebenserfahrung und unsere Ressourcen und setzen sie ein. Wir sind der Überzeugung: Ich kann das bewältigen.

Menschen die so reagieren haben einen problemorientierten Copingstil. Sie analysieren das Problem und suchen ganz bewusst nach Lösungsmöglichkeiten um die Krise in den Griff zu bekommen. Sie verschaffen sich Faktenwissen, konzentrieren sich vorwiegend auf die sachliche Ebene und unterdrücken oder wehren zu viel Emotionales ab. Die Gefahr dabei ist, dass die unterdrückten Emotionen irgendwann wie ein unters Wasser gedrückter Ball nach oben ploppen.

Menschen mit einem emotions- und bedürfnisorientierten Copingstil erleben hingegen derart starke Gefühle, die sie vollkommen überwältigen und ein klares Denken unmöglich machen. Fakten werden nicht gesehen, die Welt bricht zusammen, sie fühlen sich ohnmächtig und hilflos der Krise ausgeliefert und verweigern jedes sich Einlassen auf eine sachliche Ebene. Sie haben die innere Überzeugung keine Ressourcen zu besitzen um die Herausforderung zu bewältigen und fallen in die Opferrolle. Sie sind von Angst und Panik beherrscht. Sie verzagen und verzweifeln an der Krise. Der Mensch zerbricht innerlich, wenn er keine Unterstützung sucht und findet.

Menschen mit einem bewertungsorientieren Copingstil fragen sich: Warum ich? Warum passiert mir das? Was habe ich verbrochen, dass ich das verdient habe?

Sie verfallen in Selbstanklage, Selbstabwertung, sie schwanken zwischen Schuld-und Schamgefühlen und vermeiden so eine bewusste Auseinandersetzung mit der Krise. Sie neigen zur kognitiven Verzerrung der Realität und geben dem Ereignis bedrohlichere Bedeutungen, als es hat. Sie sind unfähig sich von der Situation und der ihr zugeschriebenen Bedeutung zu distanzieren. Nahezu alle Kognitionen dienen dazu, eine bewusste Auseinandersetzung mit der Krise zu vermeiden. Vermieden wird zudem auch die bewusste Auseinandersetzung mit den dazugehörenden belastenden Emotionen.

Was all diese Coping Stile gemeinsam haben ist die Bewertung. In jeder Krise ist die Bedeutung, die wir ihr für unser Leben geben, entscheidend für unseren Umgang damit

Wir alle wissen nicht wirklich, wie wir reagieren und bewerten werden, wenn uns plötzlich eine massive Krise trifft. Auch wer schon viele Krisen erfolgreich gemeistert hat, hat keine Garantie, dass er die nächste ebensogut meistert.

Die Schwere einer Krise hat vor allem damit zu tun wie sehr sie uns im tiefsten Kern trifft. 

Welche Bedeutung das Ereignis für uns und unser Leben  hat. Welche inneren Werte sie trifft, welche Überzeugungen und Bedürfnisse sie massiv in Frage stellt, welche Glaubenssätze und welches Weltbild sie zerbröselt, welche inneren Wahrheiten sie zerstört, wie sehr sie an unserem Selbstbild rüttelt, egal ob auf mentaler, seelischer oder körperlicher Ebene.

Was für den einen das Schlimmste ist, kann für den anderen hinnehmbar sein. 

Es gibt nicht zu unterschätzende Risikofaktoren was Krisenbewältigung angeht: Neben Vortraumatisierungen ist einer davon die allgemeine Lebenszufriedenheit, die Stabilität sozialer Beziehungen und die Einstellung zum Leben selbst. Ist ein Mensch schon vor der Krise emotional, mental, sozial oder körperlich angeschlagen, kann es sein, dass er nicht fähig ist sie zu bewältigen – sie ist dann der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Mensch resigniert oder verzweifelt. 

All das sollten wir immer bedenken im Umgang mit Krisen, den eigenen und der anderer, bevor wir bewerten.

Wie nun aber eine Krise bewältigen?

Coping ist wie gesagt eine individuelle Angelegenheit und hängt entscheidend auch davon ab, ob wir die Bereitschaft haben die Krise bewältigen zu wollen und alle Ressourcen zu nutzen, die wir selbst haben und die wir im Außen finden können.

 

 

 

 

 

 

 

 


Montag, 24. Juni 2024

Overload

 

                                                                    Foto: pixybay


Viele Menschen fühlen sich zur Zeit mental erschöpft und müde. Erschöpfung und Müdigkeit entstehen dann, wenn wir uns zu viel mit Dingen beschäftigen oder über Dinge nachdenken, die nicht in unserem Einflussbereich liegen. Je weiter wir uns von unserem Einflussbereich mental wegbewegen, je tiefer wir uns in destruktive Gedanken hineinziehen lassen, desto anstrengender wird es für den Geist.
 
Wichtig ist es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was überhaupt in unserem Einflussbereich liegt und uns dann darauf zu konzentrieren.
Wer sich ständig Gedanken um Dinge macht von denen er weder weiß, ob sie wahr sind oder überhaupt eintreten werden, gerät in ein gedankliches und emotionales Dauergewitter. Er verliert die Klarheit und damit die Erdung. Der Verlust von Klarheit und Erdung raubt geistige und körperliche Kraft, die Folge: wir fühlen uns müde, erschöpft, bis hin zu Apathie.
Im anderen Fall kann es wütend machen die eigene Ohnmacht ob des Geschehens im Außen zu erkennen, was den meisten Menschen, da sie mehr im Außen als bei sich selbst sind, aber nicht bewusst ist – sie fühlen sich ohnmächtig. Weil sie das Gefühl nicht identifizieren können und falls sie es können, nicht aushalten können, werden sie wütend. Sie füttern sich selbst mit unheilsamer Energie, was wiederum auch auf Dauer ausbrennt und zur mentalen Erschöpfung führt. Hilfreicher ist es Wut und Aggression zu beherrschen, ohne sie künstlich zu unterdrücken.
 
Wenn wir nur das Schlimmste sehen, zerstört das unsere Fähigkeit, etwas zu tun. Je mehr wir mental Dinge konsumieren, zerdenken, beklagen und diskutieren, auf die wir absolut keinen Einfluss haben, desto erschöpfter werden wir. 
Je mehr Unheilsames, Schwarzmalendes und Angstschürendes an Nachrichten und Informationen wir konsumieren, desto verwirrter werden wir. Irgendwann hat die Psyche einen Overload an destruktiver Energie, die sich zu den eigenen psychischen Defiziten und Problemen legt. Der psychische Apparat ist heillos überfordert.
Erdung und Klarheit, ich kann es nicht oft genug sagen, führen zu innerer Stabilität und Stärke - das ist das, was wir in diesen schwierigen Zeiten brauchen - für uns selbst und unsere Nächsten.
Bevor wie also unsere Energie darauf verwenden, was im Außen geschieht, ist es heilsamer sie auf das zu verwenden was für uns wichtig ist und uns auf unsere eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren. Das heißt nicht, dass wir nichts tun um jeden Tag unser Bestes in die Welt zu geben, es bedeutet, dass wir besser in der Lage sind auf uns selbst aufzupassen. Nur dann können wir mit Energie auch für andere da sein und Dinge bewegen. Klarheit und Erdung gibt uns die Energie zum Handeln. 
 
Durch mehr Achtsamkeit und gezielte Meditationsübungen können wir lernen uns selbst zu regulieren, uns zu erden und mental zu stärken, uns bewusst Denkpausen zu nehmen und eine geerdete, gelassene Perspektive einzunehmen.
Es fühlt sich besser an, als wie ein aufgeschrecktes Huhn, das nicht weiß, wohin mit sich, herumzuflattern und den ganzen Stall in Unruhe zu versetzen.
 
„Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen zu surfen.“ 
Jon Kabat-Zinn

Donnerstag, 20. Juni 2024

Ein verletztes Herz

 

"Ich kann mein Herz nicht mehr öffnen, weil ich verletzt wurde."

Denke und glaube ich so, bleibe ich an meinem Schmerz haften. Ich bleibe an denen oder dem haften, der ihn mir zugefügt haben. Ich füge mir selbst über den Schmerz hinaus Leid zu. Ich mache aus Schmerz Leiden, im Glauben mir eine schützende Rüstung um mein Herz legen zu müssen, auf dass mich nichts und niemand mehr verletzt. Aber, in dieser Rüstung lebt es sich nicht gut. Sie ist hart und eng. Sie macht Atmen schwer, Bewegung schwer, trennt mich von all dem, was mir nah kommen will. Sie macht verdammt allein. Aus Selbstschutz wird Selbstquälerei.

Es ist schwer sich aus der der Verhaftung mit einem alten Schmerz zu herauszulösen, schwer die schützende Rüstung abzulegen im Wissen – jetzt bin ich wieder verletzbar. Schmerz ist wieder möglich. Neuer Schmerz. Manchmal kann es sogar soweit kommen, dass die Rüstung so vertraut oder sogar so liebgeworden ist, weil sie mir als Schutz für mein verletztes Herz gute Dienste leistet. Das Herz aber wird leiden. Es wird an der Enge langsam ersticken. Es wird an Einsamkeit, an Verbitterung, an Resignation erkranken.

Um die Rüstung abzulegen und zu gesunden, bedarf es der Verantwortungsübernahme – und zwar für das eigene Leben. Und das bedeutet - uns zu öffnen für das Leben, wieder und wieder, auch wenn wir verletzt sind und auch wenn wir die Gefahr eingehen wieder verletzt zu werden.

„Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod“ , schreibt Viktor Frankl.

 

Es gibt immer schmerzvolle Dinge und Umstände, denen wir als Mensch unausweichlich begegnen. Es gibt das Schicksal, das manchmal ein Arschloch ist. Es gibt so vieles, was nicht in unserer Hand liegt. Es gibt Erfahrungen, die uns alles abverlangen und denen wir uns stellen können oder nicht. Es gibt Dinge, die unveränderbar sind, egal wie sehr wir uns dagegen wehren.

Wie wir damit umgehen, wie wie wählen, allein das liegt in unserer Hand. Was wir damit machen, liegt in unserer Hand. Das entscheiden wir selbst. Jeden Tag haben wir neu die Wahl, angesichts des Schmerzes, den wir fühlen zu resignieren – oder aus dem Schmerz heraus unser Leben neu zu gestalten, indem wir den Sinn im eigenen Leiden zu erkennen suchen,  indem wir uns fragen:  

Aus welchem Grund bin ich in dieser Lage?  

Was will das Leben jetzt von mir?

Worin könnte meine Aufgabe, meine Herausforderung liegen?

 

„Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, wir haben zu antworten und diese Antworten zu ver-antworten“, Nichts anderes kommt uns Menschen zu!“, schreibt Frankl weiter.

 

Was heißt das?

Es heißt die Herausforderung anzunehmen indem wir uns zu fragen: Wozu fordert mich mein Schmerz  heraus?

Und: Welche Antwort will ich geben?

Will ich mein Leid vermehren oder es wandeln?

 

Sich wandeln hat einen Preis, nämlich den die scheinbar sichere Rüstung abzulegen, den Schmerz loszulassen, die Verbitterung und die Resignation loszulassen und aufhören zu sagen: "Ich kann mein Herz nicht mehr öffnen, weil ich verletzt wurde." Auch ein verletztes Herz kann wieder ganz werden, nicht mehr ganz so ganz wie es einmal war, aber mutiger, weicher, wissender, weiser, mitfühlender, ehrlicher und wahrhaftiger sich selbst und damit anderen gegenüber.

Wir können die Rüstung ablegen und uns fragen:

Wofür will ich mein Herzblut geben?

Was will ich aus meinen Herzen heraus in die Welt geben?

 

 

Samstag, 15. Juni 2024

Tiefes Verständnis

 

                                                                     Foto: A.Wende


Ich sehe dich, ich höre dich, ich verstehe dich, ich fühle dich, ich nehme dich ernst.
 
DICH
Egal, was meine Meinung ist.
Egal, ob ich die Dinge anders sehe.
Egal, was und woran ich glaube.
Egal, was ich denke.
 
Ich höre DIR zu ohne mit dem meinen zu antworten.
Ich nehme DEINE Emotionen ernst, auch wenn meine Emotionen andere sind.
Ich begegne DIR mit Offenheit und Empathie, auch wenn ich anders fühle, denke oder andere Erfahrungen habe.
Ich bewerte das DEINE nicht.
Ich beurteile nicht.
Ich verurteile nicht.
Ich höre DEINE Geschichte.
Ich überlagere das DEINE nicht mit dem Meinen.
Ich übertrage das meine nicht auf das DEINE.
Ich projiziere das Meine nicht auf das DEINE.
Ich nehme DICH ernst.
Ich achte und respektiere DEINE Worte.
Ich achte und respektiere DEINE Gefühle und Gedanken.
Ich achte und respektiere DEINE Wahrheit, auch wenn es nicht die meine ist.
Ich bin DIR gegenüber offen.
Nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen.
Ich gehe mit DIR in Resonanz. 
 
So entsteht tiefes Verständnis und tiefe Verbundenheit.


Mittwoch, 12. Juni 2024

Ein offener Geist

 

                                                                    Foto: pixybay


Es herrscht viel Angst in dieser Zeit.
Aus dieser Angst heraus versuchen Menschen die Zukunft zu kontrollieren oder sie versuchen vorhersehen zu wollen, was passiert.
Wahr ist: Wir können die Zukunft nicht vorhersehen.
Keiner von uns weiß, was kommt und was sein wird.
Manche aber behaupten zu wissen.
Sie geben Prognosen ab, machen unheilsame Prophezeiungen oder malen Bilder in den Köpfen der Menschen, was Schlimmes auf sie kommt, wenn sie dies und das nicht tun.
Selbsternannte SeherInnen projizieren ihre verdrängten Schatten und ihre Ängste auf ihre Mitmenschen und den Zustand der Welt, geben ihren Followern Ratschläge was zu tun ist und hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie betreiben Spaltung nach dem Motto: Wir sind die Guten und die anderen die Bösen. Und nur die Guten werden den drohenden Zerfall dieser Welt überleben.
Das Netz ist voll von bedrohlichen und angstmachenden Informationen, voll von Meinungen, Scheinwissen, Überzeugungen und Konzepten.
Je nachdem mit welchen Informationen wir unseren Geist täglich füttern, verfallen wir einem Glauben. Je mehr wir einem Glauben verfallen, desto mehr wird er zu unserer Wahrheit. Alles was dieser Wahrheit nicht entspricht, wird dann ausgeblendet. Der Geist ist verblendet. 
 
Verblendung ist niemals Klarheit und schon gar nicht Wissen und Wahrheit.
Ein gesunder Geist ist offen.
Seine Haltung ist die der Offenheit und der Unvoreingenommenheit.
Er hat Verstehen erlangt.
Dazu gehört die Haltung des “nicht wissens”.
Zu wissen ist die Haltung des Egos, weil das Ego sich sicher fühlen muss. Meinen zu wissen, verhilft dem Ego dazu sich mächtig zu fühlen. Wer glaubt jemand zu sein, der alles weiß, ist engstirnig, nicht willens zu lernen und auf Seelenebene zu wachsen.
Ein Mensch mit engstirnigem Geist sagt: „Ich weiß“.
In Wirklichkeit weiß er nichts. 
 
Entwicklung und Wachstum bedeutet: Offenheit, geistige Weite und die Bereitschaft zu erfahren und zu lernen.
Eine offene Geisteshaltung bedeutet auch zu erkennen, dass es beides in dieser Welt gibt. Das Negative und das Positive. Das Gute und das Ungute. Ein offener Geist weiß um beides und versteht beides. Er ist bestrebt das Gute zu tun, damit in seinem Einflussbereich nichts Ungutes entsteht.
Er schützt sich vor negativen Energien. 
 
Woran erkennen wir negative Energie?
Negative Energie erkennen wir daran, dass sie Ängste schürt.
Sie urteilt, beurteilt und verurteilt.
Sie ist starr, engstirnig und regide.
Sie betreibt Schwarzmalerei.
Sie redet andere Menschen und andere Ansichten schlecht.
Sie denkt die Welt sei böse und ihr etwas schuldig und lebt ständig in einer Anklage- und Vorwurfshaltung.
Sie betreibt Manipualtion.
Sie drückt anderen ihre Meinung auf.
Sie wertet alles ab, was nicht in ihren Denkrahmen passt.
Sie hat ein Netzwerk von unbewussten Fesseln und starren Glaubenssätzen, das so dicht ist, dass die Fähigkeit, offen zu denken und zu fühlen, fehlt.
Um dieser negativen Energie nicht anheim zu fallen, ist Bewusstsein erforderlich. Das bedeutet: Den Geist offen zu halten und achtsam zu sein, womit wir ihn nähren. 
 
Je achtsamer wir sind, je offener und klarer unser Geist ist, desto kleiner wird die Angst und umso größer wird das Vertrauen in uns selbst und unseren Weg in eine unbekannte Zukunft.