Mittwoch, 13. Mai 2020

Das Trauma Jetztzeit

Malerei Angelika Wende

Unsere Hoffnung richtet sich darauf, endlich wieder in die sogenannte Normalität zurückkehren zu können und die Dinge wieder tun zu können, wie wir sie gewohnt waren. Das ist eine sehr verständliche Hoffnung. Auch ich möchte am Morgen aufwachen aufwachen und alles ist wie vorher.
Ich weiß aber auch, diese Hoffnung ist problematisch für mein Seelenheil. Denn sie ist unrealistisch, sie ist eine Illusion, die an der Realität zerbricht. Wir werden mit dieser Situation noch eine Weile leben müssen. Auch in den kommenden Monaten wird vieles nicht so sein, wie wir es uns wünschen.
Es wird kein normaler Frühling, es wird kein normaler Sommer, es wird auch vielleicht kein normaler Herbst und kein normaler Winter. Wir haben das, was unsere Normalität war verloren. Wir befinden uns in einem Prozess der Wandlung und keiner von uns ahnt wohin sie uns führt.
Gefühlt ist es eine absurde, eine surreale Welt in der wir uns seit März befinden. Wir können es noch immer nicht fassen, dass das Normale etwas gewichen ist, das alles woran wir uns festhielten, ins Wanken bringt. Die Normalität ist erschüttert und die Welt wie sie war aus den Angeln gehoben. Derartige Erschütterungen erschüttern nicht nur Lebenskonstruktionen, sondern unser ganzes Sein in der Welt und wie wir Welt und uns selbst als Teil dieser Welt wahrnehmen.

Die Jetztwelt wahrnehmen ist ein schweres Unterfangen, denn so wie sie ist, ist sie bedrohlich geworden, unsicher und voller Verluste. Verluste die wir bereits erlitten haben und je länger es dauert, noch erleiden werden. Wir müssen lernen Abschied zu nehmen. Wir müssen lernen mit einer Absurdität zu leben, die uns fremd ist. Diese Absurdität, in all ihren Ausformungen, hat das Normale längst verdrängt.

Aber was ist Normalität?
Normalität ist das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss.

So war es, so ist es nicht mehr.
Wenn wir mit Normalität meinen, alles müsste alles so sein wie vorher, verhindern wir in den Raum des Dazulernens zu kommen. Der Raum, in dem wir neue Erfahrungen machen, Neues gestalten und es in unser Leben integrieren um uns weiter zu entwickeln. Es scheint, als hätten wir keine andere Wahl.

"Es ist Schweres, was euch aufgetragen wurde", schreibt Rainer Maria Rilke.
Ja das ist es, denn was wir verloren haben, haben wir nicht aufgegeben, weil es unsere freie Entscheidung war, sondern weil man es uns aufgetragen hat. Ohne uns zu fragen. Wir wurden überrollt und in vielem entmündigt. Wir wurden gezwungen Dinge zu tun, die wir niemals freiwillig tun würden. Wir wurden der eigenen Entscheidungsfähigkeit beraubt um uns etwas unterzuordnen, was man uns verordnet hat – mit Gründen, die uns vielleicht überzeugt haben, weil wir sie nachvollziehen können oder auc nicht. Können wir es nicht, leiden wir um ein Vieles mehr und gehen in den Widerstand. So geschieht es jetzt bei manchen von uns.

Aber egal auf welcher Seite wir stehen: In der Akzeptanz oder im Widerstand, es bedeutet nicht, dass irgendeiner in diesem Land diese Verordnungen wirklich aus tiefstem Herzen gut heißt. Wie auch? Der Verzicht auf die banalsten Gewohnheiten menschlichen Miteinanders wiegt schwer. Der Verzicht auf die eigene Entscheidungsfreiheit wiegt schwer. 

Wie sich davon verabschieden ohne Wut, ohne Trauer zu fühlen? Wie damit leben, wenn es zunächst keine Alternativen gibt um diesen Abschied in etwas zu wandeln was einen neuen Sinn ergibt? Wie etwas gestalten, das nicht einmal planbar ist, weil nichts mehr planbar ist in einer Welt, die außer Kontrolle geraten ist. Wie etwas beginnen, von dem wir nicht wissen, ob der Anfang nicht schon das Ende in sich trägt?
Und was beginnen, wenn das, was ich als Fähigkeiten und Potenziale in mir trage, nicht mehr systemrelevant ist?
Jetzt nicht und in naher Zukunft auch nicht.
Und wann weiß keiner.

Diese Erfahrung ist eine Erfahrung der Erschütterung, der Ohnmacht und der Bodenlosigkeit. Und diese Erfahrung ist traumatisch.
Das ist jetzt unsere Normalität: Wir stecken mitten in einem Trauma. Kollektiv und individuell. Manche von uns sind sich dessen bewusst, andere nicht. Manche wollen es nicht glauben, weil es nicht in ihre Erfahrung, nicht in ihr Wissen, nicht in ihre Sicht von Welt passt.
Der Begriff Trauma kommt aus dem griechischen und bedeutet: Wunde. Trauma in der Psychologie kennzeichnet sich durch die Erfahrung von Kontrollverlust verbunden mit Gefühlen des Entsetzens, der Angst und der Hilflosigkeit.

Ein Trauma erschüttert uns und stellt die Welt wie sie vorher war in Frage.
Ein Trauma verändert das Leben radikal.
Ein Trauma schleudert uns aus dem Raum dessen was für uns normal war.
Ein Trauma braucht Zeit um es zu verarbeiten.
Ein Trauma kann wieder von alleine abklingen, wobei sich auch dann das Verhalten ändert.
Die Überwindung eines Traumas kann uns wachsen lassen.
Ein Trauma ist dann verarbeitet, wenn wir es in unser System integriert haben.
Normal ist nach einem Trauma nichts mehr. Wie es danach ist, weiß man nicht.
Man weiß nur eins: Es ist anders.


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