Sonntag, 31. Mai 2020

Ein klarer Geist

Foto: Angelika Wende

In diesem Moment tue ich etwas damit es mir besser geht.
Moment für Moment arbeite ich daran.
Ich mache mir keinen unnötigen Stress.
Ich bleibe im Jetzt.

Ich mache kleine Schritte.
Manchmal sind sie mühsam.
Manchmal sind sie schwierig.
Manchmal sind sie unangenehm.
Manchmal fühle ich mich unsicher.
Manchmal bin ich ängstlich.
Manchmal bin ich traurig.
Manchmal zweifle ich.
Aber ich habe die Bereitschaft weiter zu gehen.
Schritt für Schritt.

Dabei umgebe ich mich mit Dingen und Menschen, die mir gut tun, beseitige Unwesentliches und das, was mir nicht gut tut.
Dabei bin ich dankbar für das was ich habe.
Dabei sehe ich die Schönheit des Lebens und der Dinge.
Dabei achte ich auf meine Gedanken.

Ich räume ich auf.
Ich mache Ordnung.
Innen und Außen.
Dabei entferne ich den Schmutz, um meinen Geist zu reinigen und mich aus Verhaftungen zu lösen.
Wenn mein Geist rein wird, sind meine Gedanken klar.

Dabei übe ich mich in Achtsamkeit.
Ich gehe.
Schritt für Schritt.
Weil ich den Entschluss gefasst habe etwas für meinen inneren Frieden und einen klaren Geist zu tun.
Das ist mir wichtig.
Ich bin mir wichtig.
Gute Beziehungen sind mir wichtig.
Und weil es mir wichtig ist, mache ich weiter.
Ich mache weiter wissend, jeder Tag prägt mein Wesen.
Ich lerne, es funktioniert, wenn ich etwas dafür tue.
Moment für Moment.

Freitag, 29. Mai 2020

Der Anfang der Selbstfürsorge

Foto: Angelika Wende

"Das mit der Selbstfürsorge, das ist so schwer", höre ich immer wieder. Ja, für viele von uns ist es das. Wir nehmen sie uns vor und scheitern immer wieder an der Umsetzung.
Warum ist das so?
Selbstfürsorge stellt sich nicht ein, weil ich es will. Um überhaupt selbstfürsorglich sein zu können ist das Entscheidende, dass ich mich selbst erst einmal wahrnehme. Das bedeutet: Ich bin fähig meine Gefühle bewusst wahrzunehmen.
Das fällt vielen Menschen schwer. Sie haben Gefühle, aber sie verdrängen sie und zwar oft so massiv, dass sie sie nicht einmal benennen können. Ich erlebe das immer wieder in den Sitzungen mit meinen Klienten. Ich frage: Was fühlen sie gerade oder was haben sie in dieser Situation gefühlt?
Dann kommen Erklärungen. Etwa so: Ich hätte ihm am Liebsten mal so richtig meine Meinung gesagt. Ja, sage ich dann, aber was haben sie gefühlt?
Dann kommt langes Schweigen.

Der Kopf beschreibt was gedacht wurde, den Impuls, den es gab, aber ohne das Gefühl benennen zu können, das den Gedanken oder den Impusl ausgelöst hat. Wenn wir mit unserer Denkmaschine antworten, fühlen wir nicht. Wir dringen nicht in unser emotionales Innenleben. Wir spüren uns selbst nicht.
Aber genau das ist so wichtig. Denn, wie will ich gut für mich sorgen, wenn ich mich nicht spüre? Wie will ich gut für mich sorgen, wenn ich meine Gefühle, Empfindungen und Bedürfnisse verdränge, drüber gehe oder drüber denke?
Erst wenn ich mich ausreichend mit meinem inneren Wesen befasst und im besten Falle angefreundet habe, weiß ich, wie ich gut für mich sorgen kann. Dann weiß ich was heilsam und was unheilsam für mich ist. Dann erst kann ich danach handeln und mir geben, was mir gut tut.

Mich mit meinem inneren Wesen befassen bedeutet, dass ich den Kontakt zu mir aufnehme und ihn pflege und zwar regelmäßig.
Dazu ist es notwendig innezuhalten, still zu werden und mich ganz auf den Körper zu konzentrieren. Vollkommen gegenwärtig zu sein mit allen Sinnen und in mich hineinzuspüren.
Wie gelingt das?
Indem ich bewusst und achtsam atme.
Achtsames Atmen zieht den Focus auf mich. Ich spüre mich indem ich atme. Mit jedem tiefen Atemzug mehr und mehr.
Ich komme zu mir selbst und zu meinen Gefühlen über die Wahrnehmung und Reaktionen meines Körpers. Je öfter ich das tue, desto mehr spüre ich mich. Ich lerne mich kennen und ich weiß immer besser, was ich brauche um gut für mich zu sorgen.
Ich übergehe mich nicht mehr.
Das ist der Anfang der Selbstfürsorge.

Dienstag, 26. Mai 2020

Saufen und fressen ist keine Lösung

Foto: A. Wende

Die einen saufen sie sich weg, die anderen kaufen sie sich weg, die anderen fressen sie sich weg - die sogenannten unguten Gefühle, die für sie nicht aushaltbar sind.
Saufen ist keine Lösung. Fressen ist keine Lösung.
Aber saufen und fressen und all die anderen Süchte haben eins gemeinsam: sie sind kurzfristige Betäuber für das emotional Unaushaltbare. Sie vertreiben Ängste oder füllen die Leere und überdecken so das innere Leiden.
Erst Mal. 


Eine ganze Menge Menschen haben während der Kontaktsperre mehr gegessen und mehr getrunken als zuvor. Und sie tun es weiter.
Emotionale Überforderung führt nicht selten zu solchen ungesunden Reaktionen und Handlungen. Das ist nicht neu.
Neu ist auch nicht, dass diese Versuche untauglich sind um ungute Gefühle zu bewältigen. Im Gegenteil - je mehr getrunken wird, je mehr gegessen wird, desto mieser sind die Gefühle, die sich dann auch noch zu den Gefühlen gesellen, die man damit betäuben will. Man schämt sich für seine Gier, man schämt sich für das, was man sich selbst antut, man hat Schuldgefühle und kann sich selbst nicht mehr leiden. Und diese Gefühle müssen dann wiederum auch betäubt werden.
Hier beginnt der Teufelskreis der Sucht. Der Kontrollverlust tritt ein. Der Mensch entfernt sich mehr und mehr von sich selbst und verfällt dem Suchtmittel. Im Grunde genau das, was er unbewusst ja auch will: Er will sich nicht fühlen. Und er fühlt sich auch nicht mehr.
Irgendwann wird alles im Übermaß genossene zur Sucht. Trinksucht, Fresssucht, Kaufsucht, Sexsucht, Spielsucht usw.

Wenn es ins Bewusstsein dringt, das all das höchst unheilsam und krankmachend ist, ist es dann oft schon zu spät um aus eigener Kraft die Sucht zu stoppen. Der Süchtige kann nicht mehr aufhören, weil das Zuviel vom Ungesunden noch ungesunder macht und das ganze System schwächt - mental, emotional und auf der körperlichen Ebene.
Je weiter die Sucht voranschreitet, desto gefühlstauber wird der Süchtige. Für sich selbst, für sein Leben, für andere.
Die Ursache für die Sucht, das Nichtfühlen wollen, wird zur Wirkung. Und die wirkt gründlich. Holt sich der Süchtige keine Hilfe um seine Krankheit zu stoppen, beginnt das Siechtum.

Montag, 25. Mai 2020

Liebevoll zu mir selbst sein? Es ist möglich.

Foto: A. Wende

Immer wieder höre ich von meinen Klienten oder ich lese es hier auf meiner Seite : „Mich selber mögen? Mich selbst lieben? Geht nicht. Das kann ich nicht, weil ich es nicht fühle.“
Das ist wahr: Was ich nicht fühle, kann ich nicht glauben und daher auch nicht umsetzen und danach handeln.
Aber wahr ist auch: Was ich denke, kann ich fühlen.
Wahr ist auch:
Ich kann mein Denken ändern.
Ich kann mich jeden Tag neu entscheiden meine Gedanken zu ändern.
Ich habe jeden Tag die Möglichkeit mein Denken über mich selbst zu ändern.
Ich habe die Möglichkeit durch meine Gedanken meine Gefühle zu verändern.


Viele Menschen glauben das nicht.
Sie hören es, sie lesen es, aber sie können es nicht als Wahrheit annehmen, weil die alten Wahrheiten in ihren Köpfen so mächtig sind. Sie spüren einen mächtigen inneren Widerstand.
 
Um uns selbst mögen zu lernen, ist es wichtig erst einmal aus dem Widerstand herauszukommen und das geht indem wir ihn hinterfragen.
Warum denke ich eigentlich so?
Wer hat mir dieses Denken beigebracht?
Und die entscheidende Frage: Ist dieser Gedanke für mich hilfreich?
Gedanken zu denken, die uns schaden, ist niemals hilfreich.

Also könnten wir es ja auch mal anders machen und unheilsame Gedanken durch heilsame ersetzen.
Sich selbst mögen oder gar lieb haben, geht nicht auf Knopfdruck, nach dem Motto: Ich sage jetzt meiner Denkmaschine da Oben, dass sie liebevoll über mich denken soll. Der liebevolle Weg zu uns selbst, ist eine Entscheidung. Dieser Entscheidung zu folgen bedeutet - Arbeit an uns selbst. Und ja, die ist mühsam.
Und nein, keiner kann sie für uns erledigen. Und zugleich kann uns niemand daran hindern, wenn wir es wirklich wollen und die Bereitschaft haben es zu tun - uns mögen.
Es ist unsere Aufgabe, wenn wir sie annehmen.
Wir sind bereit zu lernen uns zu mögen.
Erst mal. Das ist genug. Machen wie kleine Schritte.
Gelerntes Zeit braucht um es zu verinnerlichen. Und so ist es mit der Selbstliebe. Wir lernen sie - jeder auf seine Weise. Manche brauchen Zeit um endlich den Widerstand gegen sich selbst aufzugeben. Manche brauchen Unterstützung.
Und auch das ist okay!

Donnerstag, 21. Mai 2020

Vaterlos


Malerei: Angelika Wende

Für das Kind ist die Mutter die Heimat, sie gibt ihm Sicherheit, Geborgenheit und bedingungslose Liebe. Im Kleinkindalter bestimmt das Kind, vorausgesetzt man gibt ihm die Möglichkeit, selbst den Radius mit dem es sich aus dem Schutz dieser Geborgenheit nach und nach herauswagt um sich selbst und Welt zu entdecken. Das Kind muss, um sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit entwickeln zu können, lernen Sicherheit und Halt außerhalb der mütterlichen Geborgenheit zu finden. Ein Prozess der für Mutter und Kind ein stetiges schrittweises Loslassens bedeutet. Gelingt dieser Prozess, hat das Kind erfahren, seine Sicherheit außerhalb des mütterlichen Schutzraumes zu finden, im besten Falle findet es Geborgenheit in sich selbst.

Welche Rolle fällt dem Vater zu?
Die Aufgabe des Vaters ist es diesen Prozess zu begleiten. Er ist es, der den Übergang in das eigenständige Leben begleitet. Es ist seine Aufgabe, das Kind aus der Mutter-Kind-Symbiose heraus in die Welt und zu sich selbst zu führen. Man nennt das Initiation.
Außerhalb unserer modernen westlichen Gesellschaft wurden und werden noch heue Jungen in der Pubertät von den älteren Männern in die Mysterien und Geheimnisse des Lebens eingeweiht, sie werden initiiert. Der Vater hilft, diese Initiation, sprich den Übergang vom Kindsein in die Erwachsenenwelt des Mannes, zu bewältigen. Er steht seinem Sohn bei, ohne es aber für ihn zu tun. Fehlt die väterlich-männliche Unterstützung und Orientierung, muss der Heranwachsende diesen Übergang alleine bewältigen. Bedauerlicherweise gibt es in unserer westlichen Welt keine Initiationsriten mehr. Stattdessen gibt es jede Menge Pseudovorbilder die wir vom Mannsein haben.
Unsere Gesellschaft ist zwar voller Volljähriger, in Wahrheit aber ist sie voller unerwachsener, unreifer Menschen. Die meisten Jungen, Mädchen ebenso, hatten oder haben einen Vater, der zwar körperlich anwesend, dafür aber emotional und geistig abwesend war. Er war damit beschäftigt alles andere zu erreichen und zu sein, als seine Rolle als hinreichend guter Vater zu übernehmen und zu erfüllen. Wie auch sollte es anders sein? Er hat wie die meisten Männer selbst nicht erfahren, was Vater sein ausmacht. Für viele Männer, die selbst Väter werden, hat eine Initiation nicht stattgefunden. Es gab keine Begleitung in die Welt ihrer männlichen Rolle. Die wenigsten Männer sind mit Vätern aufwachsen, die ihnen ein verantwortungsvolles Vorbild waren.

Wohin kann der junge Mann also blicken, woran sich orientieren, wo findet er ein gesundes Vorbild für Männlichkeit? Es gibt kaum eines. Was es gibt, ist eine Gesellschaft voller ewiger Jünglinge.
Der Psychoanalytiker C.G. Jung prägte den Begriff vom “Puer-Aeturnus-Komplex”, nach der Mythologie des gleichnamigen antiken Gottes, der in Ovids Metamorphosen beschrieben wird. Puer-Aeturnus bezeichnet Männer, die auch in der Mitte ihres Lebens innerlich nicht über die Reife eines Jungen hinausgekommen sind. Der ewige Jüngling ist nach Jung ein Mann, der in seiner geistigen und emotionalen Entwicklung innerlich ein Kind geblieben ist und nicht erwachsen werden will. Unbewusst hat er Angst Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen, er nimmt Einschränkung als persönliche Bedrohung wahr, er hat Angst vor Bindung oder klammert in Beziehungen, oder er sucht rastlos seinen Platz im Leben ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er ihn in zuerst in sich selbst suchen muss. Im tiefsten Inneren sucht er in jeder Frau der er sich zuwendet die gute Mutter, die ihm all das gibt, wie einst die Mutter oder all das, was die Mutter ihm verweigert hat oder nicht geben konnte.

Der ewige Jüngling hat keine Heimat, er hat nichts, was ihn von Innen hält, er hat keine Wurzeln. Wer keine Wurzel hat ist ein ewig Suchender. Unfähig, sich selbst ein Halt zu sein, ist er innerlich gespalten und zerrissen. Zum Einen sucht er die Heimat in der mütterlichen Frau, zum anderen eine starke Vaterfigur, an der er sich orientieren kann und die ihm Halt und Sicherheit gibt.
Aber wo findet er diese Leitbild gebende Vaterfigur in Nachhinein, wo ist er, der den Lehrer, den er als Kind so nötig gebraucht hat? Was bleibt sind unreife unsichere Männer, die ihre in Ermangelung eines hinreichend guten Vatervorbildes die verlorene mütterliche Heimat in der Frau suchen, egal ob es eine gute oder eine unschöne Heimat war, Hauptsache sie ist bekannt und vertraut.

Welche Frauen ziehen solche ewigen Jünglinge an?
Die Bedeutung, die das Thema Vater und Mutter in der Kindheit und Adoleszenz für unser erwachsenes Leben hat, für unsere Art und Weise durchs Leben zu gehen und Beziehungen zu knüpfen, wird immer noch bei vielen Menschen verdrängt oder abgewehrt. Je bewusster sich ein Mensch mit seiner Biografie auseinandersetzt, desto klarer wird ihm, was er tief in sich fühlt und warum er wie handelt. Es ist so -  wir sind das Kind unseres Vaters und unserer Mutter, ob wir das nun gut finden oder nicht, ob sie gut für uns waren oder nicht, und das wirkt sich auf allen Lebensbereichen und besonders in unseren Liebesbeziehungen aus. Die Kindheit hat uns geprägt und sie bestimmt nicht zuletzt auch unsere Beziehungsmuster, zu uns selbst und mit anderen.
 
War der Vater in Kindheit abwesend oder emotional nicht erreichbar, ziehen Frauen, die ihr Vaterthema nicht verarbeitet haben, später mit großer Wahrscheinlichkeit Männer an, die emotional nicht erreichbar sind, oder sie werden immer wieder verlassen. Frauen die einen schwachen Vater erlebt haben finden sich nicht selten immer wieder in einer Beziehung mit dem ewigen Jüngling.
Dieser fungiert quasi als Stellvertreter für den schwachen Vater, den sie als Kind, stärken, helfen oder retten wollten. Der schwache Vater lässt sie als Frau später schwache Männer anziehen, denen sie helfen will, Stärke und Größe zu entwickeln, sprich der Mann zu werden, den sie im Vater nicht finden konnte. 

Wer als Mädchen erfolglos versucht hat, die väterliche Schwäche auszugleichen, sucht sich als Frau oft instinktiv Männer als Partner aus, die an irgendetwas leiden, z.B. an einer Sucht, einer Persönlichkeitsstörung, an einer Depression, an mangelndem Durchsetzungsvermögen, oder an einer tiefen Unfähigkeit ihr Leben eigenverantwortlich und proaktiv zu meisten.  
Sie tut bis hin zur Selbstverleugnung alles um diesen Mann aus seinem inneren Drama zu befreien indem sie ihn emotional füttert und ihn versorgt. Was beim Vater nicht gelang, wird in einem endlosen Wiederholungsversuch nahezu zwanghaft bearbeitet. Das Innere Kind ist davon überzeugt: Wenn es mir gelingt diesen Mann zu retten, rette ich meinen Vater.
 
Solche Beziehungen sind, bis die Beziehung zum Vater und die damit verbundenen prägenden Muster erkannt und aufgelöst hat, der ewige Versuch das Drama der Kindheit zu reinszenieren in der Hoffnung es endlich zu einem guten Ende zu bringen. 
Erst wenn eine Frau erkennt, dass sie sich emotional noch immer in der destruktiven Kindheitsbeziehung zum schwachen Vater befindet, wird sie begreifen, dass sie den Mann durch ihr Retter-Verhalten nicht erlöst, sondern im Gegenteil nur weiter schwächt, aber vor allem sich selbst indem sie ihre Energie auf den vergeblichen Versuch verschwendet den anderen nach ihren Vorstellungen zu verändern.

Die Befreiung aus dem Schatten des Vaters gelingt nicht, indem Frauen versuchen den Partner zu retten oder zu bemuttern, sondern indem sie beginnen sich sich selbst zuwenden, sich die Beziehung zum Vater der Kindheit anschauen und schließlich beginnen die unselige Verstrickung zu lösen.  
Das gilt ebenso für Männer, die kein hinreichend gutes männliches Vorbild hatten. Es gilt zu erforschen woran es im eigenen Leben an männlichen Qualitäten mangelt und was wir beim anderen suchen um nicht weiter unbewusst in unzähligen untauglichen Selbstheilungsversuchen, innere Mängel und Sehnsüchte der Kindheit im Beziehen auf den Anderen erfüllen zu wollen.

Die Welt ist voll mit Frauen, die Männer retten und ebenso voll mit Männern, die Frauen retten wollen. Jedes „Retten- wollen“  entspringt der infantilen Sehnsucht des Inneren Kindes, die suggeriert: Wenn du den anderen rettest, rettest du deine unvollkommene Kindheit.
Wenn wir uns in unserem Beziehungsverhalten verstehen wollen, kommen wir nicht umhin den Vater der illusionistischen Verklärung oder der wütenden Anklage zu entheben und schonungslos ehrlich zu uns selbst zu sein. Erst dann werden wir erkennen, was es war, was er uns nicht geben konnte udn wonach wir noch immer suchen. Erst dann, wenn wir uns des inneren Mangels und der unerfüllten Sehnsucht nach väterlicher Liebe und Begleitung gewahr werden, verstehen wir was uns in die immer gleichen Beziehungen führt, die von genau dieser Sehnsucht leben und in unheilsame Verstrickungen führen.
Was uns fehlt wird uns der Vater der Kindheit niemals mehr geben können, das ist Vergangenheit und unwideruflich verloren. Aber wir können es in uns selbst entwickeln um uns aus den destruktiven Beziehungsverstrickungen in der Gegenwart zu lösen.
Der ewige Jüngling darf nachreifen um ein verantwortungsvoller Mann zu werden. Die Frau, die ihn stark machen will, darf lernen sich  zuerst selbst zu geben, was sie dem schwachen Mann anträgt: Halt und Fürsorge.

Mittwoch, 20. Mai 2020

Ich weiß nicht, ob ich es schaffe ...


Louise Bourgeois Foto: www


„Ich bin eine einsame Läuferin. Aber eine Langstreckenläuferin.“
Das sagte die Bildhauerin Louise Bourgeois anlässlich ihrer Ausstellung 2005 in der Kunsthalle Wien. Eine Schau zum Spätwerk der damals 94-Jährigen. Jahrzehntelang musste sie auf eine Anerkennung als Künstlerin warten. Aber sie hat nie aufgegeben. Sie hat immer getan, was sie tun musste – sie hat ihre Kunst gemacht. Heute gilt sie als teuerste Künstlerin der Welt.
Louise Bourgeois fasziniert mich unter anderem genau deshalb weil sie eine Langstreckenläuferin war, weil sie, die ein Leben lang voller Selbstzweifel war und unter einer fundamentalen Angst litt, niemals aufgegeben hat. Sie fasziniert mich ebenso wie Frida Kahlo, die ein Leben lang unter Schmerzen litt und unter diesem unsäglichen Diego Rivera und niemals aufgegeben hat, sich selbst nicht, ihre Liebe nicht und ihre Kunst nicht.

An diese Frauen denke ich, als ich heute Morgen die Worte einer wunderbaren Frau lese, die ich kenne. Nicht gut, aber gut genug um zu wissen, dass sie eine starke Frau ist, eine schöne Frau, eine tiefgründige Frau, eine Frau, die kein leichtes Leben hatte und hat. Sie schreibt, dass sie alles, was Informationen über Corona angeht, krank macht.
Und dass sie nicht weiß, ob sie es schafft.

Ich kann sie gut verstehen, mich macht all das, was gerade geschieht auch traurig und wütend und ängstlich und immer alles zusammen oder im Wechsel. Ich weiß auch nicht, ob ich es schaffe, weder was das Aufrechterhalten meiner Existenz angeht, noch ob ich gesund bleibe, noch wann ich wieder raus gehen kann, frei und unbeschwert, ohne diesen Mundschutz zu tragen und ihn bei all den anderen Menschen da draußen sehen zu müssen – der Mundschutz und all das andere was anders ist, was mich täglich daran erinnert: Wir leben mitten in einer Pandemie. Und es geht weiter.

Ob sie das schafft, ob ich das schaffe, ob wir das schaffen, all das was außer, dass wir gesund bleiben, zu schaffen ist, für jeden Einzelnen von uns und für uns alle als Gemeinschaft - wir wissen es nicht.

Das ist kein Kurzstreckenlauf, das ist ein Marathon.
Wir sind jetzt Langstreckenläufer. Und wir wissen nicht einmal, wann und wo wir am Ende der Strecke ankommen.

Was bleibt?
Gehen. Jeden Tag, Schritt für Schritt. Den Tag schaffen.
Und im besten Falle etwas erschaffen.
Jeder was er kann.
Das ist zu schaffen!

Montag, 18. Mai 2020

Hör auf damit!


Foto: Angelika Wende

Es gibt diese Momente wo mir zutiefst klar ist, wie sehr ich an etwas festhalte, was mir längst entglitten ist. Obwohl ich spüre, es ist vorbei, es hat seine Zeit überlebt, ich lasse nicht los. Ich halte fest, weil ich hoffe es wird doch noch gut, oder zumindest besser.

Ich halte nicht an Dingen fest, aber ich halte an Menschen fest, die ich mir vertraut gemacht habe. Ich bin nicht gut im Verlassen. Ich war es noch nie. Es braucht lange, bis ich verlassen kann.
Jeder Mensch, der mir begegnet ist, der mich begleitet, ist für mich ein wertvoller Mensch, auch wenn ich Ungutes oder sogar Schmerzhaftes mit ihm erlebt habe und erlebe. Ich kann Vieles verzeihen, weil ich Vieles verstehe und weil ich weiß, dass Menschen andere verletzen, weil sie selbst verletzt sind. Ich bin eine Weile wütend, wenn ich zugelassen habe, dass ich verletzt wurde, aber nach und nach löst sich die Wut auf. Ich bin traurig und dann kommt wieder das Verstehen.

Vielleicht, denke ich heute morgen, ist das meine Achillesferse - das Verstehen.
Der andere wertschätzt es oft nicht, dass ich ihn verstehe und ihm deshalb verzeihe, wieder und wieder. Ich bin wohl zu gutmütig. So gutmütig, dass ich dem anderen immer wieder eine Chance gebe. Vielleicht kann ich nicht anders. Vielleicht will ich nicht anders, weil ich keinen Menschen aufgeben will. Vielleicht ist es mein Ego, das das nicht will. 
Kann sein, es will gewinnen. Seine Überzeugung, wie die Dinge sein sollten, durchsetzen.
Es muss doch gut sein. Man muss doch gut zueinander sein.
Das dumme Ego, das nicht auf das Herz hört. Das sagt: Nein, es ist nicht gut. Spürst du es nicht, das Ungute? Spürst du sie nicht, die Traurigkeit? Spürst du sie nicht, die ohnmächtige Wut, weil dir ein Mensch zum tausendsten Male zeigt, wie wenig du ihm bedeutest, weil er dir zum tausendsten Mal weh tut?
Hör auf darüber hinweg zu spüren, sagt das Herz.
Heute Morgen höre ich es ganz laut: Hör auf damit!






Samstag, 16. Mai 2020

Liebe in Zeiten von Corona - eine Reflexion



Malerei: Angelika Wende

Covid-19 verändert gerade unser Leben auf allen Ebenen. Das hat auch Auswirkungen auf unsere Liebesbeziehungen. Wohl dem, der eine gute hat. Aber was ist mit denen, die jetzt in einer Fernbeziehung leben? Was ist mit denen, die alleine sind?
Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben? 
 
Social Distancing und Dating passen nicht zusammen. Da sind die Corona-Verordnungen und Empfehlungen, da ist die Angst vor einer Infektion, da ist der Mindestabstand, da ist der Fremde, der eine potenzielle Gefahr ist für Leib und Leben.  
Singles können plötzlich sehr einsam sein. Keine Dates, keine sozialen Kontakte, keine Berührungen, kein Sex. Singles haben es in der Corona-Zeit schwer. Für Menschen, die schon vorher gerne alleine waren, ist das kein Problem. Für diejenigen aber, die sich nach ihrem weit weg lebenden Partner sehnen ist es ein schwerwiegendes Problem.  Eine erzwungene Trennung, wie sie manche Paare in der Corona-Krise erleben, schafft Zweifel, ob die Bindung sicher ist und schürt Verlustangst.
Andere wieder haben in der Isolation erst gespürt wie sehr ihnen ein Partner an ihrer Seite fehlt.  

Wir Menschen brauchen Nähe und Berührung, gerade und besonders in Krisen. Wir alle haben elementare Bedürfnisse nach sinnlichem In-Kontakt-Sein mit unseren Nächsten. Es ist so natürlich und notwendig, wie immer wieder Atem zu holen. Wir alle brauchen Liebe. Und die hat nicht eine emotionaler und eine geistige Ebene, sondern eben auch die des Eros.
Nur was ist mit Eros?
Was ist mit Kennenlernen, mit sich verlieben, was ist mit Liebe und Sex, wenn uns ein Virus dazu zwingt, körperliche Nähe zu vermeiden um nicht das Risiko einer im Zweifel tödlichen Erkrankung einzugehen?

Das Coronavirus ist bis in die letzte Nische unserer Leben vorgedrungen: Die Intimität.
Wir gehen auf Abstand, wo es nur geht.
Aber wie wollen wir leben ohne Berührung, ohne Zärtlichkeit, ohne Sex?  Küssen ist  gefährlich, denn beim direkten Tröpfchenaustausch überträgt sich das Virus ganz schnell. 

Askese ist angesagt. Pause einlegen. Und für wie lange?
Glaubt man der Corona-Hiobsbotschaft der WHO, die besagt das Virus könnte nie mehr verschwinden, die Welt müsse sich darauf einstellen, dass das Virus für immer bleibt,  fragt man sich: Was für ein Leben ist das?
Ein Leben ohne zu Berühren und ohne berührt zu werden?
Das ist ein einsames Leben. Der Blick in die nahe Zukunft geht einer sich selbst ausgesetzten Einsamkeit entgegen. Diese Einsamkeit ist für manche Menschen fundamental. Fundamental weil sie am Fundament zutiefst menschlicher Bedürfnisse rüttelt und sie je nach dem Grad individueller Angst vor Ansteckung, niederreißt. Wir sehen den anderen, wir sehnen uns nach dem Anderen und bleiben allein.
„Ich sehe dich, ich nehme dich wahr, aber auch den Abgrund, der uns trennt, ich akzeptiere den Schmerz, den diese Entfernung verursacht, aber ich halte stand und bleibe bestehen, bei mir, auf meiner Seite, nicht blind, nicht ignorant, aber standhaft. Auf diese Art zugewandt.“ Das schreibt Marguerite Duras, eine Einsame. 
Da ist sie, die Angst, die alles zutiefst Menschliche verwahrlosen lässt. Die Sehnsucht, die da ist, aber keinen Weg findet. Die Liebe, die nicht an ihre Heilkraft glaubt und vor dem Unheilsamen zurückweicht. Das Bedürfnis nach Nähe, das nicht die Kraft aufbringt, über die Angst hinaus zu berühren. 
 
Eros und Tanatos als unüberwindbare Antagonisten?

Der Unberührbare Mensch wird flach. Die Gefühle verflachen, es ist nur eine Frage der Zeit. Der unberührte Mensch findet sich ab und tut er das nicht, endet er in der Verzweiflung und das ist der schlimmste Affekt.
Man weiß, dass chronische Einsamkeit zu einem erhöhten Krankheits- und Sterberisiko führt. Einsamkeit wird im gleichen Areal des Gehirns verarbeitet wie körperlicher Schmerz. Das führt auf Dauer zu einer chronischen Stressreaktion, mit Folgen. Dazu gehören Bluthochdruck, ein erhöhter Blutzuckerspiegel und eine reduzierte Immunabwehr, die wiederum  zu allem möglichen Erkrankungen führt. Dazu gehören Depressionen und Ängste.
Es braucht keine Covid-19 Infektion um zu erkranken.
Einsamkeit macht krank.
Nicht berührt werden macht krank.
Alleinsein schützt.
Nähe macht im Zweifel krank.

Was also tun? Es fühlt sich an als wäre die Entscheidung die zwischen Pest und Cholera.

Ohne Berührung gehen wir ein, psychisch und physisch. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Alles ist sterblich, wir sind sterblich.
Das macht das Leben so schrecklich. Und so schön.
Wenn wir beginnen das zu erkennen, es zuzulassen, kann das Leben beginnen sich zu zeigen.
Was bleibt denen, die ohne Berührung sind?
Was bleibt ist die eigene Entscheidung, das eigene Abwägen und die existentielle Frage: Wie gestalte ich mein Leben, damit es mich berührt?

Der Bumerangeffekt



Foto: A. Wende


Widerstand gegen ein Problem führt niemals zur Lösung des Problems.
Widerstand ist immer ein Zeichen nicht gelungener Anpassung.

Widerstand gegen ein Problem, egal ob es im Außen oder im eigenen Inneren liegt, führt oft dazu, dass Menschen konträre Reaktionen und konträres Verhalten an den Tag legen.
Somit wird genau das getan, was nicht verhältnismäßig und nicht angemessen ist um das Problem zu erkennen, zu akzeptieren, zu erforschen und zu lösen. 


Widerstand führt in der Regel dazu, dass das Problem, das den Widerstand erzeugt hat, aufrecht erhalten oder sogar um ein Vielfaches verstärkt wird.
Einen solchen Effekt bezeichnet man als Bumerangeffekt.

Mittwoch, 13. Mai 2020

Das Trauma Jetztzeit

Malerei Angelika Wende

Unsere Hoffnung richtet sich darauf, endlich wieder in die sogenannte Normalität zurückkehren zu können und die Dinge wieder tun zu können, wie wir sie gewohnt waren. Das ist eine sehr verständliche Hoffnung. Auch ich möchte am Morgen aufwachen aufwachen und alles ist wie vorher.
Ich weiß aber auch, diese Hoffnung ist problematisch für mein Seelenheil. Denn sie ist unrealistisch, sie ist eine Illusion, die an der Realität zerbricht. Wir werden mit dieser Situation noch eine Weile leben müssen. Auch in den kommenden Monaten wird vieles nicht so sein, wie wir es uns wünschen.
Es wird kein normaler Frühling, es wird kein normaler Sommer, es wird auch vielleicht kein normaler Herbst und kein normaler Winter. Wir haben das, was unsere Normalität war verloren. Wir befinden uns in einem Prozess der Wandlung und keiner von uns ahnt wohin sie uns führt.
Gefühlt ist es eine absurde, eine surreale Welt in der wir uns seit März befinden. Wir können es noch immer nicht fassen, dass das Normale etwas gewichen ist, das alles woran wir uns festhielten, ins Wanken bringt. Die Normalität ist erschüttert und die Welt wie sie war aus den Angeln gehoben. Derartige Erschütterungen erschüttern nicht nur Lebenskonstruktionen, sondern unser ganzes Sein in der Welt und wie wir Welt und uns selbst als Teil dieser Welt wahrnehmen.

Die Jetztwelt wahrnehmen ist ein schweres Unterfangen, denn so wie sie ist, ist sie bedrohlich geworden, unsicher und voller Verluste. Verluste die wir bereits erlitten haben und je länger es dauert, noch erleiden werden. Wir müssen lernen Abschied zu nehmen. Wir müssen lernen mit einer Absurdität zu leben, die uns fremd ist. Diese Absurdität, in all ihren Ausformungen, hat das Normale längst verdrängt.

Aber was ist Normalität?
Normalität ist das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss.

So war es, so ist es nicht mehr.
Wenn wir mit Normalität meinen, alles müsste alles so sein wie vorher, verhindern wir in den Raum des Dazulernens zu kommen. Der Raum, in dem wir neue Erfahrungen machen, Neues gestalten und es in unser Leben integrieren um uns weiter zu entwickeln. Es scheint, als hätten wir keine andere Wahl.

"Es ist Schweres, was euch aufgetragen wurde", schreibt Rainer Maria Rilke.
Ja das ist es, denn was wir verloren haben, haben wir nicht aufgegeben, weil es unsere freie Entscheidung war, sondern weil man es uns aufgetragen hat. Ohne uns zu fragen. Wir wurden überrollt und in vielem entmündigt. Wir wurden gezwungen Dinge zu tun, die wir niemals freiwillig tun würden. Wir wurden der eigenen Entscheidungsfähigkeit beraubt um uns etwas unterzuordnen, was man uns verordnet hat – mit Gründen, die uns vielleicht überzeugt haben, weil wir sie nachvollziehen können oder auc nicht. Können wir es nicht, leiden wir um ein Vieles mehr und gehen in den Widerstand. So geschieht es jetzt bei manchen von uns.

Aber egal auf welcher Seite wir stehen: In der Akzeptanz oder im Widerstand, es bedeutet nicht, dass irgendeiner in diesem Land diese Verordnungen wirklich aus tiefstem Herzen gut heißt. Wie auch? Der Verzicht auf die banalsten Gewohnheiten menschlichen Miteinanders wiegt schwer. Der Verzicht auf die eigene Entscheidungsfreiheit wiegt schwer. 

Wie sich davon verabschieden ohne Wut, ohne Trauer zu fühlen? Wie damit leben, wenn es zunächst keine Alternativen gibt um diesen Abschied in etwas zu wandeln was einen neuen Sinn ergibt? Wie etwas gestalten, das nicht einmal planbar ist, weil nichts mehr planbar ist in einer Welt, die außer Kontrolle geraten ist. Wie etwas beginnen, von dem wir nicht wissen, ob der Anfang nicht schon das Ende in sich trägt?
Und was beginnen, wenn das, was ich als Fähigkeiten und Potenziale in mir trage, nicht mehr systemrelevant ist?
Jetzt nicht und in naher Zukunft auch nicht.
Und wann weiß keiner.

Diese Erfahrung ist eine Erfahrung der Erschütterung, der Ohnmacht und der Bodenlosigkeit. Und diese Erfahrung ist traumatisch.
Das ist jetzt unsere Normalität: Wir stecken mitten in einem Trauma. Kollektiv und individuell. Manche von uns sind sich dessen bewusst, andere nicht. Manche wollen es nicht glauben, weil es nicht in ihre Erfahrung, nicht in ihr Wissen, nicht in ihre Sicht von Welt passt.
Der Begriff Trauma kommt aus dem griechischen und bedeutet: Wunde. Trauma in der Psychologie kennzeichnet sich durch die Erfahrung von Kontrollverlust verbunden mit Gefühlen des Entsetzens, der Angst und der Hilflosigkeit.

Ein Trauma erschüttert uns und stellt die Welt wie sie vorher war in Frage.
Ein Trauma verändert das Leben radikal.
Ein Trauma schleudert uns aus dem Raum dessen was für uns normal war.
Ein Trauma braucht Zeit um es zu verarbeiten.
Ein Trauma kann wieder von alleine abklingen, wobei sich auch dann das Verhalten ändert.
Die Überwindung eines Traumas kann uns wachsen lassen.
Ein Trauma ist dann verarbeitet, wenn wir es in unser System integriert haben.
Normal ist nach einem Trauma nichts mehr. Wie es danach ist, weiß man nicht.
Man weiß nur eins: Es ist anders.


Freitag, 8. Mai 2020

Selbstliebe und Wertschätzung für uns selbst ist kein Schutzschild gegen das Negative



Foto: Angelika Wende

Ein Schüler wollte vom Meister wissen, was das Geheimnis der spirituellen Praxis sei.
Der Meister sagte: Mach jeden Tag einen Menschen glücklich.
Dann hielt er einen Moment inne und fügte hinzu: Selbst wenn du dieser Mensch bist.
Er wartete einen Moment und sagte abschließend: Vor allem, wenn du selbst dieser Mensch bist.

Es ist immer wieder erstaunlich wie hart und lieblos Menschen sich selbst behandeln. Sie haben das Gefühl nicht okay zu sein, nicht gut genug zu sein, nicht wertvoll und nicht liebenswert zu sein.
Sie schaden sich selbst mit schlechter Nahrung, Alkohol, Drogen, giftigen Beziehungen und indem sie Dinge tun, die unheilsam sind für sie selbst und andere. Sie belügen sich selbst und andere. Sie tun alles was sie einem nahestehenden Menschen nicht wünschen würden und nicht antun würden sich selbst an. Angesichts dieser Selbstablehnung und Selbstschädigung ist es nicht verwunderlich, dass es diesen Menschen so schwer fällt Zugang zur eigenen Weisheit und Klarheit, zu Mitgefühl und Liebe zu finden. Es ist nicht verwunderlich, dass ihr Leben in unguten Bahnen läuft und nichts Heilsames wächst. Es ist nicht verwunderlich, dass innere und äußere Krisen ihren Weg pflastern und sich nichts zum Guten wendet.

Auf Beziehungsebene führt das ungute Verhalten uns selbst gegenüber dazu, dass wir anderen nichts Gutes geben können und nichts Gutes empfangen können.
Wie können wir das Gute erwarten, wenn wir uns selbst nichts Gutes geben?
Wie soll der andere Vertrauen und Liebe spüren von einem, der sich selbst nicht vertraut und sich selbst lieblos behandelt?
Ich kann nichts geben, was ich mir selbst nicht geben kann.
Ich kann auch nicht empfangen wofür mein Herz nicht offen ist. Ich kann auch keinen Respekt von anderen erwarten, wenn ich mich selbst respektlos behandle. Ich kann kein Vertrauen erwarten, wenn ich mir selbst nicht vertraue. Ich kann keinen Halt finden, wenn ich mich selbst nicht halten kann.

Alles was wir uns vom anderen wünschen, dürfen wir zuerst in uns selbst suchen, finden und entwickeln.
Wir tun das, indem wir die Bereitschaft haben, uns selbst wahrhaftig anschauen.
Indem wir uns den Mangel, den wir spüren bewusst machen, finden wir heraus, woran wir arbeiten dürfen, was wir entwickeln, üben und praktizieren dürfen, damit es uns selbst besser geht. Wir handeln im Gedanken uns selbst glücklich zu machen, so wie es der Meister in der kleinen Geschichte dem Schüler empfiehlt.

Und dann werden wir nur noch dem begegnen was gut für uns ist?

Nein. Es ist nicht so, dass ein Mensch, der sich selbst wertschätzt und sich selbst glücklich machen kann, keine unguten Erfahrungen mehr macht. Es heißt auch nicht, dass ihm nichts Ungutes mehr widerfährt.

Selbstliebe und Wertschätzung für uns selbst ist kein Schutzschild gegen das Negative in der Welt.
Wo Licht ist ist auch Schatten, in jedem Leben. Ein Mensch der Licht ausstrahlt ist nicht unverwundbar. Er wird auch dem Dunkel begegnen, eben weil dem Dunkel dieses Licht fehlt.
Es dockt an um Energie zu zapfen, um seinen inneren Mangel zu füllen. Wenn wir uns ins Licht bewegen, gerade wenn wir am Anfang des Weges sind, kann es sein, dass auch gehäuft Schatten in unser Leben treten. Menschen zum Beispiel, die sich selbst nicht geben können, was sie brauchen und es sich von uns holen wollen. Sie sind überall und es gibt viele von ihnen. Es gibt mehr von ihnen, als jene, die ins Licht gehen.

Was fangen wir damit an?
Wir können dem Dunkel mit Mitgefühl begegnen.
Eine Weile, eine ganze Weile sogar. Aber wenn wir spüren, dass ein Mensch nicht bereit ist sein Herz zu wandeln, wenn er uns sogar schadet, dann lassen wir los.
Wir lassen uns nicht verwirren.
Wir lassen uns nicht auf seine Ebene runterziehen.
Wir erkennnen an, dass dieser Mensch seinen eigenen Weg gehen muss und trennen uns von ihm.
Wir erwarten nichts von ihm.
Wir schützen uns vor seiner dunklen Energie.
Wir wünschen ihm Gutes. 
Wir kehren zu uns selbst zurück.
Wir praktizieren Selbstmitgefühl. 
Wir machen jeden Tag einen Menschen glücklich, vor allem, wenn dieser Mensch wir selbst sind. 








Donnerstag, 7. Mai 2020

Verdrängung

Foto: www


Biergärten in Bayern öffnen, Schulen und Kitas öffnen, alle Geschäfte öffnen. Wir dürfen wieder raus, uns mit Freunden treffen, auf die Arbeit, Schluss mit Homeoffice. Wir haben ja jetzt Masken, die nicht viel bringen, aber uns ein gutes Gefühl vorgaukeln. Das Ende des Lockdowns und viele sind erleichtert. Aber die Angst bleibt. Denn das Ende des Lockdowns bedeutet eben nicht das Ende der Pandemie. Gefühlt scheinen das so manche allerdings zu glauben. Sie werden unvorsichtig.

Der Mensch neigt zum Verdrängen.
Für mich fühlt es sich so an, als schließe man jetzt die Augen und durch. Aber wo durch? Und zu welchem Preis? Ja, die Wirtschaft geht zugrunde. Verständlich, da muss man was machen. Wo landen wir denn, wenn wir uns weiter einsperren?

Was verlieren wir? Unsere Existenzgrundlage. Und unsere Freiheit. Besonders die. Unsere Grundrechte, auch in Gefahr. Von der Psyche ganz zu schweigen.
So geht das nicht, also aufmachen, je mehr desto besser, angesichts so großer Verluste.
Aufmachen und durch, entgegen der Warnungen der Virologen. Die haben sich ja schon öfter gerirrt, die sind sich ja auch nicht sicher. Das wird schon.
Also Tag für Tag durch: Durch eine tägliche Bedrohung.

Wer nachdenkt hat längst begiffen: Mit dem Ende des Lockdowns dürfen wir nicht zurück in die Welt vor der Pandemie.
Diese Welt war unheilsam. Schon lange vorher.
Das Virus hat es uns gezeigt. Erschrocken haben wir es plötzlich klar gesehen. Und uns geduckt, in unseren Häusern und Wohnungen versteckt, auf dass uns das Virus keinen Schaden zufügen möge. Die Angriffsfläche verkleinert. Vorsicht walten lassen.
Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Überdenken, was dringend einer Veränderung bedarf - kollektiv und individuell.

Haben wir nachgedacht? Haben, die, die an den Hebeln sitzen, nachgedacht? Ich meine wirklich tief nachgedacht?
Sie waren und sind uneins. Sie haben gestritten. Die Menschen haben gestritten, es kam zu Spaltung, zu Kampf, zu Aggression und Wut und Ideen darüber, dass das mit dem Virus gar nicht so ist, dass das eine große Lüge ist, eine gemachte Inszenierung. Abwehr nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein! So ein tödliches Virus in unserer Welt, nein, das darf nicht sein und darum glauben wir das nicht und denken uns was aus, warum es nicht sein darf.

Wurde nachgedacht? Mit klarem Verstand, ruhigem Geist, offenem Herzen und Empathie?
Ein klares Nein.

Panik wurde verbreitet. Angst geschürt. Unsicherheit gestreut, Irrsinn verbreitet.
Türen zu. Und jetzt Türen auf. Willkommen Covid 19 !
Wir fühlen uns dir gewachsen. Wir zeigen es dir, wir machen weit auf. Du kannst uns mal.
Wir haben zwar Angst, aber wir verdrängen die jetzt, so wie wir alles, was uns nicht in den Kram passt, verdrängen. Darin sind wir Meister. Schau es dir doch an Covid 19, schau dir doch unsere Welt an und was wir mit der alles machen. Die Klimakatastrophe, die ist noch viel gewaltiger, noch viel zerstörerischer als du blödes Virus, die verdrängen wir ja auch schon eine gefühlte Ewigkeit und das was noch alles im Argen liegt gleich mit.
Wir sind Meister im Verdrängen.
Wir verdrängen weiter. Nein, wir kapieren es nicht.
Was?
Es muss eine Transformation hin zu einer anderen, besseren Welt stattfinden.

Das war die perfekte Welle um aufzuwachen. Okay, die zweite wird kommen. 

Dienstag, 5. Mai 2020

Wenn gerade der Sinn fehlt


Foto. Angelika Wende


"Vielleicht hat es so begonnen. Du denkst du ruhst dich einfach aus, weil man dann besser handeln kann, wenn es soweit ist, aber ohne jeden Grund, und schon findest du dich machtlos, überhaupt je wieder etwas tun zu können", schreibt Samuel Beckett in der Namenlose.

Für manche von uns fühlt sich die Zeit gerade an als würde sie still stehen. Ein Tag ist wie der andere, keine Höhepunkte, keine Herausforderungen, das Leben gleitet so vor sich hin.
Die gewohnte Betriebsamkeit fehlt. Freunde fehlen, Ausgehen fehlt. Es fehlt vieles, was vertraut war und unser Leben erfüllt hat. Äußere Anforderungen und Ablenkungen sind auf ein Mindestmaß reduziert. Wir warten vielleicht, dass wir wieder arbeiten können, wir warten, dass sich die Krise auflöst und das Virus verschwindet oder etwas gefunden wird, damit man Kranke heilen kann. Wir warten auf die zweite Welle von der sie sprechen.

Plötzlich ist da viel Zeit. Zeit, aber der Sinn mit dem man sie füllen könnte, fehlt. 
Wenn wir meinen, dass unser Leben gerade keinen Sinn ergibt, weil vieles was vorher sinnvoll war aufgrund der Krise verloren ging, ist das nicht nur emotional stark belastend, es schwächt unsere Motivation und kann in eine Lähmung oder gar in eine Depression führen. Das kann bei manchen Menschen so weit gegen wie es Beckett beschreibt: Sie fühlen sich machtlos, überhaupt je etwas tun zu können.

Machtlos fühlen wir uns dann, wenn wir das Gefühl haben, die Kontrolle über unser Leben verloren zu haben. Gelähmt sind wir ,wenn wir glauben, dass unser Sein und Tun keine Bedeutung für irgendjemanden hat. Um aus diesen emotional nach unten drückenden Gefühlen herauszukommen, können wir uns darauf besinnen, dass bestimmte Dinge sinnvoll sind und zwar für uns selbst, egal ob wir das im Augenblick spüren können oder nicht.

Auch wenn wir da draußen gerade nicht "gebraucht" werden, weil wir nicht systemrelevant sind, bedeutet das nicht, dass wir uns nicht selbst brauchen, solange bis wir wieder gebraucht werden.
Es geht um Selbstfürsorge. Für uns selbst zu sorgen, gibt uns das Gefühl der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung zurück, das wir im Moment nicht spüren können. Vor allem aber wertschätzen wir uns damit selbst, wenn es gerade niemand anderer tut. 

Für uns selbst gut zu sorgen ist hilfreich um aus der gefühlten Sinnlosigkeit herauszufinden.
Sinnvoll sind ganz einfache Tätigkeiten wie zum Beispiel:
Die Wohnung sauber und aufgeräumt halten
Sich um die Wäsche kümmern
Sich pflegen
Einkaufen gehen und etwas Gutes kochen
Täglich einen kleinen Spaziergang machen
Mit einem vertrauten Menschen reden
Sich jeden Tag eine Aktivität vornehmen, die Freude macht.

Auch gelebte Kreativität gibt Sinn. Kreativität heißt Schaffenskraft. Die Kraft des Erschaffens schenkt uns Momente der Erfüllung und Befriedigung für die wir selbst sorgen.
Kreativität entfaltet sich vor allem dann, wenn man loslässt und aufhört, zu denken: Was bringt mir das? Wozu, wenn es niemand sieht, was ich male, schreibe, komponiere, musiziere, gestalte? Wer immer Resonanz oder Bewunderung erwartet blockiert seine Kreativität. Werde kreativ für dich selbst. Wähle dabei keine kreative Tätigkeit, die gut klingt oder die Aufmerksamkeit anderer braucht, sondern eine, die dir Freude macht.  

Gelebte Kreativität ist etwas, was unserem Leben Sinn gibt und unsere Identität definiert.
Alles was wir an Kreativität in unser Leben integrieren macht es, auch wenn es mal nicht so gut läuft, (SINN) voller. Und wenn es richtig gut läuft kommen wir sogar in den Flow und vergessen für Momente oder Stunden unsere Sorgen und Ängste. 

Der Kopf wird frei für Impulse und Ideen, was wir in unserem Leben neu gestalten können. Und dann sorgen wir dafür, dass es Gestalt annimmt.
 



Montag, 4. Mai 2020

Ein Liebender



Foto: Angelika Wende

Mitgefühl und liebende Güte sind Qualitäten, die in einer Welt der Selbstoptimierung keinen große Attraktivität zu besitzen scheinen. Bei aller Selbstfürsorge, bei allem Selbstmitgefühl, bei aller Selbstliebe, bei allem Selbstschutz, aller Selbstverwirklichung, fallen Mitgefühl und liebende Güte hinten runter.

"Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben."
Das lernen Menschen unter anderem in der Therapie. Das ist gut. 

"Make safe number one first!"
Nur wenn ich mich selbst wichtig nehme, sorge ich gut für mich selbst und das ist auch die Vorraussetzung dafür, dass ich meinen Nächsten wichtig nehme und gut für ihn sorge.

Du bist der wichtigste Mensch in deinem Leben.
Das steht auch auf meiner Website und das zu erkennen, zu verinnerlichen und danach zu leben, ist ein Teil dessen, was ich meinen KlientInnen vermittle.

Mich selbst an erste Stelle setzen, mich selbst lieben, heißt aber nicht, dass ich zum Egoisten werde, es heißt nicht, dass ich das Maß aller Dinge bin und für alles in meinem Leben selbst verantwortlich oder gar, dass ich der alleinige Schöpfer meines Universums bin und alles alleine schaffen muss.
Ja, es geht um Eigenverantwortung, aber nicht in dem Sinne, dass ich alles, was mir begegnet selbst auch kreiere. Wer das glaubt, hat das Leben nicht verstanden und lebt in einer Blase, die dann platzt, wenn ihn ein Schicksalsschlag trifft, so wie wir es jetzt gerade alle miteinander erleben.
Was gerade geschieht hat niemand selbst gemacht. Nur mal so als Beispiel. Übrigens, ich bin auch nicht eigenverantwortlich, wenn mir ein Dachziegel auf den Kopf fällt.

Das mir der Eigenverantwortung kann ganz schnell falsch verstanden werden. 
Eigenverantwortung bedeutet im Grunde nur eins: Ich habe die Bereitschaft für das eigene Handeln und Unterlassen die Verantwortung zu übernehmen. Und dazu gehört auch wie ich anderen begegne und mit ihnen umgehe.

Das mit der Selbstliebe kann auch falsch verstanden werden.
Selbstliebe führt, wenn sie wirklich gefühlt wird, immer zu liebevoller Güte. Selbstmitgefühl führt, wenn es wirklich gefühlt wird, immer zu Mitgefühl anderen gegenüber. Wer für sich selbst Liebe empfindet ist mit der Liebe verbunden - er ist ein Liebender - sich selbst, anderen und dem Leben gegenüber. Und er strahlt es aus. Er strahlt das aus, was man liebevolle Güte nennt und er lebt danach. Daran kann ich immer ziemlich genau erkennen wie wahrhaftig es ist, wenn mir einer sagt: Ich liebe mich selbst.

Samstag, 2. Mai 2020

Mein eigenes Märchen




Als ich noch Märchen gelesen habe, dachte ich solche Dinge könnten niemals passieren, und hier bin ich nun und lebe mein eigenes. Dieser Satz ist aus "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll.

Ich habe als Kind gerne Märchen gelesen und ich später habe ich sie meinem Sohn vorgelesen. Mein Lieblingsmärchen war "Hänsel und Gretel". Vielleicht weil es zu vielem passte, was meine Kindheit ausgemacht hat. Mein kleiner Burder und ich. Ich, die auf meinen kleinen Bruder aufpasste, die ihn versorgte, tröstete und ihn beschützte. Einmal habe ich ihm das Leben retten dürfen. Als er sich auf einem Aussichtsturm voller Übermut über die Brüstung schwang, konnte ich ihn an den Trägern seiner Lederhose zurückhalten. Er plumpste auf den Boden und lächelte mich an. In meinem Märchen waren wir Hänsel und Gretel. Wir hielten uns an den Händen und gingen gemeinsam durch unsere Kindheit. Wir hielten zusammen und am Ende hat uns die böse Hexe nicht gefressen.

Manchmal frage ich meine Klienten, was denn ihr Lieblingsmärchen ist. Das erzählt mir viel über ihre Kindheit, ihre Erfahrungen und ihr Wesen. Märchen sind wunderbare Projektionsflächen für unsere Sicht von uns selbst und der Welt, für unsere Identifikationen, unsere Träume und Wünsche. Noch aufschlussreicher ist es, wenn ich frage: Wer sind sie selbst in ihrem Märchen?
Die Heldin, der Held, der Zauberer, die gute, die schlechte Fee? Die böse Stiefmutter, Aschenbrödel, Schneewittchen, Gold-oder Pechmarie?

Wer wir sind und wer wir sein wollen ist nicht immer deckungsgleich. Wir wollen oft etwas sein, was wir nicht sind. Helden vielleicht und in uns sitzt ein kleiner Angsthase, der gar nicht heldenhaft durchs Leben hoppelt, sondern sich klein fühlt und hilflos und schnell weghoppelt, wenn es gefährlich wird. Oder wir möchten die gute Fee sein und innen wohnt die Hexe, die herausspringt und achtlos Dinge und Beziehungen zerstört. Oder wir möchten der allmächtige Zauberer sein, der weise ist und immer klaren Geistes und in sich ruhend, und drinnen wohnt ein unfreiwilliger Held, der auszieht um das Fürchten zu lernen.

Das eine schließt das andere aber nicht aus. In jeder Märchenfigur, in jedem von uns gibt es mindestens zwei Seiten und noch viele andere mehr. All diese Seiten führen ein Eigenleben. Nicht immer so wie wir es bräuchten, damit sie hilfreich für uns sind. Und immer wieder kämpfen sie auch miteinander, gegeneinander, gegen andere oder gegen widrige Lebensumstände. Es ist ein ständiger Kampf.
Es ist okay. Keine Figur, kein innerer Anteil ist nur gut oder nur schlecht. Wir können ihn ablehnen oder akzeptieren und in Mitgefühl für uns selbst wandeln. Wir sind vollkommen in unserer Ganzheit, auch in dem, was wir nicht sein wollen. Dann endet der Kampf.
Das Leben ist kein Märchen.
Aber wie im Märchen passieren uns Dinge, von denen wir glaubten, sie könnten uns niemals passieren. Gute und ungute.
Und dann? Dann leben wir sie. Als Held, als Zauberer, als Fee, als Aschenbrödel, als Hexe, als was auch immer da in uns lebendig wird.

Freitag, 1. Mai 2020

Tanzen


 
Foto: Alexander Szugger

Im vergangenen Jahr habe ich am Vorabend getanzt. Ich habe mit meinem Liebsten getanzt, ausgelassen und glücklich. In diesem Jahr habe ich nicht getanzt. Ich hätte tanzen können, allein in der Küche, so wie mein Liebster und ich es getan haben. Mir war nicht nach tanzen. Es ist okay. Ich muss nicht tanzen, wenn ich mich nicht danach fühle. Manchmal tanze ich, manchmal nicht. Wenn ich traurig bin eben nicht. Ich bin traurig. Gestern war ich es und heute morgen bin ich es.

Heute ist der 1. Mai. Tag der Arbeit.
Arbeit gibt es für viele Menschen nicht mehr. Wir haben so viel Arbeitslose wie schon lange nicht mehr. Die Coronamaßnahmen fressen Arbeitsplätze, Unternehmen, ruinieren Existenzen.
Eine Klientin, die lange zu mir kam, kann nicht mehr kommen. Ihre Firma ist bankrott. Was sie anbietet ist nicht systemrelevant. Es wird nicht mehr gebraucht jetzt.
Aber auch was jetzt gebraucht ist für viele nicht mehr bezahlbar. 
Auch ich habe weniger Klienten als zuvor.
Ich habe mehr Zeit. Zeit um nachzudenken, was ich tun will, womit ich meine Existenz aufrechterhalte. Ich liebe meine Arbeit, ich will sie weiter machen. Ich habe Zuversicht, ich bin kreativ. Mir wird etwas einfallen.
Nein, nach Tanzen ist mir nicht.

"Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren", sagte Pina Bausch einmal.
Sind wir das? Verloren, wenn wir nicht tanzen?
Wit tanzen doch.
Wir tanzen den ganzen Tag. Irgendwie ist alles ein Tanz.
Wir tanzen um uns selbst herum, machen Drehungen und Wendungen mit Ziel, ohne Ziel. Wir tanzen in Beziehungen, auf einander zu, umeinander herum, auseinander. Liebe ist ein Tanz. Ein Tango - it takes two for Tango. In allen Beziehungen, nicht nur in der Liebe.
Meine Liebster fehlt.

"They dance alone", ist ein Lied von Sting.
Es handelt von denen, die ihre Toten betrauern. In dem Lied tanzen sie alleine. Im Herzen die Trauer um ihre Toten.
Es gibt viel Trauer zur Zeit.
Es gibt viele Tote zur Zeit. In der ganzen Welt gibt es eine Übersterblichkeit, sagt man. Wir sehen es an den Zahlen.
Wir schauen viel auf Zahlen in den letzten Monaten. Zahlen bestimmen unseren Alltag, unser Leben, unsere Gefühle. Sie machen Angst, wenn sie steigen. Hoffnung, wenn sie sinken.
Ein Affentanz. Ein Affengeschnatter in den Medien, in den Köpfen.
Nein, mir ist nicht nach Tanzen.