Samstag, 2. Mai 2020

Mein eigenes Märchen




Als ich noch Märchen gelesen habe, dachte ich solche Dinge könnten niemals passieren, und hier bin ich nun und lebe mein eigenes. Dieser Satz ist aus "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll.

Ich habe als Kind gerne Märchen gelesen und ich später habe ich sie meinem Sohn vorgelesen. Mein Lieblingsmärchen war "Hänsel und Gretel". Vielleicht weil es zu vielem passte, was meine Kindheit ausgemacht hat. Mein kleiner Burder und ich. Ich, die auf meinen kleinen Bruder aufpasste, die ihn versorgte, tröstete und ihn beschützte. Einmal habe ich ihm das Leben retten dürfen. Als er sich auf einem Aussichtsturm voller Übermut über die Brüstung schwang, konnte ich ihn an den Trägern seiner Lederhose zurückhalten. Er plumpste auf den Boden und lächelte mich an. In meinem Märchen waren wir Hänsel und Gretel. Wir hielten uns an den Händen und gingen gemeinsam durch unsere Kindheit. Wir hielten zusammen und am Ende hat uns die böse Hexe nicht gefressen.

Manchmal frage ich meine Klienten, was denn ihr Lieblingsmärchen ist. Das erzählt mir viel über ihre Kindheit, ihre Erfahrungen und ihr Wesen. Märchen sind wunderbare Projektionsflächen für unsere Sicht von uns selbst und der Welt, für unsere Identifikationen, unsere Träume und Wünsche. Noch aufschlussreicher ist es, wenn ich frage: Wer sind sie selbst in ihrem Märchen?
Die Heldin, der Held, der Zauberer, die gute, die schlechte Fee? Die böse Stiefmutter, Aschenbrödel, Schneewittchen, Gold-oder Pechmarie?

Wer wir sind und wer wir sein wollen ist nicht immer deckungsgleich. Wir wollen oft etwas sein, was wir nicht sind. Helden vielleicht und in uns sitzt ein kleiner Angsthase, der gar nicht heldenhaft durchs Leben hoppelt, sondern sich klein fühlt und hilflos und schnell weghoppelt, wenn es gefährlich wird. Oder wir möchten die gute Fee sein und innen wohnt die Hexe, die herausspringt und achtlos Dinge und Beziehungen zerstört. Oder wir möchten der allmächtige Zauberer sein, der weise ist und immer klaren Geistes und in sich ruhend, und drinnen wohnt ein unfreiwilliger Held, der auszieht um das Fürchten zu lernen.

Das eine schließt das andere aber nicht aus. In jeder Märchenfigur, in jedem von uns gibt es mindestens zwei Seiten und noch viele andere mehr. All diese Seiten führen ein Eigenleben. Nicht immer so wie wir es bräuchten, damit sie hilfreich für uns sind. Und immer wieder kämpfen sie auch miteinander, gegeneinander, gegen andere oder gegen widrige Lebensumstände. Es ist ein ständiger Kampf.
Es ist okay. Keine Figur, kein innerer Anteil ist nur gut oder nur schlecht. Wir können ihn ablehnen oder akzeptieren und in Mitgefühl für uns selbst wandeln. Wir sind vollkommen in unserer Ganzheit, auch in dem, was wir nicht sein wollen. Dann endet der Kampf.
Das Leben ist kein Märchen.
Aber wie im Märchen passieren uns Dinge, von denen wir glaubten, sie könnten uns niemals passieren. Gute und ungute.
Und dann? Dann leben wir sie. Als Held, als Zauberer, als Fee, als Aschenbrödel, als Hexe, als was auch immer da in uns lebendig wird.

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