Donnerstag, 31. August 2023

Starre


 
Starre
Stillstand.
Feststecken.
Nichts geht vorwärts.
Keine Entwicklung.
Starre.
In diesen Zustand geraten wir, wenn wir Probleme nicht lösen oder sie ignorieren. Probleme, die wir ignorieren, lösen sich nicht von selbst. Sie haben die Tendenz größer zu werden, wenn wir sie nicht beseitigen. Sie werden zu einer erdrückenden Last. Sie wachsen uns über den Kopf. Irgendwann stecken wir darin fest.
Den Zustand des Festeckens und der Starre zu lösen ist schwer, wenn wir nicht wissen, warum und wodurch er entstanden ist, woran es fehlt, was wir korrigieren und was wir unterlassen müssen.
Deshalb ist es wichtig diesen Zustand zu erforschen.
Wir müssen die Gründe kennen, die in die Starre geführt haben, ehe wir sie auflösen können, wir müssen an den Anfangspunkt zurück, an den Kern, die tiefliegende Ursache. Dorthin wo wir träge und unachtsam wurden, wo wir verdrängt haben, wo wir dachten, das wird schon, ich muss nichts tun, wo wir mit dem Verleugnen und Ignorieren begonnen haben.
An die Stelle der Ignoranz, der Verdrängung und der Trägheit, die zur Starre geführt haben, müssen Entschlossenheit und Bereitschaft zur Lösung treten, um uns aus der Starre zu befreien.

Montag, 28. August 2023

Aus der Praxis: Du wirst da rauskommen

 

                                                              Foto: A.Wende


Der Weg aus der Co-abhängigkeit ist alles andere als einfach. Wenn die Trennung vollzogen ist, kommt eine weitere Herausforderung. Der Mittelpunkt um den sich das eigene Dasein gedreht hat existiert nicht mehr. Es ist so, als hättest du den Entschluss gefasst nicht mehr zu trinken und jetzt weißt du nicht, was du mit der Leerstelle in deinem Leben anfangen sollst, weil dein Suchtmittel fehlt.
Du bist auf Entzug.
Der Gedanke, endlich hat das Drama ein Ende, mag dich Erleichterung erfassen und Stolz, dass du diese Entscheidung endlich getroffen hast. Dein Kopf hat erkannt, dass du deine Energie in Vergeblichkeit gesteckt hast, dass du deine Träume in ein totes Meer geworfen hast. Dein Kopf hat erkannt, dass der andere dir nicht gibt, was du dir wünscht, dass der andere nicht bereit ist an sich selbst und an der Beziehung zu arbeiten, sondern seine Muster immer weiter lebt mit einem: Du musst dich ändern!
Du hast an dir selbst gearbeitet in der Hoffnung, wenn du dich änderst, ändert sich auch der andere. Du hast deine Baustellen bearbeitet und der andere hat nichts erkannt und nichts bearbeitet. Du hast schließlich begriffen, dass die Beziehung dir schadet, emotional, seelisch, geistig und körperlich.
Du hast begriffen, dass euer Drama keine Katharsis hat, sondern unaufhaltsam in die Zerstörung driftet. Du hast entschieden, dass du jetzt alleine weitergehen musst um nicht zu zerbrechen und das Drama für dich beendet.
Und jetzt wird alles besser, denkst du. Du bist frei, denkst du.
Du bist es nicht. 
 
Wenn die Trennung vollzogen ist, kommt eine weitere Herausforderung.
Da wo es intensiv, aufregend, anstrengend, erfüllend, lustvoll, leidenschaftlich und schmerzhaft war, ist jetzt nichts.
Nichts, nur das große schwarze Loch voll mit Trauer, Verzweiflung, Wut, Angst und Schmerz.
Voll mit Fassungslosigkeit, wie du dich so hast selbst aufgeben können. Voller Enttäuschung, dass der andere deine Liebe und alles, was du ihm geschenkt hast, nicht nehmen konnte und schon gar nicht zurückgeben. Voller Entsetzen, dass deine anfangs so schöne Liebe, dieser wunderbare Mensch nicht dein Mensch war, dass du die Täuschung nicht durchschaut hast und als du sie durchschaut hast, nichts in deiner Macht lag, um den wunderbaren Menschen eures Anfangs aus der Vergangenheit in dein Jetzt zu holen.
Das hast du lange nicht begriffen und dir selbst immer wieder Sand in die Augen gestreut, um blind vor Liebe, gefangen in Abhängigkeit, dein Scheitern nicht ertragen zu müssen, den Menschen, der einst so wunderbar war, nicht loslassen zu müssen.
Es ist doch mein Seelenpartner!, gefühlt und Nächte durchgeheult und gelitten wie ein Hund, weil er es doch nicht ist und du es doch geglaubt hast. Bis zum bitteren Ende hast du es geglaubt und auf das Wunder gehofft, dass niemals kam.
Fassungslos bleibst du zurück und diese Fassungslosigkeit fühlt sich an wie etwas, das du kennst, etwas das genauso alt ist wie du.
Das kann nicht sein!
Es kann nicht sein, dass du Liebe gibst, der Liebe Willen alles von dir gibst, dich selbst gibst, bis nichts mehr von dir übrig ist. Es kann nicht sein, dass du um Liebe bettelst, sie auf dem Silbertablett hinhälst: „Schau her was ich für dich tue, du musst mich doch lieben!“ und man gegen das Tablett tritt, dass es dir krachend um die Ohren fliegt.
Es kann nicht sein, dass du dich verbiegst, alles erträgst, alles verzeihst. Es kann nicht sein, dass deine Liebe genommen wird und dann in die Abstellkammer verbannt, bis man sie wiederhaben will.
Wieder einmal. Du kennst es schon.
Du hast weder Silent Treatment, noch Schuldumkehr, noch Abwertung, noch Bestrafung, noch Lüge und Betrug, als das erkannt, was sie waren, sondern dir alles irgendwie schöngeredet und ausgeblendet um deinen Seelenpartner nicht zu verlieren und das, was er und euer Leben hätte sein können.
War aber nicht. Weil es nicht sein konnte.
Und jetzt?
 
Alles was dich angetrieben hat, was dich beschäftigt, was dein Sinn war, dein Universum, dein Leben war und ausmachte, ist fort. Du allein bist übrig und du hast erst mal nur dich selbst.
Du, dieses Häufchen Elend, das nicht einmal mehr weiß, wer oder was es ist, das sich sucht und nicht mehr findet, das sich verloren hat auf der zermürbenden Reise ins vermeintliche Glück.
Du bist rotzunglücklich. Es fühlt sich an als müssest du sterben und es gibt Momente da wärst du lieber tot, als das was jetzt ist, aushalten zu müssen.
Weil der Schmerz unbeschreiblich ist, weißt du gar nicht wie ihn fassen. Du suchst nach Worten und findest sie nicht und Trost findest du schon gar nicht, denn das, was du bist, ist untröstlich.
Willst nicht mehr leben, weil es so weh tut. Willst SO nicht mehr leben.
Du hast dein Liebstes verloren, dein Leben!, schreit dein Herz, denn das fühlt überhaupt nicht, was dein Verstand sagt: Hör auf damit, es war keine Liebe es war Abhängigkeit. 
Wenn es weh tut ist es keine Liebe!
 
Für dich war es Liebe und du hast alles dafür getan sie nicht zu verlieren, zu viel von Allem.
Wenn schon du so viel Lebenskraft hineingegeben hast, willst du sicher sein, dass das Objekt deiner Investition für immer dir gehört. Dabei hast du vergessen, dass dir nichts und niemand gehört und nichts für immer ist.
Aber man hat dir doch gesagt: „Für immer und immer."
Du hast es doch gehört. Und du hast es geglaubt. Weil du es glauben wolltest.
Tief drinnen hast du gespürt, dass es so nicht sein wird. Es weiter geglaubt, gegen dein Spüren und fällst jetzt aus allen Wolken, wenn das Geglaubte sich als Illusion erweist.
Selbstbetrug!
Du hast dich selbst betrogen und das ist das Schlimmste.
Davon erholst du dich noch schwerer als vom Verlust deiner Liebe. Selbstbetrug!
Davon erholst du dich noch schwerer als vom Verlust deiner Liebe, weil du doch weißt, dass du dir nur selbst vertrauen kannst und dann die Wahrheit: Ich mir also auch nicht.
Du sinkst tief in Scham, in Selbstvorwurf, in Selbstvernichtung. Sinkst tief und tiefer in den Schmerz des Betrogenen, dessen Betrüger du selbst bist. Du sitzt in der Hölle und es brennt im ganzen Körper und der Schmerz ist unerträglich.
Du weißt es geht jetzt ums Aushalten, nur ums Aushalten. Es kostet dich all deine Kraft. Für nichts anderes ist da mehr Kraft.
Aushalten, bis du die Hölle wieder verlassen kannst, durch welche Tür auch immer.
Du wirst da rauskommen.
Vertrau dir jetzt!
Es gibt diese Tür.
Wenn Du sie alleine nicht findest, such dir Hilfe.


Freitag, 25. August 2023

Aus der Praxis: Langeweile

 

                                                                 Foto: www

 
„Ich habe es mir doch anders vorgestellt. Es sollte anders sein als es ist. So wie es ist, ist es nicht gut, nicht richtig, nicht das Leben, das ich wollte. Ich sitze mutterseelallein hier. Niemand, der diese Langeweile vertreibt, die mich anfällt an diesen langen Abenden, an diesen langen Wochenenden mit mir allein. Ich hab keinen Bock mehr."
Diese Worte höre ich öfter in der Praxis. 
 
Langeweile, es geschieht nichts.
Zäh fließt die Zeit dahin. Die Uhr tickt und nicht geschieht. Der Blick auf das ereignislose Vergehen der Zeit macht müde, passiv. Noch mehr Langeweile. Zu nichts kannst du dich aufraffen, willst Dinge tun und kannst nicht, nichts, was dich inspiriert, nichts, was dich erfüllt, alles öde. Freude?, schon lange nicht mehr gespürt, geschweige denn das Gefühl von Lebendigkeit. Müde Langeweile, die in Überdruss mündet. Des Lebens überdrüssig, deiner selbst überdrüssig. 
 
Langeweile ist gnadenlos.
Sie zeigt, dass wir nichts mit uns selbst anfangen können. Dass es nichts gibt, was uns genug Sinn verleiht, um aktiv zu werden. Wir sind nicht in der Lage, uns um die Teile unseres Selbst zu kümmern, die genährt werden möchten. Eine tiefe Verbindung mit uns selbst fehlt.
Manchmal setzt diese Langeweile ein wenn wir um einen Verlust trauern ein. Leiser schon, breiter schon ist der Schmerz, wenn wir in die erdrückende Leere des Raumes blicken, wo zuvor ein anderes Leben war, mit uns, in diesem Raum. Und der Raum war weit. In der Langeweile wird der Raum eng, wir werden eng, Innen, und still. Stille. Stille ist gut. Zu viel Stille ist nicht gut.
Zu viel Stille – die Abwesenheit von Lebendigkeit, die wir allein mit uns selbst nicht spüren.
 
Langeweile ist nicht Müßiggang, der uns Ruhe, Entspannung und inneren Frieden schenkt. Langeweile gleicht vielmehr dem Untergang in unheilsames Nichtstun.
Wir werden gleichgültig. Nicht im Sinn von: alles ist gleich gültig, im Sinne von: Nicht mehr betroffen, nicht mehr bewegt, nicht mehr berührt sein, von nichts mehr, nicht einmal mehr von uns selbst.
Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit, Trägheit, Schläfrigkeit, Starre, Unzufriedenheit, Nörgeln, emotionaler Stress, sind die Begleiter der Langeweile. Kein Wozu, kein Wofür ist attraktiv genug uns aufzuwecken aus der müden Langeweile.
Was soll´s, eh alles egal. Nichts mehr von Relevanz.
Was ich will, bekomme ich nicht, also will ich nichts mehr, meldet sich der Trotz unseres inneren Kindes, das geliebt, gesehen, umsorgt werden will.
Spielen? Mit wem? Keiner da.
Spielen allein? Langweilig.
Kein Bock mehr, kein Bock auf Nichts.
 
Langeweile schreit: Verändere etwas!
Tun wir das nicht, kann sie im Bore-out, in Süchten und in der Depression enden.

Donnerstag, 24. August 2023

Koheränz & Klarheit und die entscheidene Frage: Was ist meine Absicht?



Sorgen, Ängste, Grübeln und das ewige Gedankenkarusell schaffen ein Affengeschnatter, statt Stille im Kopf. Die Folge: Wir sind nicht klar. Wenn aber unser Geist nicht klar und kohärent ist, haben wir es schwer mit uns selbst und wir haben es schwer unser Leben nach unseren Wünschen, Fähigkeiten und schöpferischen Potenzialen zu gestalten. 
 
Der Begriff Koheränz kommt aus dem lateinischen "cohaerere" und bedeutet: zusammenhängen. Koheränz heißt: Wir sind im inneren Gleichklang und im Einvernehmen mit uns selbst.
Unsere Gedankengänge sind in sich logisch, zusammenhängend und nachvollziehbar. Wir können Zusammenhänge erkennen und herstelllen und das große Ganze sehen. Wir sind fähig komplex zu denken und die Dinge einzuordnen. Wir vertrauen darauf unser Leben gestalten zu können und Herausforderungen bewältigen zu können. Wenn wir ein Gefühl der Kohärenz haben sind wir in der Lage Belastungen und Krisensituationen angemessen zu bewältigen indem wir u.a. fähig sind die dafür vorhandenen inneren und äußeren Ressourcen auszuwählen und für uns zu nutzen. Ist unser Geist kohärent, empfinden wir eine stimmige Verbundenheit zwischen uns selbst und der Welt.
Wir sind der Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat, den wir ihm selbst verleihen. 
 
Klarheit bedeutet: Unser geistiger, unser emotionaler Zustand und unser Körperbewusstsein sind im Einklang. Wir sind klar im Denken und Fühlen, wir treffen klare Entscheidungen, denen klare Handlungen folgen. Wenn wir klar sind ist unsere Wahrnehmung der Dinge ungetrübt. Wir sind offen und nehmen bewusst wahr was ist, ohne die Beimischung von Spekulationen, Interpretationen, Projektionen und Übertragungen. Wir sprechen klar aus, was wir denken, wir sind ehrlich und wahrhaftig uns selbst und anderen gegenüber. Wir spielen keine Spielchen und machen uns selbst und anderen nichts vor. Wir sind verantwortungsbewusst und zuverlässig. Ein klarer Geist ist innerlich ruhig und sich seiner Selbst sicher.
 
Klares Bewusstsein wächst durch Gewahrsein.
Gewahrsein erlangen wir über die Verinnerlichung der Haltung der Achtsamkeit. Wenn wir fähig sind den Augenblick mit allem was sich in ihm zeigt, ohne Wertungen und Urteile anzunehmen, gelingt dieser Zustand.
Eine hilfreiche Frage um zu mehr Koheränz und Klarheit zu gelangen bevor wir reagieren und handeln ist: Was ist meine Absicht? Es kommt nicht darauf an, was wir tun, es geht darum, mit welcher Absicht wir es tun. Es geht um eine glasklare Intention.
Nur wer sich über seine Absicht klar ist, handelt bewusst.
Es ist kein einfacher Weg, klar zu werden, aber wenn wir diesen den Weg gehen, wird uns unsere Klarheit mit der Zeit tragen. Wir handeln eins mit uns selbst und mit der Welt, die uns umgibt. 
 
 
"Je höher gesteigert das Bewusstsein ist, desto deutlicher und zusammenhängender die Gedanken, desto klarer die Anschauungen, desto inniger die Empfindungen. Dadurch gewinnt alles mehr Tiefe."
 
- Arthur Schopenhauer 

Samstag, 19. August 2023

Unbewusste Vereinbarungen

                                                                 Foto: A.Wende
 
 
Im Außen begegnet mir meine Umwelt. Es ist meine Umwelt, die mir begegnet und umgekehrt begegne ich meiner Umwelt. Der Ort an dem ich wohne, die Plätze die ich besuche, die Läden in die ich gehe, der Kreis in dem ich mich bewege, Menschen mit denen ich verbunden bin, meine Beziehungen, meine Bezugspersonen - all das formiert meine Umwelt.
Ich bin ein Teil dieser Welt, ich bin eng mit ihr verbunden.
Und ich definiere mich über diese Verbindungen.
Sie beeinflussen meine innere Gestimmtheit. Sie beeinflussen mein Bild von Welt und die Brille durch die ich die Welt wahrnehme.
Das diese Welt nur ein Mikrokosmos ist, übersehe ich, je enger ich mit meiner Umwelt verbunden mit und je mehr ich mit ihr identifiziert bin. Ganz offenbar haben meine Umwelt und die Menschen darin, etwas mit mir zu tun. Ich gehe mit ihnen in Resonanz und sie mit mir. Die Erfahrungen, die ich mache, sind resonante Erfahrungen. 
Es kann geschehen, dass ich so in meiner Umwelt verhaftet bin, dass ich mir der Grenze nicht mehr bewusst bin, die zwischen mir und ihr verläuft, die Grenze, an der die Ansprüche und Erwartungen meiner Umwelt an mich enden. Über eine lange Zeit sind unbewusste Vereinbarungen und Verpflichtungen entstanden, denen ich wie ein Automat folge. Ich spule die immer gleichen Programme ab. Und vielleicht wundere mich, dass die Dinge sich hartnäckig weigern, sich so zu entwickeln, wie ich mir das wünsche und ein Leben, wie ich es mir wünsche, einfach nicht stattfindet.
 
Unsere unbewussten Vereinbarungen haben etwas damit zu tun, dass wir nicht erfahren haben, wie man anders lebt als der Rest. Wir leben unreflektiert all die Muster weiter, die uns unsere Eltern und unser soziales Umfeld vorgelebt haben und Tag für Tag vorleben. Unser Lebenspanorama ist eng, sehr eng.
Und irgendwann können wir es nicht mehr spüren, dieses Ich, das wir sind. Wir sind so sehr identifiziert mit unserer Umwelt, dass wir unsere Ich-Grenze nicht definieren können. 
 
Ein Ich, das seine Grenze nicht definieren kann, lebt auf der Oberfläche. Alles was darunter liegt, wird nicht mehr oder kaum noch wahrgenommen. Alles was die Welt an einem Meer von Möglichkeiten bietet liegt in weiter Ferne, es wird nicht mehr als greifbar erlebt. Wir bewegen uns in unserem begrenzten Mikrokosmos und bleiben darin stecken. Unsere Träume verblassen und wir im Zweifel mit ihnen. Wir verkümmern wie eine Blume, die keine gesunde Nahrung bekommt in einer grenzenlosen Wüste.
Ich allein bin es, der diese Grenze definiert.
Und definieren kann ich meine Grenze nur, wenn ich das Ich, das ich bin, spüren kann.
Erst wenn ich mir klar darüber werde, was ich bisher unbewusst getan habe und es verstehe, habe ich auch die Wahl zu entscheiden, wo ich meine Grenzen setze, wo ich eine neue bewusste Vereinbarung für mich selbst, meine Umwelt und meine Beziehungen treffe.

 
 
“When a flower doesn't bloom, you fix the environment in which it grows, not the flower.”
- Alexander Den Heijer

Dienstag, 15. August 2023

Aus der Praxis: Perfektionismus

 



Wir leben in einer Zeit der Selbstoptimierung. Wohin man sieht, hört und liest, geht es darum besser zu werden, als wir sind. Die Regale der Buchhandlungen sind voll von Ratgebern, die uns "vorschreiben" wie wir zu sein haben um im Leben erfolgreich und glücklich zu sein. Life-Coaches vertönen allerorten: Du musst nur deine Gedanken kontrollieren und beherrschen und du schafftst alles was du willst, kannst alles sein, was du willst, kannst alles heilen und bist glücklich. Und zeitgleich sind immer mehr Menschen unglücklich. Sie drehen sich ständig um sich selbst. Beziehungen werden immer schwieriger und die soziale Kompetenz schwindet.
"Der Mensch wird am Du zum Ich", schrieb einst Martin Buber. Ganz im Gegensatz zu jener Zeitgeistlebenshaltung, die voll ist mit: „Ich, ich, ich."
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung", schreibt Buber weiter. Tatsache ist: Die vorherrschende Begegnung vieler Menschen ist die mit sich selbst, die anderen sind oft nur der Spiegel, der sie reflektieren soll und das im besten Licht, bitte.
 
Nichts gegen eine gute Beziehung mit uns selbst, ich bin absolut dafür. Sie ist wichtig um mit uns selbst und anderen gut zu sein, aber wer sich ständig nur um sich selbst dreht, tut sich nicht gut und anderen schon gar nicht. Er wird zum Mittelpunkt der Welt und nimmt, was um ihn herum ist, nicht mehr wahr. Seine Gedanken kreisen ständig intensiv um sich selbst. Er ist ständig bemüht besser, erfolgreicher, schöner, anerkannter, gesünder, erwachter, gewissenhafter, fehlerloser zu sein als der lahme Rest und als er es in Wahrheit ist. Er will alles sein nur bitte kein Mittelmaß, das empfindet er als persönliches Scheitern, denn dies entspricht er nicht seinem Idealbild von sich selbst. 
 
Willkommen in der anstrengenden Welt des Perfektionismus! 
 
PerfektionistInnen haben hohe Standards und streben ständig nach einem Ideal-Selbst. Ihre Gedanken kreisen unablässig darum, dieses zu erreichen. Und: sie wollen auch in den Augen anderer als perfekt gelten. Gelingt das nicht kritisiert und nörgelt der perfektionistische Mensch an sich herum, macht sich nieder und beklagt sich über alles, was nicht perfekt ist. Nichts ist gut genug, schon gar nicht er selbst. Er ist unzufrieden, weil ihm die optimale Selbstverbesserung trotz aller Bemühungen nicht gelingt. Fakt ist: Das Perfekte gibt es nicht. Nobody is perfect!
Das kann er aber nicht akzeptieren, also strengt er sich immer mehr an. Aber egal was er tut, nichts und niemand macht ihn zufrieden und nichts ist ihm genug, vor allem, er sich selbst nicht. Was immer sie auch erreichen mögen, selbst die Bewunderung und Anerkennung anderer, es wird PerfektionistInnen nie zufriedenstellen. Perfektionsversessene Menschen sind erfüllt von einem krankhaften Ehrgeiz. Sie möchten alle übertrumpfen, um die Erwartungen an sich selbst und die vermeintlichen Erwartungen anderer zu erfüllen. Hinter diesem Verhalten steckt das zwanghafte Bedürfnis etwas Besonderes zu sein. Bloß kein Durchschnitt, bloß kein Mittelmaß!, das ist eine der größten Ängste von PerfektionistInnen. Um diese Angst nicht fühlen zu müssen, treibt das Ziel immer besser zu sein, es immer besser zu machen, Tag für Tag aufs Neue an.
 
Woher kommt das?
Perfektionismus hat seine Wurzeln in der Angst, nicht gut genug zu sein, in der Angst, was andere über einen denken könnten, in der Angst, so wie man ist, nicht geliebt, wertgeschätzt oder akzeptiert zu werden, in der Angst vor Kritik, der Angst vor Minderwertigkeit und deren vermeintlichen negativen Konsequenzen. Urgrund dieser Ängste sind tief verinnerlichte hohe Erwartungshaltungen der frühen Bezugspersonen, dauerhaft erlebte elterliche Kritik und/oder der permanente Vergleich mit anderen, die besser sind als das eigene Kind. Neueste Untersuchungen gehen sogar davon aus, dass der Hang zum Perfektionismus in den Genen liegt. Zum Perfektionismus neigen Menschen mit neurotischen, narzisstischen oder zwanghaften Zügen. Diese Menschen genügen sich selbst nicht. Und sie sind nie genug um sich selbst zu akzeptieren wie sie nun mal sind. Perfektionismus hat psychische Folgen: Diese Menschen stehen ständig unter Druck, sie neigen zu Depressionen und zum Burn-Out. 
 
Wie kann diesen Menschen geholfen werden?
Vorrausgesetzt sie wollen es.
Zur Bewältigung eines dysfunktionalen Perfektionsstrebens braucht es eine Therapie. Hier wird erlernt, das Perfektionismusstreben aufzugeben und sich selbst anzunehmen wie man ist. PerfektionistInnen dürfen lernen, ihr tatsächliches Potenzial und ihre tatsächlichen Fähigkeiten zu erkennen und wertzuschätzen, anstatt alles perfekt machen zu wollen. Sie dürfen lernen, dass Fehler menschlich sind und nichts über den Eigenwert aussagen. Sie dürfen lernen, dass Mittelmaß nichts Bedrohliches und nichts Verwerfliches ist. Dazu gehört Demut. Die größte Herausforderung in diesem Prozess aber ist: die panische Angst loszulassen, so wie man ist, nichts wert zu sein.

Sonntag, 13. August 2023

Rückwärst und vorwärts


                                                                     Foto: www
 
 
„Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts, doch leben muss man es vorwärts“, schrieb der Philosoph Søren Kierkegaard.
Wie Recht er hat. Wir sind voll von unzusammenhängenden Erinnerungen und Bildern unserer Vergangenheit. Alles Erlebte und Gelebte ist in unserem System gespeichert. Die Vergangenheit ist der Urgrund, in dem wir wurzeln und aus dem heraus wir wachsen und uns ins Jetzt entfalten. Einiges ist uns bewusst und das Meiste ist uns unbewusst. Aber alles, was wir von Beginn unseres Lebens an erfahren und gefühlt haben, bestimmt unsere innere Gestimmtheit und damit wie wir die Ereignisse in unserem Leben erleben, erfühlen und deuten.
Unser Unbewusstes ist ein Keller voller Chaos. Und es gibt in diesem Keller auch Schätze zu finden. Dazu müssen wir uns wohl oder übel in den Keller begeben, das Chaos aufräumen und sortieren um Klarheit über uns selbst zu erlangen. Wir müssen, was wir vorfinden, sortieren. Das ist viel Arbeit und das kann dauern. Nach und nach schaffen wir es Ordnung zu machen. Endlich begreifen wir warum wir sind, wer wir sind, denken wie wir denken, fühlen wie wir fühlen und handeln wie wir handeln. Wir werden filtern müssen, bis wir sehen und verstehen können, was wirklich passiert ist. Wir differenzieren unsere Gedanken von denen, die nicht die unseren sind von denen, die die unseren sind, wir unterscheiden Tatsachen von Annahmen und Interpretationen. Wir klären Beziehungen und ordnen unsere Gefühle. Wir entlarven Glaubenssätze, Konditionierungen und Programmierungen. Wir erkennen Traumata und unsere emotionale Reaktion darauf. 
 
Es braucht viel Mut, innere Kraft und Geduld um die Verwirrung zu entwirren, die wir in unserem inneren Keller vorfinden. Und es braucht viel Zeit die Dinge zu entmachten, die uns das Leben und den Umgang mit uns selbst bisweilen so schwer machen.
Manchmal mitten in unserer Aufräumaktion kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein „Aha“ Moment. Diese „Aha“ Momente sind zum Erkennen und Verstehen gedacht. Sie bedeuten nicht: Jetzt wird alles anders, weil wir denken jetzt müssen wir sofort auf irgendeine Weise etwas damit machen.
Wir müssen nicht.
 
Was wir erkannt haben braucht Zeit um sich aufzulösen. Es muss nachwirken und in uns wirken bis wir es verinnerlicht haben. Es muss integriert werden, um uns nicht mehr zu beherrschen. Wir können rational noch so viel Klarheit erlangt haben, es gibt den Zusammenhang des Geistes mit unseren Emotionen und die sind stärker als jede Klarheit. Unsere Emotionen sind wie Magneten, die uns immer wieder in den Urgrund zurückziehen. Wir wissen vieles und wir schaffen es nicht diesen Anziehungen nicht nachzugeben. Wir schaffen es nicht ihnen Einhalt zu gebieten. Es braucht wieder große innere Kraft, immense Disziplin und Geduld um diesem Magnetismus gegenzusteuern und uns aus ihm zu lösen.
Wir müssen das Leben vorwärts leben, ein Zurück gibt es nicht und dennoch ist es schwer nicht immer wieder zurückzufallen. Das dürfen wir akzeptieren und uns Zeit geben.
Es braucht Zeit um zu Seelenfrieden zu gelangen.
 

Freitag, 11. August 2023

Follow your Bliss!

 

                                                                Foto: A.Wende

 
Der Suchende wir niemals finden, wenn er an einer Erwartung festhält. Er sieht das Offensichtliche nicht, weil er die Brille der Erwartung trägt und nicht loszulassen kann.
Freiheit beginnt da, wo wir unsere Erwartungen loslassen. Wir können die Fülle an Möglichkeiten erst erkennen und finden, wenn wir uns entspannen und offen sind, wahrnehmen was ist und in Resonanz mit dem Leben gehen.
Das heißt nicht, dass wir keine Träume und keine Ziele haben, uns einfach treiben lassen oder passiv dabei zusehen wie das Leben an uns vorbeizieht. Ohne Träume und Ziele gelangen wir nirgendwohin, gestalten wir nichts, wird nichts erschaffen. Es geschieht keine Weiterentwicklung. Ein Mensch, der keine Ziele hat, ist wie ein Blatt, das auf dem Fluss dahintreibt. Er ist fremdbestimmt. Bewegt vom Außen. Passiv.
 
Gestern sagte ein Klient zu mir: "Ich habe keine Träume mehr und keine Ziele. Ich weiß nicht mehr wohin mit mir? Ich will nur, dass es wieder wird wir es war. "
Er steckt fest in seiner Erwartung. Aber es gibt kein Zurück. Das weiß er. Wie weitermachen? Das weiß er nicht.
Wenn wir in unseren Erwartungen feststecken, unsere Träume begraben haben und keine Ziele mehr haben, wie finden wir sie wieder?
„Follow your Bliss“, (folge deiner Freude), schreibt Joseph Campbell in „The Heros Journey.“
Leicht gesagt.
Viele Menschen wissen gar nicht (mehr) was ihnen Freude macht. Sie sind so voller Erwartungen wie etwas zu sein hat, dass ihre Freude unter den Erwartungen begraben liegt. Dann ist das erste kleine Ziel diese Freude wiederzufinden, indem wir uns an das erinnern, was wir als Kind voller Hingabe gemacht haben, was uns damals Freude gemacht hat, und es dann tun. Egal wie kindisch oder sinnfrei es uns vorkommen mag. Wir tun es. Jeden Tag ein bisschen. Und mit jedem bisschen wird es mehr. Und die Freude kommt zurück. Mit der Freude kommen wir uns selbst näher und entdecken die Möglichkeiten, jenseits unserer Erwartungen.

Montag, 7. August 2023

Leben

 


                                                                     Foto: A.Wende
 
 
Ständige Geschäftigkeit, ewiges Funktionieren, Stress, Selbstüberforderung, das Sorgen und Kümmern um andere, das Anhaften an Dingen, die wir zu brauchen meinen - all das enthebt uns der Verantwortung wirklich lebendig zu sein und unser Leben nach sinnhaften Werten zu gestalten, Werte im Sinne von Vorstellungen davon, was unser Leben lebenswert macht.
Es ist kein Wunder, dass immer mehr Menschen seelisch verkümmern, dass Depressionen und Angst- und Suchterkrankungen zunehmen.
Viele Menschen sind voller Frust, Wut und innerer Leere ob der ständigen Überanstrengung, die die Wahrnehmung dessen, was wirklich zählt, einschränkt. Zählt das neue Auto, die nächste Reise, das teure Abendessen, das neue Outfit, das neue Handy und, und, und? Zählt das wirklich, macht das glücklich oder nachhaltig zufrieden?
Nein, sagt die Erfahrung vieler Menschen und dennoch machen sie mit ihrem sinnlosen Streben weiter, den Fokus auf Dinge gerichtet, die scheinbar ein Leben ausmachen, weil sie glauben dieses Leben entspricht ihrer Identität. Viele von uns aber leben in einer Identität, die unserem wahren Wesen nicht entspricht und diesem Bild von uns selbst folgen wir oft ein Leben lang. Ist das Meiste dieses Lebens gelebt, kommt dann die ernüchternde Frage: War das alles? Soll es das gewesen sein?
Nein, das kann nicht sein.
Die gute Nachricht: Das muss nicht sein.
Identitäten lassen sich verändern und neu formieren, ebenso wie sich Werte und Sinn neu suchen, finden und in unser Leben intergrieren lassen. Schon die Vorstellung davon führt dazu, dass wir anders zu denken anfangen und demzufolge, im besten Falle, anders handeln.
 
"Eine Vorstellung ist nur wahr, solange es für unser Leben nützlich ist, sie zu glauben", schreibt William James.
Ein weiser Impuls der mich zum Nachdenken anregt:
Welche Vorstellungen habe ich von einem gelingenden Leben?
Was gehört dazu?
Wie kann ich das im Rahmen meiner Möglichkeiten realisieren?
Schon bei diesen Fragen stellt sich bei manchem eine innere Abwehrhaltung ein.
Oha, da müsste man dann ja ziemlich viel verändern.
Ja, müsste man.
Und dabei könnte auch so einiges an Gewohnheiten wegfallen. Nichts gegen Gewohnheiten. Gewohnheiten haben Bedeutung für unsere Lebensführung. Gewohnheiten bedürfen keines großen Kraftaufwands, sie geben uns Halt, weil sie von Verlässlichkeit geprägt sind. Sie können uns auffangen und sorgen für Vertrautheit.
Aber nicht alle Gewohnheiten sind uns dienlich. Manche schreien geradzu danach, dass wir sie durchbrechen, das sind die, die unheilsam sind. Welche das sind wissen wir.
 
Daher macht die Frage Sinn: Sind meine Gewohnheiten alle nützlich für mein Leben oder sind sie eher eine Art Ablenkung von mir selbst? Führen so manche Gewohnheiten nicht vielmehr dazu, dass ich mich selbst nicht wahrnehme, meine wahren Gedanken und Gefühle, die da unter der Macht der Gewohnheit schlummern?
Uns selbst wahrnehmen um uns selbst nicht weiter zu schädigen. Darum geht es.
Deshalb ist es so wichtig achtsam auf unsere Gefühle zu hören und sie wertzuschätzen, als Seismograf dafür, wie es uns wirklich geht. Um uns selbst zu bejahen und das, was uns fehlt, zu erkennnen. Und das ist sicher nicht das neueste Handy und auch nicht der nächste Urlaub. Das ist auch nicht, stets die Erwartungen unserer Umwelt zu erfüllen um uns gut zu fühlen.
"Mein Leben lang versuchte ich "gut" zu sein, um geliebt zu werden. Es wird aber niemand dafür geliebt, dass er gut ist, er wird vielleicht bewundert, manchmal auch belächelt, benutzt oder sogar abgelehnt. Ich habe versucht, es allen recht zu machen, und bekam immer zu wenig. Und jetzt ist da ein Loch und ich weiß nicht, womit ich es füllen soll."
Das sagte neulich ein Klient zu mir. 
 
Viele von uns würden dieser Aussage spontan zustimmen. Viele von uns tun ständig was anderen gut tut, viele von uns vernachlässigen was uns selbst gut tut. Und plötzlich stehen wir da, den Anderen geht es prima und wir selbst sind ausgelaugt und blicken in eine große Leere. Die Kinder brauchen uns nicht mehr, die Familie hat sich entfremdet, der Partner hat sich vom Acker gemacht, der Job ist auch nicht mehr das Gelbe vom Ei - das Loch ist groß. Die alten Gewohnheiten finden keinen Anker mehr an dem sie sich fest machen und der Mensch weiß nicht mehr wozu er da ist.
Für sich selbst sind sie da! Jetzt, erst mal.
"Sie haben eine leere Schale in den Händen und das ist kein Drama. Das ist ein Geschenk", sagte ich zu meinem Klienten, der mich ungläubig anschaute.
Die leere Schale, ein schönes Bild, wie ich finde.
 
Nur eine leere Schale lässt sich füllen. Welch ein Reichtum an Möglichkeiten!
Dazu müssen wir zunächst herausfinden, welche Einstellungen und Glaubenssysteme wir haben, die uns von dem abhalten, was wir wirklich wollen.
Und uns fragen: Warum glaube ich das, was ich glaube?
Dann erst kommen Fragen wie:
Womit will ich die Schale füllen?
Welche Lebensbereiche will ich mit Handlungen füllen, die mein Leben besser machen?
Wohin soll die Reise gehen?
Brauche ich dazu all das, was sich in meinem Leben an Dingen angehäuft hat oder reise ich ab jetzt mit leichtem Gepäck?
Was tue ich nur aus Gewohnheit und nicht, weil es mir gut tut?
Worauf kann ich verzichten?
Und: Welche Erfahrungen will ich künftig machen?
Mit mir selbst und mit welchen Menschen?
 Um diese Fragen zu beantworten ist Bewusstheit und Ehrlichkeit uns selbst gegenüber das Wesentliche.
Nur wer sich selbst würdigt, würdigt auch sein Leben und geht so damit um, dass es auch ein Leben ist.

Dienstag, 1. August 2023

Mit-sich-Allein-Sein: Aus Aushalten wird Hinhören




Die wichtigste Beziehung ist die zu uns selbst. 

Nur kommen wir meist nicht dazu, weil wir uns ständig im Außen bewegen, unter und mit anderen. Wir sind permanent in Beziehung, aber nicht in Beziehung mit uns selbst. Die meisten Menschen finden das normal.  Sie brauchen es sogar.  Sie brauchen immer  den Kontakt mit anderen, sie füllen ihre Tage mit Terminen und Ablenkungen, nur um nicht allein sein zu müssen. Der Grund: Menschen finden durch das, was sie tun, mit denen sie es tun, Halt. Die Kehrseite der Medaille: Sie nicht bei sich selbst und lassen sich treiben. Ihre Aufmerksamkeit ist da und dort, aber bei sich selbst ist sie nicht oder kaum. Vielen Menschen fällt es schwer, sich selbst und die eigenen Gedanken zu ertragen. Das zeigt eine, wie ich finde, erschütternde Studie der University of Virginia. Bei einem Experiment beobachteten die Forscher, dass die Mehrzahl der Teilnehmer sich lieber einen leichten Elektroschock versetzen ließen, als fünfzehn Minuten mit sich allein zu sein.

 

Die Wenigsten halten es nicht mit sich selbst aus. 

Aber es gibt Phasen im Leben da werden wir zum Alleinsein gezwungen. Oder wir wählen es selbst, weil wir merken: So wie es ist, geht es nicht mehr weiter.

Auch das selbstgewählte Alleinsein kann eine Herausforderung sein.

Viele wissen nicht wie und womit sie die Zeit füllen sollen, wenn sie allein sind. Sie wissen nicht, was ihnen Freude macht und was sie gerne tun. Sie haben keine Leidenschaft für nichts. Es fehlt der Drang etwas aus sich selbst heraus zu gestalten. 

Sie haben gelernt zu funktionieren, für andere und sich selbst hinten an gestellt.

Viele wissen nicht einmal, welche tiefen Bedürfnisse sie haben. Manche wissen nicht einmal wer sie sind und was sie ausmacht, allein mit sich selbst. Sie kennen sich nicht wirklich. Oftmals sind sie auch nicht fähig gut für sich selbst gut zu sorgen. Manche haben schon ein Problem damit sich ein gesundes Essen zu kochen, geschweige denn, ein Essen allein zu genießen.

Alleinsein: Nein Danke.  


Eine Weile allein sein geht gerade noch.  

Wir kommen ein wenig zur Ruhe und entspannen. Dauert das Alleinsein länger, kommt die Phase, in der wir mit unseren dunklen Seiten in Kontakt kommen, mitsamt den ungeliebten Erinnerungen, den unerfüllten Sehnsüchten und belastenden Gefühlen wie Trauer, Wut, Schmerz. Und das Schlimmste: Wir müssen es aushalten. 

Wir müssen uns all dem stellen, mitsamt unseren Ängsten. 

 

Genau das ist der Weg zur Selbstfindung: Und uns selbst und unseren Ängsten stellen.

Das Aushalten des „Mit-sich-Allein-Seins" ist eine schwere und zugleich eine heilsame Zeit.

Halten wir es aus, spüren wir nach einer Weile, dass wir entschleunigen. Wir werden langsamer und im besten Falle achtsamer, dem gegenüber, was wir tun und uns selbst gegenüber. Auch unser Gehirn kommt zur Ruhe, sobald wir nicht mehr mit allem Möglichen im Außen beschäftigt sind und der Termindruck wegfällt . Es hat jetzt Kapazitäten frei. Wir lassen unsere Gedanken schweifen. Wir haben den Kopf frei für uns selbst.

Wir fangen an uns zu spüren.

Wir stellen Fragen: Wer bin ich? Was bin ich? Ist das was ich tue, wirklich das, was ich will? Bin ich bei mir oder lebe ich fremdbestimmt? Bin ich am richtigen Ort, mit den richtigen Menschen zusammen? Höre ich mein Innerstes?

Das ist die Phase aus der aus dem Aushalten ein Hinhören wird. 

Wir beginnen die Dinge innerlich zu klären und erlangen Klarheit über unser Leben, das Vergangene, das Gegenwärtige und das Leben, was wir zukünftig gestalten wollen.

In einem gesunden Maße ist "Mit sich Allein- Sein" ein Akt der Selbstfürsorge.

Es ist heilsam uns immer wieder eine Weile in uns selbst zurückzuziehen und uns mit uns selbst zu beschäftigen und mit dem, was unsere Seele wirklich will.