Freitag, 28. Februar 2025

Wer bin ich, wenn ich nicht mehr gebraucht werde?

                                                                Foto: A.Wende
 

Das Leben ist voller Veränderungen und Herausforderungen und immer wieder stehen wir an einem Punkt, an dem wir neu anfangen zu müssen. Ein solcher Punkt ist zum Beispiel eine schwere Krankheit, die uns arbeitsunfähig macht, der Verlust der Arbeit oder auch das Rentenalter.
Kein Zeitdruck, keine Verpflichtungen – unendlich viel Zeit für uns selbst und dann kommt die Erkenntnis, wie bestimmend und wichtig die Arbeit war. Plötzlich fühlen wir uns nutzlos.
Wir fragen uns: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr gebraucht werde?
 
Es kann ein sehr herausforderndes Gefühl sein, nicht mehr gebraucht zu werden. 
Wir empfinden Traurigkeit oder sogar Angst, weil das Gefühl, gebraucht zu werden mit einem Sinn für Zweck, Zugehörigkeit und gesellschaftlichem Ansehen verbunden ist. Das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden kann zu tiefen Selbstzweifeln und zu tiefer Unsicherheit führen und unser Selbstwertgefühl schwer beeinträchtigen. Es fehlt die Tagesstruktur, das soziale Umfeld, das auf der Arbeit basierte, geht verloren. Es fehlen Verantwortung, Einfluss und äußere Anerkennung. Da ist plötzlich so viel Zeit, so viel nichts müssen, so viel Freiheit. 
 
Aber was damit anfangen? Wie die Zeit füllen? Wie die Zeit sinnvoll füllen?
Es muss sinnvoll sein, was wir tun, für die meisten Menschen ist das so. Unser Dasein, so haben wir es von Kindesbeinen an gelernt, muss einen Zweck haben und eine Funktion erfüllen. Nicht mehr gebraucht zu werden kann zum Gefühl der Sinn und Zwecklosigkeit der eigenen Existenz führen. Es kann zu Gefühlen der Leere und der Einsamkeit kommen. Halten diese Gefühle an, gleiten wir in eine Depression.
 
Anpassungsprobleme an neue Lebensumstände sind absolut normal. 
Wie etwas leben und gestalten, was wir noch nie gelebt haben? Damit kennen wir uns nicht aus. Wir müssen es erst lernen. Wir müssen lernen unsere Tage zu gestalten, ohne einer, von außen vorgegebenen, Struktur zu folgen. Wir müssen eigenverantwortlich werden, wir müssen gesunde Kompensationen für das Verlorene finden. Wir müssen Wege finden, das neue Leben so zu gestalten, dass sich Sinn und Zweck unserer Existenz wieder einstellen Wir müssen einen neuen Lebensstil kreieren und eine neue Identität entwickeln.
Keine leichte Aufgabe.
Vor allem, und das ist die schwerste Herausforderung: Wir müssen erkennen und verinnerlichen, dass unser Wert nicht nur von der Rolle abhängt, die wir im Leben und in den Augen anderer spielen. Wir sind mehr als Aufgaben oder Funktionen. Wir sind ein einzigartiger Mensch mit unseren eigenen Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen.
 
Wer bin ich also, wenn ich nicht mehr gebraucht werde?
Eine Antwort kann lauten: Ich bin der oder die, die sich selbst braucht.
Es gibt viele Faktoren, die unsere persönliche Antwort beeinflussen, wie zum Beispiel unsere Biografie, unser Charakter, unser Wesen, unsere seelische Gesundheit, unsere Resilienz, die persönliche Lebenssituation, die finanzielle Lage, die sozialen Kontakte, die Qualität unserer Beziehungen, die Einstellung zum Leben selbst und wie die Bereitschaft aussieht Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
Es kann hilfreich sein, sich auf persönliche Interessen, Hobbys, Leidenschaften, ein Ehrenamt oder unsere Beziehungen zu konzentrieren, um ein Gefühl von Sinn und Identität zu finden, unabhängig von äußeren Umständen und Erwartungen.
Es kann hilfreich sein, vollkommen neue Wege zu entdecken, um uns selbst neu zu definieren und weiter zu wachsen – zu unserem wahren Selbst, dass wir vielleicht niemals entwickeln konnten.
Wir müssen neue Strategien finden, weil die alten nicht mehr funktionieren. Das kann zu Unbehagen führen, denn wir Menschen sind Gewohnheitstiere und vor allem – wir wollen Unbehagen und Schmerz vermeiden. Der Versuch dem Unbehagen und dem Schmerz aus dem Weg zu gehen ist verständlich, aber an diesem Punkt ist es wichtig das Unbehagen zuzulassen, denn nichts verhindert Entwicklung so sehr wie Verdrängung und Widerstand. 
 
Neue Lebensumstände bergen die Chance, alte Gewohnheiten abzulegen und neue zu etablieren. In ihnen liegt eine Gelegenheit, aus unseren Erfahrungen zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Wieder neu anzufangen bedeutet Neuland betreten, die weggebrochenen tragenden Säulen der Vergangenheit hinter sich zu lassen und neugierig in die Zukunft zu blicken.
Neugier statt Angst und Zweifel.
Loslassen lernen, statt festhalten wollen, was sich überlebt hat.
Abschied nehmen von einer Lebensphase und Begrüßung des Unbekannten.
Dieser Weg verläuft nicht immer geradlinig.
Rückschläge, Mutlosigkeit und Zweifel, Versuch und Scheitern, sind Teil des Prozesses. Der Schlüssel um diesen Prozess zu bewältigen liegt darin, mitfühlend und geduldig mit uns selbst zu sein und uns die Zeit zu nehmen, die wir brauchen, um uns anzupassen und zu wachsen.
Jeder noch so kleine Schritt, den wir machen, zählt.
Nicht zu viel wollen, zählt.
Uns realistische Ziele setzen und Fortschritte feiern, zählt.
Es kommt, wie immer im Leben, auf die Einstellung an, die wir haben und auch die ist veränderbar. 
 
 
„Setzen Sie sich ein paar Minuten lang ruhig hin und achten Sie darauf, wie Ihr Atem ein- und ausströmt. Denken Sie dann darüber nach, was Sie tun, wenn Sie unglücklich oder unzufrieden sind und sich besser fühlen möchten. Erstellen Sie sogar eine Liste, wenn Sie möchten. Dann fragen Sie sich: Funktioniert es? Hat es jemals funktioniert? Lindert es den Schmerz? Verschärft es den Schmerz?
Wenn Sie wirklich ehrlich sind, werden Sie einige ziemlich interessante Beobachtungen machen.“
 
 Pema Chödrön 
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

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