Freitag, 12. Juli 2024

Aus der Praxis: Scham

                                                                                                                 Malerei: Angelika Wende

Wer mit Menschen arbeitet, bekommt es immer wieder mit dem Thema Scham zu tun. Die meisten sind sich ihrer Schamgefühle nicht bewusst oder sie verdrängen sie. Nachvollziehbar, denn Scham ist eine sehr intensive, schwer aushaltbare Emotion mit der wir alle im Leben konfrontiert werden, auf die ein oder andere Weise. Der Traumaexperte Peter Levine schreibt über Scham sinngemäß, dass die Scham so eine intensive Emotion sein muss, damit gewisse Dinge in der Kindheit wirklich verinnerlicht werden. Ein Kind fühlt sich beschämt, wenn es für etwas, was ihm selbst oder anderen schadet oder zur Gefaht werden kann, gerügt wird. Es verinnerlicht dann, dass es das nicht mehr tun darf. Folgt der Rüge allerdings ein Beziehungsabbruch der Bindungsperson oder wird das Kind in seinem ganzen Sein gedemütigt oder hart bestraft, fühlt es sich in seinem ganzen Sein abgewertet und beginnt in der Folge sich selbst abzuwerten. Das Kind und später der Erwachsene verurteilt sich selbst für bestimmte Eigenschaften, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Das macht die vernichtende Qualität der Scham aus: Sie nimmt dem kleinen Menschen seine Existenzberechtigung. Das nennt man toxische Scham, eine Scham, die das Selbstbild eines Menschen dauerhaft, im wahrsten Sinne des Wortes, vergiften kann.

„Scham ist das Gefühlsäquivalent zu einer Erfahrung von innerer und/oder äußerer Zurückweisung, Missachtung oder Ablehnung, die der Beschämte als durch eigene Unfähigkeit, Unzulänglichkeit oder Mangelhaftigkeit ausgelöst erlebt, wobei keine Kontroll-, Alternativ- oder Ausweichmöglichkeiten bestehen und daher die Unentrinnbarkeit der Situation ein tiefes Ohnmachtsempfinden erzeugt. Das so entstehende Schamgefühl zeigt immer eine Verletzung des Selbst(-wertgefühls) an.“
Bastian/Hilgers: Scham und Schuld
 
Scham ist ein existenzielles Gefühl und es ist komplex.  
Verwandte Gefühle sind: Kränkung, Demütigung, Verachtung, Bloßstellung, Entblößung, Entwertung, Ekel, Erniedrigung, Schande. Scham ist das Gefühl des Unwürdigseins, das Gefühl total versagt zu haben. Ein vor sich selbst zurückschrecken, sich selbst verachten, sich selbst entwerten für die Schande, die man fühlt. Scham ist die Angst vor der Verurteilung von außen. Innere Scham ist innere Verurteilung. Je größer die Scham, desto brüchiger die Selbstachtung eines Menschen. Ich kenne Scham. Ich habe noch heute den Satz meiner verzweifelten Mutter im Kopf, den sie herausschrie, als ihre Mutter nach der Diagnose einer Krebserkrankung innerhalb kürzester Zeit starb. Ich war fünf Jahre alt und hatte diese ersten fünf Jahre bei meiner Oma verbracht, weil meine Mutter mich nicht bei sich haben wollte. „Du bist ein böses Kind, du hast die Oma totgeärgert!“, sagte sie und wandte sich emotional von mir ab. Ich war von da an immer das böse Kind. Mein Daseinsrecht wurde in Frage gestellt. Ich war für meine Mutter liebensunwert. Ich war verachtungswürdig. Durch Verachtung wird ein Kind in ein Nichts verwandelt oder in etwas, das keiner in seiner Nähe haben will. Das ist die Erfahrung von Urscham. Die innere Repräsentanz meiner Mutter: Du bist böse!, immer war sie da. Früher unbewusst, wie ein inneres Rauschen, heute ist sie mir vollkommen bewusst. Ich habe mir von Kindheit an eine Fassade der fleißigen, guten, klugen, hilfsbereiten, verantwortungsvollen Angelika zugelegt. Ich trug eine Rüstung von hohen Werten und Perfektion, mein Schutzpanzer für die Angst vor Entdeckung des tief verinnerlichten Bildes von mir selbst: Das böse Kind. Niemand darf den Schandfleck sehen. Ich wurde die Leistungstochter, die Erfolgreiche, die Problemlöserin für andere, die Starke, die alles bewältigt für sich selbst und andere. Was für ein Schauspiel. Der kraftzehrende Versuch ein Ideal-Selbst herstellen zu wollen. Egal welche Leistung ich erbrachte, sogar als ich als Moderatorin vor der Fernsehkamera stand, ich verfiel immer wieder in ein tiefes Gefühl von Wertlosigkeit. Wie konnte irgendetwas einen Wert haben, wenn es ein Teil von mir ist? 
 
Scham ist durchdringend. Sie ist gnadenlos und vernichtend, wenn wir sie nicht ablegen können.  
Da ist immer die gewünschte Vorstellung eines idealen Selbst und zugleich die Diskrepanz zwischen dem, was man tut, um diesem idealen Selbst zu entsprechen und dem, was man fühlt und sich wünscht. Und immer ist da die Angst vor Selbstverlust, vor Zurückweisung, Beschämung und Bloßstellung, wenn man sich offen zeigen würde. Ein Leben mit Scham ist eine permanente Rettungsaktion gegen die tiefe Verachtung und die Scham in uns selbst. Immer ist da die Angst nicht „gut“ anzukommen, keinen „guten“ Eindruck zu machen, nicht „gut genug“ zu sein. Weil man ständig so viel Angst hat nichts wert zu sein, muss man ständig so tun, als ob man besser wäre als man es ist. Dahinter steht die Überzeugung: Wenn ich, ich selbst bin, dann will mich keiner sehen und schon gar nicht lieben. Man will perfekt sein, damit man den Makel nur ja nicht sieht. In Wahrheit ist da ständig Angst die Kontrolle zu verlieren, erkannt zu werden. Ständig Versagensangst. Angst nicht genügen können.
 
In der Scham erleben wir uns als schwach.  
Alles, was mit Selbstabwertung und/oder Selbstzerstörung zu tun hat, hat immer auch mit Scham zu tun. Ein Mensch, der sich schämt lebt in der inneren Überzeugung, dass er schadhaft ist, mangelhaft, meist unbewusst, manchmal bewusst.
Scham erfindet viele Abwehr- und Kompensationsmanöver um nicht entlarvt und bloßgestellt zu werden. Perfektionismus gehört dazu. Überheblichkeit gehört dazu. Manche Menschen wehren Scham ab, indem sie andere abwerten und beschämen, indem sie arrogant, (passiv) aggressiv und zynisch sind. Auch beim Narzissmus findet sich unbewusst die Scham, die auf destruktive Weise abgewehrt wird. Trotz gehört dazu. Trotz als Abwehr gegen das überwältigende Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Zurückweisung von Nähe gehört dazu. Flucht vor Nähe. Nähe bedeutet die Gefahr erkannt zu werden. Aber intime Nähe gelingt nur durch das Überwinden von Scham. Funktionieren durch gewisse Umstände, wie z.B. Verluste, Trennung, Verlassenwerden, Scheitern, Krankheit, Altern oder traumatische Erlebnisse, die Abwehr- und Kompensationsmechanismen nicht mehr, kommt es zur Dekompensation. Die Scham kann dann so groß werden, das der Mensch innerlich zusammenbricht. Die Folge: Selbstverlust, Fragmentierung, Versagen und wieder Scham.
 
Wenn die Scham ganz groß wird, hat sie nur ein Ziel: Verstecken.
Der Mensch will sich verbergen, am besten verschwinden, so dass ich nicht mehr (an) gesehen werde. Die schützende Maske fällt, er hat sein Gesicht verloren. Das ist ein Gefühl der totalen Vernichtung. Nur noch Rückzug und Selbstisolation schützen vor der Gefahr preisgegeben zu sein. Es kann zu Ängsten, Zwängen, Depression und sogar zu Suizid(gedanken) kommen. Und wieder Scham, weil man sich selbst verurteilt, ausschließt, einsperrt und hemmt. Wenn die Scham riesengroß wird, hat sie nur noch ein Ziel: Im Erdboden versinken.
 
Toxische Scham auflösen ist schwer.
Letztlich geht es darum zu erkennen, zu verstehen und zu fühlen, dass man beschämt wurde, dass diese Scham etwas ist, was von außen introjiziert wurde und dass das, was sie in einem selbst an Destruktion anrichtet, etwas ist, was nicht wahr ist. Wahr ist: da ist etwas maximal schief gelaufen und das hat nichts mit dem eigenen Wert als Mensch zu tun, sondern mit denen, die diesen Wert missachtet und zerstört haben. Bis das wirklich tief verinnerlicht ist braucht es viel Geduld und Mitgefühl mit sich selbst und es braucht eine empathische, wertschätzende therapeutische Begleitung, die vor der Scham, auch der eigenen, nicht zurückschreckt. 
 

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