Ist
es Schicksal, wenn einem immer wieder schlimme Dinge geschehen, wenn einem
nichts gelingt, von dem, was man sich vorgenommen hat, auch wenn man sich noch
so anstrengt, wenn einem immer wieder der oder die Falsche begegnet oder wenn
man keinen Job bekommt, auch wenn man sich noch so bemüht? Ist es Schicksal, wenn wir von einer Krise in die andere stürzen, wir immer
wieder gemobbt werden, uns gar Gewalt angetan wird oder sind wir das geborene
Opfer und wir ziehen das alles an?
Menschen,
die in Krisengebieten geboren sind, sind Opfer der Kriegstreiber,
Menschen, die in sozial schwache oder kaputte Familienkonstrukte hineingeboren
werden, sind Opfer der Umstände und Frauen, werden noch heute durch die soziale
Rolle, die ihnen zugeschrieben wird, eher in der Aufopferungsrolle landen als
viele Männer. Und Kinder die missbraucht werden sind Opfer. Und alle haben
nichts dazu getan, dass ihnen Schlimmes weiderfährt. Und dann gibt es etwas,
das größer ist als der Mensch: Das Schicksal, Unglücke, Naturkatastrophen oder
schwere Krankheiten oder seelisch kranke, gewalttätige Menschen, die Menschen
ohne ihr Zutun zum Opfer machen.
Das
Leben ist nicht gerecht und das ist wahr.
Aber
viele Menschen haben einfach nur das Gefühl, dass das Schicksal oder andere
Menschen ihnen übel mitspielen. Sie fühlen sich ihr Leben lang als Opfer und
die anderen sind in ihren Augen die Täter, die ihnen all das Üble angetan haben
oder antun. Wären die anderen anders, wäre alles in meinem Leben besser, wäre
ich als Kind geliebt worden oder hätten mich meine Eltern gefördert, könnte ich
mein Leben anders leben - diese Haltung ist in diesen Menschen tief verankert.
Sie fühlen sich dem Leben ausgeliefert und verbringen es in der Opferrolle. Und
damit sehen sie keine Möglichkeit, etwas zu ändern.
Warum
schlüpfen Menschen in die Opferrolle?
Zuschreibungen
jeder Art sind beruhigend und bequem. Und vor allem, man hat eine Erklärung für
alles, was nicht gut ist. Man ist eben ein Opfer und kann nichts dafür und
nichts dagegen machen. Wer sich als Opfer begreift muss sich nicht
verantwortlich für sein Leben fühlen, er muss keinen Standpunkt einnehmen, er
kann alles auf die anderen und auf die ungerechte Welt schieben – er wäscht
seine Hände in vermeintlicher Unschuld. Er kann sich in der Opferrolle
verstecken, braucht sich eine Mühe zu geben, muss nichts verändern und sich
nicht die Mühe machen, das eigene Leben zu gestalten oder sich überhaupt
fragen, was er eigentlich vom Leben will. Er darf jammern, sich selbst
bemitleiden und mit den Fingern auf alle die zeigen, die ihn zu dem gemacht
haben, als der er sich fühlt. Wäre die Rolle des Opfers eine Krankheit könnte
man von einem sekundären Krankheitsgewinn sprechen. Die Konsequenzen einer
solchen Haltung sind allerdings schwerwiegend. Eine Opferhaltung führt immer in
die Passivität, in ein Leben das beherrscht wird vom Gefühl der Spielball äußerer
Mächte zu sein. Ein Mensch, der in der Opferhaltung lebt, hat selten das Gefühl
der Selbstwirksamkeit, er ist ein Abhängiger von den Gefühlen der Hilflosigkeit
und der Ohnmacht und vor allem – er macht sich abhängig von anderen, die sein
Leben scheinbar dirigieren und diese sind dann in seiner Wahrnehmung die bösen Täter,
die sein Glück verhindern.
Opfer
und Täter brauchen und bedingen sich gegenseitig: Ein Opfer kann nicht ohne
einen Aggressor existieren und ein Aggressor nicht ohne ein Opfer.
Ich
spreche hier wie gesagt nicht vom Schicksal, von Gewalt und Verbrechen. In
diesen Fällen werden Menschen zu unschuldigen Opfern. Ihnen eine Verantwortung
zu übertragen wäre der blanke Hohn, wenn auch die Kriminologie davon ausgeht,
dass es typische Opfer gibt, also Menschen, die eher zu Verbrechensopfern
werden als andere. In dieses Feld wage ich mich nicht vor. Auch die esoterische
Parole von der Macht der Gedanken, dass der Mensch an allem Leid, das ihm
wiederfährt, selbst schuld sein soll, ist Unfug und gefährlich dazu, denn wer
das glaubt, wird ganz automatisch zum Opfer, nämlich, weil er glaubt, er müsse
nur richtig denken, damit sein Leben richtig läuft und wenn es ihm nicht
gelingt ist er selbst schuld. So
einfach ist es nicht, wir sind nicht Gott und auch der denkt sich nicht alles
aus, was uns Menschen geschieht oder nicht geschieht. In allen anderen Fällen
aber geht es um Macht und Ohnmacht, und das hat mit Angst, Aggression und der
Regulierung des Selbstwertgefühls und der Impulskontrolle zu tun.
Opfer zu sein
ist nicht gut, und Aggressor zu sein ist auch nicht gut, und doch finden beide
in ihren Rollen etwas, das sie darin stecken bleiben lässt. Die Frage ist, was
ist das?
Jeder
Mensch, der unbewusst immer wieder in die Opferrolle rutscht, imitiert ein
Rollenverhalten, von dem er erfahren hat, dass es irgendwie funktioniert.
Das
kann das Vorbild eines Elternteils sein, es können Erfahrungen aus der Kindheit
sein, indem er selbst Opfer wurde, es kann aber kulturell bedingt sein. Der
Urgrund jeder Opferhaltung ist eine tiefgreifende gefühlte Erfahrung von
Hilflosigkeit, Ohnmacht und Machtlosigkeit. Es fehlt das Gefühl: Ich bin
wertvoll, ich habe ein Recht auf eigene Grenzen, ich bin ein autonomer Mensch
und ich handle selbstverantwortlich und ich kann das.
„Der Opfertyp, der an seiner Rolle festhält“, schreibt die Jungianerin Verena Kast in ihrem Buch „Abschied von der Opferrolle“, „ist ein Konfliktvermeider und ein Ja-Sager wider Willen. Er ist ein Mensch, der in seiner Kindheit von Autoritäten bestimmt wurde, an den Schuldgefühle delegiert wurden und der früh gelernt hat, dass alle anderen wichtiger sind als er selbst.“ Oft ist er Opfer von Gewalt und Missbrauch, ob seelisch oder körperlich, spielt dabei keine Rolle, entscheidend ist eine andauernde oder eine extreme Ohnmachtserfahrung, ein Trauma.
„Der Opfertyp, der an seiner Rolle festhält“, schreibt die Jungianerin Verena Kast in ihrem Buch „Abschied von der Opferrolle“, „ist ein Konfliktvermeider und ein Ja-Sager wider Willen. Er ist ein Mensch, der in seiner Kindheit von Autoritäten bestimmt wurde, an den Schuldgefühle delegiert wurden und der früh gelernt hat, dass alle anderen wichtiger sind als er selbst.“ Oft ist er Opfer von Gewalt und Missbrauch, ob seelisch oder körperlich, spielt dabei keine Rolle, entscheidend ist eine andauernde oder eine extreme Ohnmachtserfahrung, ein Trauma.
Das
Fatale an der Opferrolle ist, dass diese Menschen aufgrund ihrer Unfähigkeit
sich auch im späteren Leben abzugrenzen, noch immer tief verletzt und gekränkt
sind.
Die Opfer von Gewalt, Krieg und Naturkatastrophen entwickeln fast alle
eine Posttraumatische Belastungsstörung, deren Folgen psychosomatische
Symptome, Depressionen, Borderline-Störungen, Narzissmus, Angsterkrankungen und
dissoziative Persönlichkeitsveränderungen sein können. Was die Opferhaltung von
Menschen angeht, die kein dramatisches Traumata erlebt haben, hat oft zur
Folge, dass sie verbittern. Diese Verbitterung führt ebenso zu psychischen
Schäden: Selbstzweifel, ein negatives Selbstbild, Depressionen, Ängste und
unterdrückte Aggressionen sind deren Ausdruck.
Wer
sich als Opfer fühlt, fühlt sich vom Leben ungerecht behandelt – mit dem
Ergebnis, dass er nicht autonom handelt und seine eigenen Bedürfnisse weder
wahrnimmt noch auslebt. Wer sich ungerecht behandelt fühlt ist wütend und
voller Groll und Selbsthass. Er schleppt eine Unmenge Aggressionen mit sich
herum, die er permanent zu unterdrücken versucht. In ihm steckt das Potential
eines Aggressors.
„Um
weder Opfer zu bleiben noch Aggressor zu werden, ist es wichtig, sich immer wieder
um ein gutes Selbstwertgefühl zu bemühen“, schreibt Verena Kast. Dazu ist die
Ablösung von den elterlichen Introjekten und den aus der Kindheit
verinnerlichten negativen Glaubensmustern unabdingbar. Diese zu erkennen und
auf ihre Wahrheit zu überprüfen ist der erste Schritt in ein selbstbestimmtes
Leben – was nichts anderes heißt, als die Verantwortung für das Jetzt
übernehmen zu wollen und sich bewusst dafür zu entscheiden: Was war ist nicht
mehr veränderbar, aber was sein soll liegt in meiner Macht. Es bedeutet die
eigenen Opfersituationen herauszufinden, sich zu beobachten, zu reflektieren
und sich bewusst zu machen wo der eigene Gestaltungraum beginnt. Es bedeutet
seine Potenziale zu erkennen und anzuwenden und ganz wichtig: Alternativen
zuzulassen, die förderlicher sind als das bisher gelebte alte Muster. Es geht
darum, den Wunsch nach Autonomie zu entwickeln und Eigenständigkeit im wahrsten
Sinne des Wortes auszuprobieren und das heißt: Neues hilfreiches Denken und
Verhalten erlernen und üben.
Man
muss neue Erfahrungen machen wollen, um nicht im alten Muster stecken zu
bleiben und vor allem – man muss danach handeln und sich vom sekundären
Krankheitsgewinn ein für alle Mal verabschieden. Für manche Opfer ist das
allerdings ein Ding der Unmöglichkeit, denn dann müssten sie das tun und übernehmen,
was sie nicht wollen: Selbstreflexion und Eigenverantwortung.
Für
den Opfertypen ein schweres Unterfangen. Der Opfertyp ist ein
Konfliktvermeider. Er ist ein Mensch, der sich lieber zurücknimmt, als für sich
selbst einzustehen und für seine Bedürfnisse und Ziele zu kämpfen. Er ist ein
Ja-Sager, der ständig ja sagt ohne es zu meinen und seinen Frust darüber
herunterschluckt. Er entschuldigt sich für alles und vor allem er entschuldigt
sich selbst, weil er es ja so schwer hatte und es noch immer schwer hat. Sein
Lebensmotto ist: "Du bist o.k., ich bin nicht o.k.“ Im Unterbewusstsein aber
gibt es einen zweiten Satz und der lautet: „Ich bin o.k., aber du nicht und die
Welt sowieso nicht.“
In
jedem Opfer steckt ein Aggressor, der irgendwann zum Täter werden kann. Der
Grad der Aggressions- und Tatbereitschaft hängt vom Grad der Unversöhnlichkeit
des Opfers mit seinem Schicksal ab.
Menschen,
die sich nicht konstruktiv mit ihrem Schicksal und ihrer Biografie auseinandersetzen
sind oft voller Scham, Schuldgefühle und Selbstmitleid, und – sie erzeugen
Schuldgefühle bei anderen.
Sie schlucken ihre Wut und sind in Wahrheit voller
stiller Vorwürfe. Sie haben eine panische Angst davor, ihre Aggressionen
auszudrücken. Unterschwellig aber brodelt es in ihnen. Das Unrecht, das sie
erfahren haben, schreit noch immer stumm nach Vergeltung. Weil sie sich das
selbst nicht eingestehen, neigen sie dazu andere zu manipulieren oder emotional
zu erpressen. Sie machen anderen Schuldgefühle und übergeben ihnen so die
Verantwortung für ihre eigenen Gefühle der Schuld und der Scham, die sie nicht
ausdrücken können. Auf diese Weise geben sie ihre schlechten Gefühle an andere
weiter, damit sich die anderen ebenso so schlecht fühlen wie sie selbst. Sie
machen andere damit zum Aggressor, der sie in Wahrheit selbst sind. Sie
projizieren das eigene Ungute ins Außen. Diese Menschen identifizieren sich auf
diese Weise unbewusst mit dem Täter, der ihre eigene Wut ausdrückt, im
vermeintlichen Glauben auf diese Weise der Opferrolle zu entkommen und sich
emotional zu entlasten. Sie lösen den Konflikt zwischen Anpassung an sich
selbst und Anpassung an die Mitwelt dadurch, dass sie andere ausleben lassen,
was sie sich selbst nicht zugestehen.
Andere
Opfer wiederum werden zu Tätern an anderen, nicht selten sogar an den eigenen
Kindern oder am Partner. Sie geben das Unrecht, die Gewalt, die Aggression und
das Leid, das sie erfahren haben, ungefiltert an Schwächere weiter, sie
verfügen über keine Selbstregulation und schreien die Wut auf das erlittene
Unrecht heraus. Im schlimmsten Falle wird ihr Selbsthass so groß, dass sie
gewalttätig werden. Die
Entschuldigung dieser Menschen lautet dann: „Ich habe nichts getan, der andere
ist schlecht zu mir und muss bestraft oder vernichtet werden.“ Oder es kommt
die Rechtfertigung: „Ich habe es selbst nicht anders erlebt, ich kann nichts
dafür, dass ich so bin.“ Diese Menschen geben ihr tiefes Leid und ihren
seelischen Schmerz rücksichtslos weiter und so nimmt die Spirale des Unrechts kein
Ende. Und das alles mit dem unbewussten Zwang ein Opfer zu bleiben, denn dann,
wie gesagt, bleibt die Verantwortung für das, was im eigenen Innenleben
geschieht da draußen, bei den anderen eben und nicht im eigenen Haus.
Diese
Menschen brauchen Hilfe. Sie brauchen sie dringend, denn sie sind lebendige
Pulverfässer, die wenn sie explodieren, Schlimmes anrichten können.
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