Sonntag, 24. April 2016

Wie aus Opfern Täter werden können



 

Ist es Schicksal, wenn einem immer wieder schlimme Dinge geschehen, wenn einem nichts gelingt, von dem, was man sich vorgenommen hat, auch wenn man sich noch so anstrengt, wenn einem immer wieder der oder die Falsche begegnet oder wenn man keinen Job bekommt, auch wenn man sich noch so bemüht? Ist es Schicksal, wenn wir von einer Krise in die andere stürzen, wir immer wieder gemobbt werden, uns gar Gewalt angetan wird oder sind wir das geborene Opfer und wir ziehen das alles an?

Menschen, die in Krisengebieten geboren sind, sind Opfer der Kriegstreiber, Menschen, die in sozial schwache oder kaputte Familienkonstrukte hineingeboren werden, sind Opfer der Umstände und Frauen, werden noch heute durch die soziale Rolle, die ihnen zugeschrieben wird, eher in der Aufopferungsrolle landen als viele Männer. Und Kinder die missbraucht werden sind Opfer. Und alle haben nichts dazu getan, dass ihnen Schlimmes weiderfährt. Und dann gibt es etwas, das größer ist als der Mensch: Das Schicksal, Unglücke, Naturkatastrophen oder schwere Krankheiten oder seelisch kranke, gewalttätige Menschen, die Menschen ohne ihr Zutun zum Opfer machen.
Das Leben ist nicht gerecht und das ist wahr.

Aber viele Menschen haben einfach nur das Gefühl, dass das Schicksal oder andere Menschen ihnen übel mitspielen. Sie fühlen sich ihr Leben lang als Opfer und die anderen sind in ihren Augen die Täter, die ihnen all das Üble angetan haben oder antun. Wären die anderen anders, wäre alles in meinem Leben besser, wäre ich als Kind geliebt worden oder hätten mich meine Eltern gefördert, könnte ich mein Leben anders leben - diese Haltung ist in diesen Menschen tief verankert. Sie fühlen sich dem Leben ausgeliefert und verbringen es in der Opferrolle. Und damit sehen sie keine Möglichkeit, etwas zu ändern. 

Warum schlüpfen Menschen in die Opferrolle?

Zuschreibungen jeder Art sind beruhigend und bequem. Und vor allem, man hat eine Erklärung für alles, was nicht gut ist. Man ist eben ein Opfer und kann nichts dafür und nichts dagegen machen. Wer sich als Opfer begreift muss sich nicht verantwortlich für sein Leben fühlen, er muss keinen Standpunkt einnehmen, er kann alles auf die anderen und auf die ungerechte Welt schieben – er wäscht seine Hände in vermeintlicher Unschuld. Er kann sich in der Opferrolle verstecken, braucht sich eine Mühe zu geben, muss nichts verändern und sich nicht die Mühe machen, das eigene Leben zu gestalten oder sich überhaupt fragen, was er eigentlich vom Leben will. Er darf jammern, sich selbst bemitleiden und mit den Fingern auf alle die zeigen, die ihn zu dem gemacht haben, als der er sich fühlt. Wäre die Rolle des Opfers eine Krankheit könnte man von einem sekundären Krankheitsgewinn sprechen. Die Konsequenzen einer solchen Haltung sind allerdings schwerwiegend. Eine Opferhaltung führt immer in die Passivität, in ein Leben das beherrscht wird vom Gefühl der Spielball äußerer Mächte zu sein. Ein Mensch, der in der Opferhaltung lebt, hat selten das Gefühl der Selbstwirksamkeit, er ist ein Abhängiger von den Gefühlen der Hilflosigkeit und der Ohnmacht und vor allem – er macht sich abhängig von anderen, die sein Leben scheinbar dirigieren und diese sind dann in seiner Wahrnehmung die bösen Täter, die sein Glück verhindern.

Opfer und Täter brauchen und bedingen sich gegenseitig: Ein Opfer kann nicht ohne einen Aggressor existieren und ein Aggressor nicht ohne ein Opfer.

Ich spreche hier wie gesagt nicht vom Schicksal, von Gewalt und Verbrechen. In diesen Fällen werden Menschen zu unschuldigen Opfern. Ihnen eine Verantwortung zu übertragen wäre der blanke Hohn, wenn auch die Kriminologie davon ausgeht, dass es typische Opfer gibt, also Menschen, die eher zu Verbrechensopfern werden als andere. In dieses Feld wage ich mich nicht vor. Auch die esoterische Parole von der Macht der Gedanken, dass der Mensch an allem Leid, das ihm wiederfährt, selbst schuld sein soll, ist Unfug und gefährlich dazu, denn wer das glaubt, wird ganz automatisch zum Opfer, nämlich, weil er glaubt, er müsse nur richtig denken, damit sein Leben richtig läuft und wenn es ihm nicht gelingt ist er selbst schuld. So einfach ist es nicht, wir sind nicht Gott und auch der denkt sich nicht alles aus, was uns Menschen geschieht oder nicht geschieht. In allen anderen Fällen aber geht es um Macht und Ohnmacht, und das hat mit Angst, Aggression und der Regulierung des Selbstwertgefühls und der Impulskontrolle zu tun. 

Opfer zu sein ist nicht gut, und Aggressor zu sein ist auch nicht gut, und doch finden beide in ihren Rollen etwas, das sie darin stecken bleiben lässt. Die Frage ist, was ist das?

Jeder Mensch, der unbewusst immer wieder in die Opferrolle rutscht, imitiert ein Rollenverhalten, von dem er erfahren hat, dass es irgendwie funktioniert.
Das kann das Vorbild eines Elternteils sein, es können Erfahrungen aus der Kindheit sein, indem er selbst Opfer wurde, es kann aber kulturell bedingt sein. Der Urgrund jeder Opferhaltung ist eine tiefgreifende gefühlte Erfahrung von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Machtlosigkeit. Es fehlt das Gefühl: Ich bin wertvoll, ich habe ein Recht auf eigene Grenzen, ich bin ein autonomer Mensch und ich handle selbstverantwortlich und ich kann das.

„Der Opfertyp, der an seiner Rolle festhält“, schreibt die Jungianerin Verena Kast in ihrem Buch „Abschied von der Opferrolle“, „ist ein Konfliktvermeider und ein Ja-Sager wider Willen. Er ist ein Mensch, der in seiner Kindheit von Autoritäten bestimmt wurde, an den Schuldgefühle delegiert wurden und der früh gelernt hat, dass alle anderen wichtiger sind als er selbst.“ Oft ist er Opfer von Gewalt und Missbrauch, ob seelisch oder körperlich, spielt dabei keine Rolle, entscheidend ist eine andauernde oder eine extreme Ohnmachtserfahrung, ein Trauma.

Das Fatale an der Opferrolle ist, dass diese Menschen aufgrund ihrer Unfähigkeit sich auch im späteren Leben abzugrenzen, noch immer tief verletzt und gekränkt sind. 

Die Opfer von Gewalt, Krieg und Naturkatastrophen entwickeln fast alle eine Posttraumatische Belastungsstörung, deren Folgen psychosomatische Symptome, Depressionen, Borderline-Störungen, Narzissmus, Angsterkrankungen und dissoziative Persönlichkeitsveränderungen sein können. Was die Opferhaltung von Menschen angeht, die kein dramatisches Traumata erlebt haben, hat oft zur Folge, dass sie verbittern. Diese Verbitterung führt ebenso zu psychischen Schäden: Selbstzweifel, ein negatives Selbstbild, Depressionen, Ängste und unterdrückte Aggressionen sind deren Ausdruck.
Wer sich als Opfer fühlt, fühlt sich vom Leben ungerecht behandelt – mit dem Ergebnis, dass er nicht autonom handelt und seine eigenen Bedürfnisse weder wahrnimmt noch auslebt. Wer sich ungerecht behandelt fühlt ist wütend und voller Groll und Selbsthass. Er schleppt eine Unmenge Aggressionen mit sich herum, die er permanent zu unterdrücken versucht. In ihm steckt das Potential eines Aggressors. 

„Um weder Opfer zu bleiben noch Aggressor zu werden, ist es wichtig, sich immer wieder um ein gutes Selbstwertgefühl zu bemühen“, schreibt Verena Kast. Dazu ist die Ablösung von den elterlichen Introjekten und den aus der Kindheit verinnerlichten negativen Glaubensmustern unabdingbar. Diese zu erkennen und auf ihre Wahrheit zu überprüfen ist der erste Schritt in ein selbstbestimmtes Leben – was nichts anderes heißt, als die Verantwortung für das Jetzt übernehmen zu wollen und sich bewusst dafür zu entscheiden: Was war ist nicht mehr veränderbar, aber was sein soll liegt in meiner Macht. Es bedeutet die eigenen Opfersituationen herauszufinden, sich zu beobachten, zu reflektieren und sich bewusst zu machen wo der eigene Gestaltungraum beginnt. Es bedeutet seine Potenziale zu erkennen und anzuwenden und ganz wichtig: Alternativen zuzulassen, die förderlicher sind als das bisher gelebte alte Muster. Es geht darum, den Wunsch nach Autonomie zu entwickeln und Eigenständigkeit im wahrsten Sinne des Wortes auszuprobieren und das heißt: Neues hilfreiches Denken und Verhalten erlernen und üben.

Man muss neue Erfahrungen machen wollen, um nicht im alten Muster stecken zu bleiben und vor allem – man muss danach handeln und sich vom sekundären Krankheitsgewinn ein für alle Mal verabschieden. Für manche Opfer ist das allerdings ein Ding der Unmöglichkeit, denn dann müssten sie das tun und übernehmen, was sie nicht wollen: Selbstreflexion und Eigenverantwortung.

Für den Opfertypen ein schweres Unterfangen. Der Opfertyp ist ein Konfliktvermeider. Er ist ein Mensch, der sich lieber zurücknimmt, als für sich selbst einzustehen und für seine Bedürfnisse und Ziele zu kämpfen. Er ist ein Ja-Sager, der ständig ja sagt ohne es zu meinen und seinen Frust darüber herunterschluckt. Er entschuldigt sich für alles und vor allem er entschuldigt sich selbst, weil er es ja so schwer hatte und es noch immer schwer hat. Sein Lebensmotto ist: "Du bist o.k., ich bin nicht o.k.“ Im Unterbewusstsein aber gibt es einen zweiten Satz und der lautet: „Ich bin o.k., aber du nicht und die Welt sowieso nicht.“
In jedem Opfer steckt ein Aggressor, der irgendwann zum Täter werden kann. Der Grad der Aggressions- und Tatbereitschaft hängt vom Grad der Unversöhnlichkeit des Opfers mit seinem Schicksal ab.

Menschen, die sich nicht konstruktiv mit ihrem Schicksal und ihrer Biografie auseinandersetzen sind oft voller Scham, Schuldgefühle und Selbstmitleid, und – sie erzeugen Schuldgefühle bei anderen. 

Sie schlucken ihre Wut und sind in Wahrheit voller stiller Vorwürfe. Sie haben eine panische Angst davor, ihre Aggressionen auszudrücken. Unterschwellig aber brodelt es in ihnen. Das Unrecht, das sie erfahren haben, schreit noch immer stumm nach Vergeltung. Weil sie sich das selbst nicht eingestehen, neigen sie dazu andere zu manipulieren oder emotional zu erpressen. Sie machen anderen Schuldgefühle und übergeben ihnen so die Verantwortung für ihre eigenen Gefühle der Schuld und der Scham, die sie nicht ausdrücken können. Auf diese Weise geben sie ihre schlechten Gefühle an andere weiter, damit sich die anderen ebenso so schlecht fühlen wie sie selbst. Sie machen andere damit zum Aggressor, der sie in Wahrheit selbst sind. Sie projizieren das eigene Ungute ins Außen. Diese Menschen identifizieren sich auf diese Weise unbewusst mit dem Täter, der ihre eigene Wut ausdrückt, im vermeintlichen Glauben auf diese Weise der Opferrolle zu entkommen und sich emotional zu entlasten. Sie lösen den Konflikt zwischen Anpassung an sich selbst und Anpassung an die Mitwelt dadurch, dass sie andere ausleben lassen, was sie sich selbst nicht zugestehen.

Andere Opfer wiederum werden zu Tätern an anderen, nicht selten sogar an den eigenen Kindern oder am Partner. Sie geben das Unrecht, die Gewalt, die Aggression und das Leid, das sie erfahren haben, ungefiltert an Schwächere weiter, sie verfügen über keine Selbstregulation und schreien die Wut auf das erlittene Unrecht heraus. Im schlimmsten Falle wird ihr Selbsthass so groß, dass sie gewalttätig werden. Die Entschuldigung dieser Menschen lautet dann: „Ich habe nichts getan, der andere ist schlecht zu mir und muss bestraft oder vernichtet werden.“ Oder es kommt die Rechtfertigung: „Ich habe es selbst nicht anders erlebt, ich kann nichts dafür, dass ich so bin.“ Diese Menschen geben ihr tiefes Leid und ihren seelischen Schmerz rücksichtslos weiter und so nimmt die Spirale des Unrechts kein Ende. Und das alles mit dem unbewussten Zwang ein Opfer zu bleiben, denn dann, wie gesagt, bleibt die Verantwortung für das, was im eigenen Innenleben geschieht da draußen, bei den anderen eben und nicht im eigenen Haus.
 
Diese Menschen brauchen Hilfe. Sie brauchen sie dringend, denn sie sind lebendige Pulverfässer, die wenn sie explodieren, Schlimmes anrichten können.

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