Samstag, 14. Dezember 2019

Narzissmus, ein liebloses Leben


Gemälde: Michelangelo Caravaggio

Der Mythos des Narziss von Ovid erzählt die Tragödie von dem schönen Sohn des Flussgottes Kephisos und der Leirope. Weil er so schön ist, wird Narziss von Männern wie Frauen umworben, die er jedoch allesamt verschmäht und grob abweist. Für sein herzloses Verhalten wird Narziss von der Göttin Nemesis mit einer unstillbaren Selbstverliebtheit bestraft. Da er niemand anderen zu lieben fähig ist, darf er nur mehr sich selbst lieben. Auch die Bergnymphe Echo verliebt sich in Narziss. Sie hat zuvor im Auftrag von Zeus dessen Frau Hera mit Geschichten abgelenkt, um Zeus Zeit zu verschaffen, sich seinen sexuellen Ausschweifungen hingeben zu können. Hera bestraft Echo, indem sie ihr die Sprache raubt und sie dazu verdammt, nur die letzten Worte, die an sie gerichtet werden, wiederholen zu können. Echo folgt Narziss, als dieser durch den Wald streift. Unfähig ihm seine Liebe zu gestehen, weil sie stumm ist, wird auch sie von ihm abgewiesen. Als Narziss sich eines Tages zum Trinken über einen Teich beugt, nimmt er seine Spiegelung wahr und verliebt sich in sein Spiegelbild, wobei er nicht erkennt, dass er es selbst ist, den er im Wasser sieht. Seine Liebe zu dem schönen Bild, das er im Wasser gespiegelt sieht, ist so groß und unerfüllbar, dass er aus lauter Verzweiflung darüber, dass das geliebte Gegenüber ihm keine Antwort gibt, Tag und Nacht am Teich verbringt um sich selbst zu bespiegeln. Am Ende ertrinkt Narziss im Versuch das geliebte Wesen im Teich zum umarmen. Nach seinem Tode wird er in eine Narzisse verwandelt.

Der Mythos des Narziss ist eine tragische Geschichte, die ambivalente Gefühle weckt. Zum einen empfinden wir Mitgefühl mit Narziss, zum anderen bleibt er uns fremd, denn jeder, der ein Herz hat, wird kaum begreifen können, wie man die Liebe so konsequent zurückweisen kann, wie es Narziss tat. 


Die wahre Tragödie des Narziss ist, dass er sich selbst nicht lieben kann. Und er kann sich nicht vorstellen, dass ihn jemand lieben kann, er vertraut der Liebe nicht, er liebt das Bild, das er von sich hat.  
Er ist nicht in der Lage eine Verbindung zwischen seinem wahren Selbst und diesem Bild herzustellen. Er bleibt beziehungslos, sich selbst und anderen gegenüber und geht an dieser Beziehungslosigkeit emotional zugrunde. 
Es scheint, dass unsere multimediale Konsumgesellschaft immer mehr Menschen mit narzisstischen Persönlichkeiten „produziert“. Der Philosoph Byung-Chul Han erklärt  in seiner Schrift die „Agonie des Eros“ die Symptome und Folgen unserer narzisstisch-erschöpften Konsumgesellschaft. Dieses Zitat des Autors trifft es im Kern: „Dem narzisstischen Subjekt erscheint die Welt nur in Abschattung seiner selbst. Das narzisstisch-depressive Subjekt ist erschöpft und zermürbt von sich selbst. Es ist weltlos und vom Anderen verlassen.“ 

Narzissten empfinden sich in irgendeiner Hinsicht als großartig oder als besonders. Sie überschätzen sich selbst und haben ein starkes Bedürfnis nach Bewunderung. 

Eine gesunde Portion Selbstbewusstsein braucht jeder von uns, das Bedürfnis nach Anerkennung hat jeder von uns und jeder von uns genießt es bewundert zu werden. Schon Sigmund Freud erkannte Narzissmus als gesunden Mechanismus der menschlichen Selbsterhaltung. Ein wenig Narzissmus ist also keinesfalls ungesund, sondern ein gesunder Teil unseres Wesens.

Anders verhält es sich mit der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Hier ist das extreme Bedürfnis nach Anerkennung, Bewunderung oder Lebensvorteilen, Teil der Störung.
  Der narzisstische Mensch ist seinem Wesen nach ein um Anerkennung ringender, im Innersten stark unsicher Mensch, der ständig zwischen dem Gefühl von Grandiosität und Wertlosigkeit schwankt. Getrieben von der Sehnsucht nach Bestätigung, versucht er alles um dieses Gefühl von Grandiosität zu erhalten, sei es durch andere Menschen, Konsum, Besitz, oder durch Handlungen, die ihm Bestätigung vermitteln. Diese Sehnsucht nach Bestätigung ist ein zentrales Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit. So dramatisch wie im Narziss Mythos verläuft die Biografie moderner Narzissten allerdings nicht. Den meisten Betroffenen fällt ihre verzerrte Wahrnehmung von sich selbst nicht auf. Sie spüren aber ein tiefes Leiden. Unbewusst sind sie davon überzeugt, dass das Leben ihnen etwas schuldig bleibt, ohne zu wissen, was dieses schuldig bleiben eigentlich ist. 

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind Getriebene, besetzt von eine inneren Leere, die süchtig gefüllt werden muss. Ein Fass ohne Boden.  
Was ihnen fehlt, ist das gesunde Empfinden oder wie es der Psychoanalytiker Peter Schellenbaum nennt: Spürbewusstsein für sich Selbst, ihre eigene Lebendigkeit und die eigene Mitte.
"Wer sich ausschließlich im reflektierenden Bewusstsein verschanzt, spaltet sein Leben von sich ab. Dies ist in allen narzisstischen Störungen der Fall. Aus Angst vor Autonomieverlust flieht der Jüngling Narziss vor der Nymphe Echo, die doch, wie ihr Name sagt, sein Echo oder, in visueller Sprache, sein Spiegelbild ist: Er flieht vor seiner eigenen Lebendigkeit und zieht sich ins reflektierende Bewusstsein zurück, indem er sich im Wasserspiegel betrachtet, ohne sich zu erkennen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch, denn Selbsterkenntnis setzt Selbstfühlung, Spürbewusstsein, Liebe voraus. Bloß reflektierendes Bewusstsein bleibt sich selber fremd“, scheibt Peter Schellenbaum in: Nimm deine Couch und geh!

Hin und her schwankend zwischen „Ich bin etwas besonderes, ich will dass das gesehen wird, und „Ich bin ein Nichts, wenn ich nicht gesehen werde“, lebt der narzisstische Mensch in einem Zustand innerer Zerrissenheit und innerer Leere. Mit anderen Worten: Die narzisstische Persönlichkeitsstörung gründet auf einer mangelhaften An ERkennung der eigenen Persönlichkeit. Der Narziss versucht dieses Defizit auszugleichen, indem Daseinsbestätigung durch und in anderen sucht. Die anderen sind die Tankstelle für die ihm fehlende vitale Lebenskraft. Und die wird angezapft um zu überleben.

Wie bei allen Persönlichkeitsstörungen sind einzelne Persönlichkeitsmerkmale in einer mehr oder weniger extremen Gravidität ausgeprägt. So sind bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung Denk- und Verhaltensweisen starr und grobschematisch. Das zeigt sich in einer mangelnden Flexibilität und Empathielosigkeit im sozialen Verhalten und Interagieren. 

Der Narziss kann seine Umwelt nicht richtig verstehen. Er hat keinen wirklichen emotionalen Bezug zu anderen, er spürt andere nicht, weil er sich selbst nicht spürt. Oft empfindet er die Welt überwiegend als feindlich und die Menschen als minderwertig. 
Wenn er Beziehungen eingeht, tut er das nach dem Nutzen, den diese für ihn bringen. Da er unfähig ist zu lieben, liebt er sich selbst im anderen, jedoch nur solange der Andere ihm seine Besonderheit spiegelt. Tut ein Partner das nicht mehr, wird er abgewertet und schließlich betrogen oder verlassen. Es beginnt die Suche nach einem neuen Spiegel, nach einer neuen Tankstelle, die ihn mit dem versorgt, was er so nötig braucht: Lebensenergie, die er aus sich selbst heraus nicht generieren kann.  

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung gehört zu den psychischen Störungen, die mit einer nicht anpassungsfähigen Persönlichkeit verbunden sind.
Sie ist hochkomplex und hat viele Symptome. Mangelndes Selbstbewusstsein Minderwertigkeitskomplexe, die Angst kritisiert zu werden, das Gefühl von Beziehungslosigkeit, innere Leere und mangelnde Empathie sind nur einige.
 
Narzissmus ist die Folge einer Kindheit, in der die Eltern ihrem  Kind zu wenig Beachtung und kaum oder keine echte Anerkennung vermitteln konnten.
In jedem Narziss lebt ein Inneres Kind, das eine Funktion hatte. Ein Kind, das auf irgendeine Weise missbraucht, emotional ausgebeutet und benutzt wurden. Ein Kind, das etwas sein musste. Ein Kind, das nicht um seiner selbst willen geliebt wurde - es war Mittel zum Zweck für seine Bezugspersonen und deren egoistische Bedürfnisse.
Unter diesen Bedingungen kann sich kein Gefühl für Eigenliebe und auch kein Gefühl für das eigene Selbst entwickeln. Das Gefühl, nicht geliebt werden zu können, welches der Narziss im Tiefsten Inneren hat, weist darauf hin, selbst nicht lieben zu können. Und so ist er ein liebloses Wesen, immer auf der Suche nach Füllung für den schmerzhaften inneren Mangel.

Um sich in einem Umfeld, das keine spürbare Resonanz für das eigene Wesen herstellt zu behaupten, eignet sich das Kind ein maskenhaftes und schauspielerisches Verhalten an. Das traumatische Erlebnis der lieblosen Kindheit zeigt sich bis ins Erwachsenenalter in mangelndem Selbstbewusstsein, fehlendem Selbstkonzept und eben dieser übersteigerten Suche nach Bewunderung, oftmals mit auch mit einem Gefühl von Leistungszwang. Leistet der Narziss in seinen Augen nichts Großes oder Besonderes, fühlt er sich innerlich vernichtet.

Die meisten Betroffenen sind sich ihres Verhaltens nicht bewusst, es geschieht nicht mit Absicht.

Die Tragik moderner Narzissten ist, dass ihre Selbstwahrnehmung unrealistisch ist und somit die Erwartungen an das Leben an der Wirklichkeit scheitern müssen. So produziert ein Mensch mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung permanent verzerrte Ansprüche an seine Umwelt. 
Der Sucht nach Bewunderung durch ihre Mitmenschen steht eine große Angst gegenüber: Der Narziss fürchtet stets die schlechte Meinung anderer. Misstrauen und Unsicherheit prägen sein soziales Verhalten. Die innere Spannung zwischen einem geringen Selbstwertgefühl und die als Kompensation fungierenden Grandiositätsfantasien und das Grandiositätsgehabe sins Ausdruck einer großen Verletzlichkeit und führen zu einer hohen Verletzlichkeit. Hingegen ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen stark reduziert. 

Der Narziss verletzt weil er selbst verletzt wurde und er verletzt andere um die eigene Verletzung nicht zu spüren.
Er sitzt in einen inneren Käfig ohne Spürbewusstsein weder nach Innen noch ins Außen. Nicht zuletzt deshalb entwickeln viele Betroffene Süchte und/oder Depressionen bis hin zu Zwangserkrankungen. 
Der Weg aus dem narzisstischen inneren Käfig in ein fühlendes Leben ist beschwerlich und lang. Entscheidend für die Heilung ist der absolute Wille sich selbst zu erkennen und einen realistischen Bezug zu den wahren Anlagen herzustellen, die im Wesenskern angelegt sind. Das Ziel ist, sich selbst geben zu lernen, was als Kind so schmerzlich vermisst wurde. Ohne Hilfe allerdings gelingt dem Narziss dieser Weg nicht, er braucht den Spiegel eines Gegenübers, der ihm nichts verschönert, sondern ihn reflektiert und ihn aus seiner verzerrten Sicht von sich selbst und der Welt langsam zu einer gesunden Selbst- und Weltwahrnehmung hinführt. Gelingt das nicht, bleibt er hinter den Gitterstäben seines Käfigs ein Gefangener seiner selbst.  

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1 Kommentar:

  1. Hallo Frau Wende,

    vielen Dank für Ihren Artikel

    Er hat mir sehr geholfen.

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