Montag, 28. Dezember 2020

Wut

                                                            Malerei: Angelika Wende
 

 

Kotz sie aus, lass sie raus, alles besser als deine Wut runterschlucken.
Gerade heutzutage gibt es immer mehr Menschen, die genau das machen. All die unausgekotzte Wut, die schon lange in ihnen gärt, wird hemmungslos ausgekotzt oder hemmungslos anderen übergekippt. Der Respekt lässt eklatant nach und die verbale Aggression wächst exponentiell nahezu parallel zu den die Infektionszahlen der Pandemie. Wut ist zur Zeit omnipräsent. Auch spirituelle Heiler und Bewusstseinscoaches fordern immer häufiger ihre Follower im Netz auf die Wut rauszulassen. Nach dem Motto: Wut muss frei und ungebremst raus, weil das angeblich heilsam sei. Soziale Netzwerker haben sogar ein Interesse an wütenden Nutzern, denn Emotionen bringen Klicks und Likes.

Wüten ist also gut?
Meint man.
Man irrt.
Wüten ist nicht gut.
Das ist ein fataler Mythos.

Im Gegenteil, wer lautstark wütet und hemmungslos seiner Wut freien Lauf lässt, liegt falsch, wenn er meint sich damit etwas Gutes zu tun. So zeigten sich Probanden, denen man im Laborexperiment die Gelegenheit gab ihre Wut auszuagieren und erst damit aufzuhören, wenn sie selbst meinten, sie hätten jetzt intensiv und genügend gewütet, noch lange nach dem Wutausbruch anderen Personen gegenüber signifikant aggressiver als Probanden, die im Labor keine Gelegenheit bekamen ihre Aggressionen auszuagieren.

Das hemmungslose Abreagieren von Wut füttert also die Wut, anstatt die Seele zu befrieden. Fast immer, wenn wir wütend werden, liegt es daran, dass etwas nicht so läuft wie wir es wollen oder erwarten. Das Ego ist angepisst und reagiert mit Wut.
Wut ist ein Brennstoff, der Leid, Trennung und Spaltung schafft.
Mich wundert das nicht, denn niemals ist meine Wut kleiner geworden, indem ich sie einem anderen übergegossen habe. Im Gegenteil. Man schadet sich damit nur selbst.
Wut auskotzen bringt nichts außer noch mehr Wutenergie.
Wut die kopflos ausagiert wird, ist keine Erlösung und schon gar keine Lösung für nichts. Von dieser Vorstellung dürfen wir uns lösen, wenn uns an unserem Seelenheil und dem Heil unserer Mitmenschen gelegen ist.

Aber wohin dann mit der Wut?
Sich mit der eigenen Wut auseinanderzusetzen und sie zu ergründen ist heilsam. Sie unkontrolliert abzuladen ist unheilsam. Es ist wichtig, sich der Emotion bewusst zu sein und sie sich bewusst zu machen und das bedeutet eben nicht, sie unreflektiert auszuagieren, sondern hinzuschauen, woher sie kommt und was sie uns sagen will.

Es macht Sinn sich in die eigene Innenwelt zu begeben und sich zu fragen, was einen denn so wütend macht und warum man das Bedürfnis verspürt den Rest der Welt daran teil haben zu lassen. Man könnte sich fragen, was in einem selbst schon lange unbearbeitet und unverarbeitet gärt. Welches Schuldgefühl, welches Versäumnis, welche Verletzung, welche Trauer, welche Angst oder welche Ohnmachtserfahrung liegt der Wut zugrunde?
Sich mit der eigenen Wut auseinanderzusetzen und sie zu ergründen ist heilsam. Sie unkontrolliert abzuladen ist unheilsam.

Wut hat oft mit verdrängten Schatten zu tun, den die Wütenden nicht sehen wollen oder können. Wut hat auch immer etwas mit dem eigenen Selbstwert zu tun. Meistens liegen dem aggressiven Verhalten Verletzungen in der Vergangenheit zugrunde. Das sind z.B. wie gesagt Opfererfahrungen oder/und Diskriminierungserfahrungen. Die Wut fungiert dann als eine Umkehrung von einem Ohnmachtsgefühl in ein handlungsmächtiges Aktivwerden mittels Wut. Wut ist aus der Hilflosigkeit sich selbst, den eigenen Wunden, Schwächen und Fehlbarkeiten gegenüber geboren, die dann wütend auf das Außen projiziert wird, das schlecht ist und böse und dumm. Wo, könnten sich die wütenden Aggressoren fragen, bin ich selbst schlecht und böse und dumm?

Wut, die wir bewusst anschauen, hilft uns die eigenen Bedürfnisse zu erkennen für sie einzustehen. Sie ist ein Seismograf dafür, was in uns unerfüllt und ungelebt ist. In dem Moment, wo ich weiß, wo meine Wut herkommt, kann ich Verantwortung übernehmen und entscheiden, wie ich damit umgehe. Dann passiert es nicht, dass sie unkontrolliert hochschießt und zerstörerisch wirkt. Dann kann ich aus meiner Wut sogar Kraft schöpfen, indem ich sie in Kreativität wandle. Wut ist also auch eine wertvolle Ressource, denn sie gibt uns die Kraft, Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen und Dinge zu verändern, die einem nicht gut tun, zum Beispiel eine dysfunktionale Beziehung zu beenden.

Statt also auf den Wutimpuls zu reagieren, beobachten wir ihn. Wenn wir das tun, lassen wir Raum zwischen uns und dem Wutimpuls und in diesem Raum haben wir Zeit zu entscheiden was wir mit der Wut machen wollen und wozu sie uns nützlich sein kann. Wut ist ungut wenn wir sie irgendwo hinlenken, aber sie ist sinnvoll, wenn wir sie dahin lenken wo wir Essentielles zum Besseren hin verändern wollen. Sich mit den Ursachen der eigenen Wut auseinanderzusetzen stünde manch wütenden Mitmenschen gerade in dieser harten Zeit nicht schlecht. Es gibt schon genug Drama, man muss es nicht noch schüren, hochkochen und andere damit infizieren.

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