Freitag, 28. August 2020

Alleinsein ist okay

                                                                  Foto: A.Wende


Was fehlt Ihnen am meisten, wenn sie allein und ohne Beziehung sind?, frage ich meine Klientin, die in einer Beziehung mit einem Mann war, der sie nicht gut behandelt und jetzt verlassen hat.
Die Antwort: Mir sieht keiner beim Leben zu.Ich bekomme keine Aufmerksamkeit, keine Zuneigung, keine Liebe.
Aber sie sagen, sie haben von diesem Mann keine Zuneigung und keine Liebe bekommen, antworte ich.
Ja, sagt sie, das stimmt, aber ich war wenigstens nicht allein. Das halte ich nicht aus.

Meine Klientin zahlt einen hohen Preis um nicht allein zu sein. Immer wieder landet sie in toxischen Beziehungen. Und sie begnügt sich mit dem Einzigen, was sie von diesen Männern bekommt: Aufmerksamkeit.
Egal ob negativ oder positiv. Sie wird gesehen.
Jemand bezieht sich auf sie.
Sie hat das Gefühl und das Wissen in Beziehung zu sein. Sie ist nicht allein.

Was fühlen sie, wenn sie allein sind?, frage ich weiter.
Alleinsein, das bedeutet, etwas stimmt nicht mit mir. Ich bin nicht okay, nicht liebenswert. Ich fühle mich falsch. Schlecht. Mir geht es dann richtig schlecht. Ich habe Angst für immer allein sein zu müssen.Wer allein ist, mit dem stimmt was nicht, oder?

Wer da mit mir spricht ist das innere Kind dieser Klientin.
Das verletzte Kind, das früh verlassen wurde, das Alleinsein als Abweisung gespürt hat, als Zurückweisung seines Selbst. Verlassen sein macht Angst. Verlassen sein ist für das Kind eine existentielle Bedrohung. Das Kind denkt, es ist nicht liebenswert, darum wird es verlassen. Es wird allein gelassen, weil es nicht wert ist, dass man es sieht, sich um es kümmert, ihm Zuneigung schenkt. Es denkt und fühlt: ich habe es nicht verdient. Es ist davon überzeugt, dass es selbst Schuld ist, weil es nicht okay ist.

Aber diese Gefühle und Gedanken sind nicht wahr.as weiß das innere Kind meiner Klientin nicht.
Das weiß meine Klientin nicht.
Wahr ist, meine Klientin ist nicht allein, weil sie nicht okay ist, sie ist allein, weil sie glaubt, dass sie nicht okay ist.

Und um dieses alte Gefühl: „Ich bin nicht okay“, nicht aushalten zu müssen, lässt sie sich immer wieder auf Männer ein, die nicht okay sind und sie schlecht behandeln.
Sie fühlt sich bei einem Mann, der auch nicht okay ist, angekommen, ja sogar seelenverwandt, und gerät so immer wieder in Beziehungen, die sie emotional ausbluten.
Sie fühlt und handelt nach dem Irrglauben des inneren Kindes und läuft immer wieder in die gleiche Falle. Ich bin nicht okay, also habe ich es nicht verdient, dass da jemand ist, der mir das Gefühl gibt okay zu sein. Ich bin nicht okay, also habe ich nichts Besseres verdient als jemand, der auch nicht okay ist. Und dieser Jemand bestätigt ihr immer wieder den Irrglauben – du bist nicht okay, indem er sie nicht gut behandelt.

Ein Teufelskreis der negativen Verstärkung einer destruktiven inneren kindlichen Überzeugung.
Und darin wird meine Klientin verhaftet bleiben. Solange bis sie begreift, solange bis ihr inneres Kind begreift, dass es einem Irrglauben anhaftet. Solange bis dieses verletzte Kind begreift und fühlt: Ich bin okay, ich bin wertvoll, ich bin liebenswert. Ich habe Gutes verdient. Ich bin okay, auch wenn ich allein bin.

Der Weg dahin ist lang und zu diesem Weg gehört genau das, was meine Klientin so sehr fürchtet: Eine Weile darf sie allein sein. Sie darf lernen, dass Alleinsein keine Strafe ist, sie darf lernen, das Alleinsein nicht gefährlich ist, sie darf lernen, sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken und gut für sich zu sorgen, sie darf lernen, dass Alleinsein mit sich selbst okay ist. Erst mal. Bis sie fühlt, dass sie okay ist und sich selbst zugeneigt. Und dann wir sie niemand mehr folgen, der nicht okay ist für sie.

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