Mittwoch, 29. Juli 2020

Werde, der du bist oder vom Töten des Ego II

Foto: A. Wende

„Werde, der Du bist“, das proklamierte Nietzsche und hat es nicht geschafft. Sein ganzes Leben war ein einziger Kampf gegen seine hämmernden Kopfschmerzen und seine schmerzenden Augen. Es war eine Flucht und eine Suche, ein Wandern von einem Ort zum anderen, ein Kampf gegen seine innere Zerrissenheit, ein Leiden an seiner Einsamkeit in der Welt und ein Denken für die Welt, die er verändern wollte - für die Menschen und ihr Seelenheil, für die Liebe, die er selbst nicht leben konnte und all das Gute und das Glück, das er selbst nicht erreicht hat. Nietzsche war ein Mann der Worte, der erkennen musste, dass Worte zwar kraftvoll sind, denn ohne diese Kraft hätte er im eigenen Leben sicher nicht bestehen können, aber im Grunde sah er am Ende verbittert ein, dass Worte, außer dass sie das Bewusstsein immens erweitern, am richtigen Leben nichts Wesentliches verändern wenn man nicht danach leben kann. Das Leben will nicht nur geschrieben, nicht nur gesprochen werden - es will gelebt werden.

Tja, was also erwarten wir von uns, wir, die wir nicht so klug sind wie dieser kluge Geist und werden wollen, wer wir sind?
Wir erwarten zu viel. Wir fordern zu viel, wir fordern das Unmögliche von uns selbst. Immer und immerzu. In guten und in schlechten Zeiten. In gesunden und in kranken Zeiten.
Und was ist es in uns, was das fordert?
Natürlich das Ego. Das böse Ego, auf das alle schimpfen, wenn sie es beim anderen entdecken, damit sie es bei sich selbst nicht sehen müssen.

Einer sagte zu mir: Alles Wollen, das ist Ego. Es ist immer das Ich, das will und er sagte zu mir, dass nur der Frieden findet, der sein Ego tötet.
Ich habe mich gefragt, was ist das eigentlich genau – das Ego?
Ego ist ein Begriff, der synonym zum Begriff „Selbstbild“ verwendet wird. Das Problem an diesem Selbstbild ist: Egal, welches Selbstbild du von dir hast – es ist immer eine Illusion. Das bist nicht du. Es sind nur Eindrücke aus der äußeren Welt, Konditionierungen, Erfahrungen, innere Überzeugungen, die dein Selbstbild formiert haben. Dein Ego hat nichts mit deiner wahren Natur zu tun! Kam es aus der spirituellen Ecke meiner Denkmaschine.
Also im Klartext bedeutet Ego: Wer du selbst “denkst“, der du bist, das bestimmt dein Fühlen, dein Denken, dein Verhalten und welchen Wert du dir zuschreibst.

Wir kommen alle ohne Ego auf die Welt. Als kleines Kind haben wir keine Vorstellung davon, wer wir sind. Unsere Identität ist nicht formiert. In den Augen des kleinen Kindes ist die Bezugsperson und es selbst eins, es gibt keine Trennung in dieser Symbiose.
Erst im Laufe der Entwicklung, geprägt durch die Konditionierungen seiner Umwelt entwickelt das Kind ein Selbstbild, ein Ego. Diese Konditionierungen und äußeren Einflüsse gehen natürlich auch über das Kindesalter hinaus immer weiter. Und so ist das bei uns allen. Und so haben wir alle ein Ego. Aus einem Selbst, das keine Trennung kennt, das eins mit allem ist, wird ein Ego, das beginnt dieses Selbst zu erschaffen. Und so ist das wahre Selbst, das wir nicht kennen lernen, weil wir von Prägung überladen sind, überdeckt von all dem, was uns prägt. Man könnte auch sagen: Das Selbst ist ein unbeschriebenes reines Blatt, das beschrieben wird. Es nimmt alles auf, was ihm widerfährt und baut eine Geschichte daraus, von dem es glaubt sie sei wahr. Und es identifiziert sich damit. Und diese Identifikation ist dann das Ego.

Dieses Ego, dieses falsche Selbst, diese Illusion, die uns davor zurückhält unser wahres Selbst zu erkennen und damit zu entfalten. Das falsche Selbst bildet den Rahmen unserer Möglichkeiten in dem wir uns dann in unserem Leben bewegen und verwirklichen.
Das Ego sagt immer: „Ich bin“. Ich BIN dies und das. Anstatt zu sagen: Ich habe, ich handle, ich mache. Das Ego ist immer in der Identifikation. Auch was unsere Gefühle angeht. Ich bin die Angst, ich bin die Trauer, ich bin die Wut, anstatt – ich habe, ich fühle. Durch die Identifikation mit all dem, halten wir an diesem falschen Selbst fest und manifestieren es.

Aber ist es möglich, das Ego zu überwinden um unser wahres Selbst zu leben? Und macht es Sinn das Ego zu töten?
Stellen wir uns einmal vor, wir könnten die Identifikationen, die das Ego schafft, diese Illusion von uns selbst, einfach loslassen und frei entscheiden wer wir sind – also wer das überhaupt ist unser wahres Selbst.
Stellt sich die Frage: Wie etwas finden, was ob der frühen Konditionierungen erst gar nicht zum Vorschein kommen konnte. Wer bin ich, wenn ich nicht einmal die leiseste Erinnerung an mein wahres Sein habe, also an den, der ich im tiefsten Kern bin?
Wer bin ich ohne das, was man mir über mich selbst beigebracht hat, bevor man mich in einem Rahmen gepresst hat, bevor man mich mit Glaubensätzen überbordet hat, bevor man mich verletzt hat? Wer bin ich ohne dieses starre Selbstbild über das ich mich ein Leben lang schon definiere?

Wer bin ich ohne mein Ego?
Da meldet sich jetzt wieder die spirituelle Ecke in meiner Denkmaschine und sagt, was mein Herz in der Meditation manchmal fühlt: Du bist dein Körper, dein Atem und ... du bist Liebe, du bist reine Liebe. Du bist geboren um zu lieben und geliebt zu werden. Wie all die anderen Wesen, die geboren sind um zu lieben und geliebt zu werden, um Einander gut zu tun, mitfühlend zu sein, sich zu tragen und gegenseitig zu stützen. Das ist unsere wahre Natur.
Wie schön sich das anfühlt.
Nur leider schwer zu leben. Denn da ist ja das Ego. Das so massiv und nachhaltig installiert ist, das es das reine Lieben nicht mehr kann. Weil man es ihm aberzogen hat und weil es da draußen eine Welt gibt, die anders tickt. Eine Welt, die auf diese Liebe gar nicht antwortet, auch wenn wir sie im Überfluss verschenken. Weil sie voller Egos ist, die so weit gar nicht denken, ja sich dessen nicht einmal bewusst sind, das sie ein wahres Selbst überhaupt haben. Egos, die die Liebe mit Worten hoch halten, so hoch, das keiner mehr dran kommt. Sprachwort: Liebe.

Und um in dieser Welt zu überleben wäre es Selbstmord unser Ego zu töten.
Wir brauchen es. So wie das Kind, das lernt ICH zu sagen um ein eigener Mensch zu werden um sich aus der Symbiose zu lösen um überlebensfähig zu sein.
Unser Ego ist ein Teil unserer Ganzheit. Und es hat nicht nur „böse“ Seiten. Es ist mitunter sogar sehr hilfreich auf unserem Weg durch das Leben da draußen. Es ist okay ein Ego zu haben. Nur dürfen wir seine Macht, die wo sie unseren Denkrahmen einengt und uns schadet, hinterfragen. Wir dürfen den rigiden Rahmen unseres Selbstbildes aufbrechen indem wir die Identifikationen in denen wir leben hinterfragen, indem immer wieder und immer öfter außerhalb dieser Identifikationen agieren, indem wir etwas tun, was nicht unserem Selbstbild entspricht, sondern dem, was wir wirklich fühlen und sind. Auch wenn das Ego Angst bekommt, sobald wir das tun. Nutzen wir die Kraft unseres Selbst um diese Angst zu überwinden, denn diese Kraft ist gespeist durch die Liebe. Die Liebe ist die stärkste Kraft. Stärker als das Ego.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen