Sonntag, 11. Oktober 2020

Warum wir in Beziehungen bleiben, die uns nicht mehr gut tun

 

                                                                         Zeichnung: A. Wende

 

„Wenn du sie liebst, dann lass sie gehn“,  heißt es in einem Lied von Clueso. 

„Wenn du dich liebst, dann lass dich gehen“, wäre eine andere Variante. Obwohl wir wissen, dass es besser für uns wäre zu gehen, bleiben viele von uns in Beziehungen, die abgelebt sind, die unglücklich machen  oder sogar krank.

 

Was sind die häufigsten Gründe warum wir dennoch bleiben? 

 

Wir erleben den "Sunk Costs Effect"

Aktuelle Studien sprechen vom sogenannten. "Sunk Costs Effect". Er bezeichnet das Verhalten, an etwas festzuhalten, weil es uns Geld, Zeit, Gefühle, Kraft oder Mühe gekostet hat. Gäbe man es auf, wären diese Aufwände vergeblich gewesen und man müsste sich seinem Ohnmachtsgefühl, das die Erkenntnis der Vergeblichkeit hervorruft, stellen. Hält man stattdessen an der Beziehung fest, können sinnlose Investitionen und belastende Ohnmachtsgefühle verdrängt werden. 

 

Wir haben Angst vor Einsamkeit

Wir Menschen können alleine nicht lange überleben. Menschen schlossen sich immer schon zusammen um sich gegenseitig zu schützen und ihr Überleben zu sichern. Wir sind soziale Wesen und brauchen einander. Das ist tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. Zudem haben wir die Norm „Paar sein“, tief verinnerlicht. Viele Menschen fühlen großes Unbehagen, wenn sie allein sind. Andere können es gar nur schwer oder gar nicht aushalten. Im Alleinsein fehlt ein Gegenüber, ein Gegenüber, zu dem man innerlich gehört. Einsamkeit ist oft die Folge zu langen Alleinseins. Einsamkeit ist das Gefühl der Verlassenheit, sie ist das Leiden am Alleinsein. 

Studien zufolge ist die Angst vor Einsamkeit der häufigste Grund warum Menschen in unglücklichen oder destruktiven Beziehungen verharren. Statt sich dem Alleinsein und dem Gefühl der Einsamkeit zu stellen, bleibt man, aus Angst, es nicht aushalten zu können. Man verlässt sich lieber selbst, seine Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte, anstatt das Risiko einzugehen vielleicht im Zweifel eine Weile einsam zu sein.

 

Wir wiederholen unser Kindheitsdrama

Menschen, die in einem destruktiven familiären Umfeld aufgewachsen sind, in dem Lieblosigkeit, Sucht, Gewalt, emotionaler und/oder körperlicher Missbrauch erlebt wurde, fühlen sich im Tiefsten wertlos. Paradoxerweise fühlen sie sich aufgrund des Erlebten in einer destruktiven Beziehung, die ihnen dieses Gefühl immer wieder vermittelt, emotional zuhause und angekommen. Sie glauben, sie haben nichts Besseres verdient und erleben in Variationen Ähnliches, was ihnen aus der Kindheit vertraut ist. Dahinter verbirgt sich  der sogenannte Wiederholungszwang. Sie reinszenieren unbewusst ihr Kindheitsdrama mit immer wieder neuen Protagonisten, die sie nicht gut behandeln. Der inneren Stimme folgend: „Er/sie behandelt dich zwar schlecht, aber dieses Mal wird es gut werden, wenn du nur alles dafür tust geliebt zu werden“, tappen sie in die Falle des Unbewussten, das ihnen vorgaukelt die kindliche Vergangenheit endlich zum Guten wenden zu können, wenn es ihnen im Jetzt gelingt es gut werden zu lassen. 

Es wird nicht gut. Es wird dann besser, wenn die Wunden der  Kindheit angeschaut, bewusst gemacht und verarbeitet werden.

 

Wir knüpfen unseren Wert an eine Beziehung

Alleinsein hat einen schlechten Ruf. Wir glauben, dass wir alleine als Mensch nichts wert sind. Wir glauben vielleicht sogar, dass wir „falsch“ sind, wenn wir Niemanden an unserer Seite haben, der mit uns durchs Leben geht. Das hat viel mit Konditionierung zu tun. 

Wie oft haben wir das gehört? „Eine alleinstehende Frau? Mit der stimmt was nicht.“ „Ein ewiger Single: Mit dem stimmt was nicht.“ Single sein zwar ist okay, aber nur als vorrübergehender Zustand.

Glaubenssätze wie: „Wenn ich allein bin, stimmt mit mir etwas nicht“ sind tief verankert und sie haben wiederum mit dem Gefühl von Eigenwert zu tun. Wir glauben, wir brauchen den anderen, der uns mit seinem Dasein bezeugt, dass wir es wert sind zu sein. In Beziehung zu sein, ein Teil eines Ganzen zu sein, wert mit und bei uns zu sein. Und wenn wir das wert sind, sind wir okay. Sind wir allein, sind wir es nicht. Auch wenn wir uns nicht geliebt fühlen, auch wenn uns die Beziehung unsere Bedürfnisse nicht erfüllt, wir werden wenigstens gesehen, wir bekommen Aufmerksamkeit, sogar wenn es eine negative Aufmerksamkeit ist, was mit Wertschätzung absolut nichts zu tun hat. Das wird allerdings verdrängt. 

Der innere Antrieb den Eigenwert durch "In-Beziehung- sein" zu stärken, der Wunsch in eine Partnerschaft eingebunden zu sein und damit einen Mehrwert der eigenen Person zu empfinden, ist mächtiger als der Preis der Selbstverleugnung, der im Zweifel dafür gezahlt wird.

  

Wir sind in finanzieller Abhängigkeit

Der Partner verdient den Lebensunterhalt, er ermöglicht uns ein gutes Leben und schenkt uns eine materielle Sicherheit, die wir nicht aufzugeben bereit sind. Wir wollen auf das gute Leben nicht verzichten. Oder wir haben zu zweit ein Leben, das wir alleine nicht finanzieren könnten.

Die Fähigkeit für sich selbst zu sorgen wird angezweifelt. Also lieber bleiben als im Zweifel finanziell und sozial abzurutschen oder für die eigene Existenzgrundlage sorgen zu müssen.

 

Wir stecken in einem Zustand kognitiver Dissonanz

Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft als Coolidge-Effekt bekannt. Dissonanz entsteht dadurch, dass unterschiedliche Kognitionen miteinander hadern. Dies entsteht, wenn zwei zugleich bestehende Kognitionen einander widersprechen oder sich ausschließen, oder wenn ein Gedanke nicht in unser Wertesystem passt. Zwischen diesen Kognitionen können Konflikte „Dissonanzen) entstehen. Wir befinden uns in einer unbefriedigenden Beziehung, wir wissen das und machen uns vor, das alles nicht so schlimm ist um uns vor uns selbst zu rechtfertigen, weil wir sonst den Kontrast nicht aushalten würden zwischen dem was wirklich ist, und dem, was wir für richtig halten, als richtig empfinden und uns eigentlich wünschen. Wir beschönigen das Ungute und machen uns vor, dass es so schlimm nicht ist, weil es ja auch hin und wieder gute Momente gibt. Wir beschönigen den Menschen, der uns nicht mehr gut tut und rufen uns das Gute von einst in Erinnerung. Dieses Gefühl der inneren Unstimmigkeit führt zur Abspaltung der Realität. Das belastet die Seele so sehr, dass wir alles tun, um es loszuwerden. Also verhindern wir alles, was die Dissonanz füttern würde, und selektieren die Situation oder den Menschen nach unserer Erwartungshaltung. Wir machen uns selbst etwas vor. Und damit auch dem anderen.

 

Wir verwechseln Liebe mit Gewohnheit

Bisweilen verwechseln wir Liebe mit Gewohnheit. Der Partner ist uns vertraut, unsere gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen, das gemeinsame Leben, die gemeinsamen Rituale und die Zeit die wir miteinander gelebt und gestaltet haben. Die Liebe ist längst vergangen, der Partner ist selbstverständlich geworden oder uninteressant als Liebesobjekt. Im besten Falle leben wir wie Bruder und Schwester miteinander. Es gibt keine Neugierde mehr auf den anderen, es gibt kein Begehren und keine Leidenschaft mehr. Es gibt nur noch den Alltag der gut funktioniert und die gemeinsamen Interessen oder die gemeinsame Kindererziehung.

Unser Grundgefühl ist eine wachsende innere Leere und eine bedrückende innere Einsamkeit, aber wir bleiben, aus Gewohnheit und weil wir denken, es kommt ja sowieso nichts Besseres oder aus Angst vor dem Alleinsein und worauf wir dann alles verzichten müssten.

 

Wir haben Schuldgefühle

„Ich kann doch nicht gehen. Das kann ich ihm/ihr doch nicht antun. Ohne mich geht er/sie unter. Er/sie braucht mich doch.“So klingen Schuldgefühle.

Schuldgefühle machen abhängig. Sie lähmen, das eigene Leben und das des anderen. Denn der andere spürt sehr wohl, dass wir nicht aus Liebe bleiben.

Wer aus Schuldgefühlen heraus in einer kaputten Beziehung bleibt oder bei einem Menschen, der sich z.B. durch eine Sucht selbst zerstört und damit auch die Beziehung, haftet an und zwar an sich selbst und dem schlechten Gewissen, das er sich macht, weil er kein schlechter Mensch sein darf. „Ich darf den anderen nicht hängen lassen“, heißt im Grunde: „Ich will gebraucht werden, denn wenn ich nicht gebraucht werde, bin ich nichts wert oder habe keinen Lebensinhalt oder im schlimmsten Falle keine Lebensberechtigung.“ 

Das ist oft das unbewusste Motiv co-abhängiger Menschen.

Manche Menschen sind von Kindheit an auf Schuldgefühle konditioniert. Sie fühlen sich ständig schuldig für alles und jeden. Und damit fühlen sie sich gezwungen es wieder gut zu machen. Sie sind daher extrem manipulierbar. Der Satz: „Das kannst du mir nicht antun“, lässt sie am Unglück kleben wie die Fliege auf dem Honig. Das Ende der Fliege ist bekannt.

Schuldgefühle sind ungesund. Sie schaden uns selbst und dem Anderen mehr, als dass sie helfen. Sie sind ein zersetzendes Gift, das zu unzähligen Dramen führt.

 

Die Hoffnung stirbt zuletzt

„Er, sie wird sich ändern. Es wird wieder wie am Anfang wo alles so gut und schön war. So besonders, so einzigartig. Das kann nicht für immer vorbei sein.“

Wenn wir so denken leben in der Vergangenheit und sehen nicht was jetzt ist.

Wir projizieren das Jetzt in den Anfang und negieren die Realität.

Jetzt ist nichts mehr gut und schön. Es ist vielleicht sogar sehr ungut und unschön. Wir werden gedemütigt, belogen, betrogen und lassen uns schlecht behandeln. Oder wir streiten nur noch und die Beziehung ist längst  zum Schlachtfeld geworden.

Aber manchmal blitzt für Momente in der Zeit der Mensch auf, den wir so sehr liebten. Und alles ist wieder gut. Bis zum nächsten Drama. So entsteht mit der Zeit ein Suchtverhalten. Wie ein Suchtkranker greifen wir immer wieder nach der kurzen Erleichterung des schönen Rausches durch die Droge und nehmen den miesen Kater billigend in Kauf. Bis zur nächsten Dosis, wo es wieder so schön ist. Ein circulus vitiosus nimmt seinen Lauf. Die Hoffnung hält ihn am Leben. Sie gaukelt uns vor, dass es wieder gut wird, wenn wir nur lange genug ausharren. 

Es wird nicht gut. Wir zerfleischen uns selbst und den anderen.

 

Resignation

Das Leiden in und an der Beziehung ist normal geworden. Es wird als nicht mehr abwendbar empfunden. Es wird verharrt, weil die Kräfte am Ende sind. Das Selbstwertgefühl ist zerstört, es wird nur noch ausgehalten was ist. Die Kraft zur Veränderung  ist der Resignation gewichen.

 

All das sind Motive und Gründe warum Menschen bleiben, wo sie längst Abschied nehmen sollten. Aber diese Gründe zeigen auch wie schwer es ist zu gehen.

Partir cést toujours un peu mourir, sagen die Franzosen.

Gehen ist ein bisschen sterben. Und wir fürchten uns vor dem Sterben.

Dabei: Leben ist sterben. Jeden Tag. Nur fühlen wollen wir es nicht. Weil es weh tut.

 

1 Kommentar:

  1. Erstaunlich in welchem Ausmaß wir autoaggressiv/destruktiv mit uns selbst umgehen, als Überlebensstrategie. Ich selbst hab es immer wieder getan, glaube ich und ich erwische mich manchmal dabei, dass ich Menschen beneide, die in so einer Beziehung leben.

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