Sonntag, 25. Oktober 2020

Lockdown der Seele und eine Insel

 



Die Infektionszahlen steigen täglich, weltweit. Immer öfter höre ich von Menschen, die einen Infizierten kennen. Meine Nachbarin hatte Corona Verdacht. Sie ist negativ. Wir sind froh darüber.
Als ich am Freitag in der Notaufnahme saß, weil ich mir den Fuß verletzt habe, hörte ich ziemlich oft ein hupendes Geräusch. Ich fragte einen Pfleger was das bedeutet. Er sagte, es hupt, wenn ein potenzieller Coronafall in die Notaufnahme kommt. Wir haben heute zehn Fälle aufgenommen. Das ist verdammt viel, sagte er und dass die Leute zu lange warten, bis sie ins Krankenhaus gehen.
Mir wurde mulmig zumute, je länger ich warten musste. Am Liebsten wäre ich trotz heftiger Schmerzen wieder gegangen.
Ich bin geblieben.Was sollte ich auch tun.
Jetzt sitze ich hier an meinem Schreibtisch mit einem verstauchten Fuß. Gott sei Dank kein Bruch, aber ich habe Schmerzen, ich kann nicht gehen und ich denke nach. Wie so oft in den letzten Monaten über diese Pandemie.
 
Die Welt da draußen hat sich verändert. Fundamentales ist zerstört. Die Meisten von uns leben von einem Tag zum anderen.
Wir wissen nicht was kommt, wir können immer weniger planen. Wir müssen uns täglich auf neue Veränderungen einstellen. Das Meer an Möglichkeiten, das es einmal gab, ist geschrumpft auf die Größe eines Sees. Unsere persönliche und unsere kollektive Freiheit ist einer Verbots- und Gebotskultur gewichen. Wir leben seit Monaten in einem permanenten Alarmzustand. Das belastet den gelassensten Menschen. Das kann sogar wütend machen. Gerade hat der Dalai Lama ein Buch mit dem Titel "Be Angry!: Die Kraft der Wut kreativ nutzen", veröffentlicht. Ja, Wut ist absolut menschlich und ja, wir können sie kreativ nutzen. Viele Menschen sind gerade sehr wütend, weil sie frustriert sind, es leid haben, müde sind, vom dem was ist, erschöpft vom Kämpfen um ihre Existenz, niedergedrückt von der Angst. Das ist eine Wut, die Kreativität blockiert. Es ist eine ohnmächtige Wut.
 
Nach mehreren Wochen Ausgangssperre gab es im Sommer durch die Corona-Lockerungen die Hoffnung auf eine Besserung. Diese Hoffung war vergeblich. Jetzt mahnt die WHO, dass das Virus, ähnlich wie das HIV Virus, nie wieder weg gehen könnte und empfiehlt weiterhin "die höchstmögliche Alarmstufe". Die Politiker und die Virologen sind weiter uneins. Sie wissen nicht mehr was sie tun sollen. Fast schon verzweifelt wird Vieles versucht. Zur Zeit scheint scheint nichts wirklich wirksam um die Lage zu verbessern.Wir müssen realisieren, dass wir den einzig wahren Weg aus dieser Krise nicht kennen. Wir müssen erkennen: Wissen ist immer nur ein Wissen auf Zeit. Es gibt keine Klarheit und noch keine Lösung, die das Drama beendet.
 
Wo es keine Klarheit gibt leben Menschen in Unsicherheit.
Unser Jetzt: ein Leben im ständigen emotionalen Chaos. Das ist ungesund für die Seele, den Geist und den Körper. Mittlerweile sprechen sie in den Medien von einem Lockdown der Seele.
Worauf kommt es jetzt an, frage ich mich?
Hilft uns die Wut jetzt?
Sicher sie ist da, sie darf da sein, aber ist sie jetzt nützlich?
Wut ist die Brücke zur Trauer.
Ich denke wir müssen endgültig akzeptieren, dass es die Normalität, wie wir sie ein Leben lang kannten, nicht mehr gibt. Sie ist ein für alle Mal vorbei. Das ist leichter gesagt als getan. Auch mir fällt es schwer, was ich für selbstverständlich gehalten habe, nicht mehr tun zu können. Es ist wie wenn man eine Diagnose bekommt, die alles radikal verändert. Da ist erst einmal der Schock, den man verarbeiten muss. Dann kommt die Wut und wir jammern und klagen. Irgendwann kommt der Punkt, wo man begreift - dadurch ändert sich nichts. Es ist wie es ist, was einem da geschieht hat man nicht unter Kontrolle. Aber bis man dahin kommt ist es ein Prozess. Und am Ende dieses Prozesses ist Trauer. Trauer, das Gefühl, das jeder Abschied, egal wovon, nach sich zieht. Wir trauern um den Verlust dessen, was wir hatten.
 
Trauer ist heilsam. Mit der Trauer geben wir den Widerstand auf und akzeptieren was ist.
Erlauben wir uns zu trauern. Mit der Trauer hören wir auf uns etwas vorzumachen, wir hören auf so zu tun, als ob alles nicht so schlimm ist und erkennen an – ja, es ist schlimm. Es ist okay, dass wir so fühlen. Wir hören auf zu kompensieren um die Wut und den Schmerz nicht zu spüren und erlauben uns zu fühlen, anstatt uns mit Essen oder Alkohol oder anderen unheilsamen Dingen, zu betäuben. Weil das nicht funktioniert und nichts besser macht.
 
Das Bessere ist – wir schenken dem eigenen Leben und dem, was wir in unserem Einflussbereich noch gestalten können, bewusst mehr Beachtung. Wir kümmern uns um unser Immunsystem und sorgen für eine effektive Bewältigung von zusätzlichem Stress. Das bedeutet: Wir sortieren jetzt endgültig aus, was uns nicht gut tut, auf allen Ebenen.
Wir suchen nach dem, was uns gut tut und tun es so oft es geht.
Wir sorgen für die Regulierung unserer Emotionen – das heißt: Wir lernen Techniken zur Selbstberuhigung oder wenden Gelerntes regelmäßig an.
Wir schaffen uns eine Insel inmitten des Chaos. Diese Insel sieht für jeden von uns anders aus. Es macht Sinn darüber nachzudenken, welche Insel die Unsere ist. Meine ist das Schreiben. Die kleine Insel hält stabiler in aller Instabilität, die in unser Leben eingebrochen ist. Wir machen uns bewusst, nichts bleibt wie es ist, alles, alles, geht vorüber, und irgendwann auch diese Krise. Wir müssen da durch. Wir haben keine Wahl, aber wir können wählen, wie wir da durch gehen.

4 Kommentare:

  1. Liebe Angelika,
    danke für diesen Beitrag, der Hoffnung spenden kann in schwierigen Zeiten.

    Beste Wünsche aus dem Bergischen,
    Nicola

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  2. Ja das stimmt, wir müssen da durch. Ich weiß noch, wie mein Mann in Anbetracht der Tatsache, dass in Wuhan innerhalb kürzester Zeit große Krankenhäuser aus dem Boden gestampft wurden sagte: Oh, pass auf, das wird was Großes! Und ich hab leger abgewunken....leider hatte er recht. Es zieht einem den Boden unter den Füssen weg, aber dann denke ich mir auch, was ist mit denen, die nicht mal einen Boden unter den Füssen hatten? Die in Slums wohnen, in Armut, in Entwicklungsländern? Da dürfen wir sogar noch dankbar sein über lediglich AHA. Ein bisschen Hoffnung gibt mir der derzeitige Stand der Dinge in China, wo zwar immer noch zur Eigenverantwortung aufgerufen wird, das Leben aber wieder an Normalität gewinnt... Alles Gute und vielen Dank für den guten Text wieder mal! Gabi

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  3. Danke für deine Worte. Ja, ich habe das auch unterschätzt. Und ja, es zieht einem an manchen Tagen den Boden unter den Füßen weg. Aber wir schaffen das! Wir kommen da durch. "Normal" wie es war, wird es nicht mehr und darin liegt auch eine Chance,auch wenn wir diese noch nicht klar sehen können.

    Alles Liebe und Gute,
    Angelika

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