Dienstag, 6. Oktober 2020

Mit der Angst gehen ...

 

                                                            Foto: Angelika Wende

 
 
In meinen Sitzungen werde ich immer häufiger mit dem Thema Angst konfrontiert. Was mich nicht wundert. Immer mehr Menschen spüren Angst. Wir waten im Matsch. Das Vertraute ist längst zerbrochen. Zeitenwende. Wohin es geht? Das wissen wir noch nicht. Auf dem Weg ins Unbekannte ist das normale Leben, so wie wir es gewohnt waren, nicht mehr lebbar. Das macht Angst. Das ist vollkommen normal. Heute am frühen Morgen war ich beim Arzt. Im Wartezimmer der Praxis husten Menschen hinter Masken. Die nicht husten, wenden sich ab, schütteln den Kopf, runzeln die Stirn. Einer macht einen Witz: Corona! Die anderen, falls sie lächeln, was man hinter der Maske nicht sehen kann, schweigen. Das Wartezimmer ist zu klein um sich zu schützen. Abstand geht nicht. Misstrauen, Angst, Unsicherheit ist spürbar. Mir ist mulmig. So mulmig wie es mir in den letzten Monaten immer wieder ist. 

Ich denke an meine Klienten, an die, denen auch mulmig ist, an die mit der großen Angst, die zu mir kommen und mich bitten: Nehmen sie mir die Angst. Das kann ich nicht, sage ich dann. Die Angst kann man nicht wegnehmen. Es wäre schön, wenn man das könnte. Was man kann ist damit umgehen lernen. Im Umgang mit der Angst geht es immer um das Gelingen von Gelassenheit. Es geht darum über der Angst stehen zu lernen. Es ist Zeit die Angst zu enttabuisieren, denke im Wartezimmer und versuche das Husten zu ignorieren. Wir müssen drüber reden, sie aussprechen, miteinander reden über unsere Angst. Und aufhören uns dafür zu schämen, denn das macht sie nur größer. Ich spreche mit dem Arzt. Ich frage ihn, ob er Angst hat. Ja, sagt er, seit Corona jeden Tag.

„Die Angst besiegt mehr Menschen als irgendetwas anderes in der Welt", schrieb Ralph Waldo Emerson. So ist es jetzt. Die Angst scheint uns besiegen zu wollen. Uns immer kleiner machen zu wollen. Wenn Angst autorisiert wird, wird sie bedrohlich und sehr gefährlich. So ist es jetzt. Man macht uns Angst, legt immer mehr nach. Wir müssen auf uns achten, sonst sind wir verloren. Angst ist eine Erlebens- und Verhaltensweise, die der Bewältigung äußerer und innerer Bedrohung dient. Und jeder Mensch geht anders damit um. Manche haben mehr Angst, manche weniger. Aber jeder kennt sie. Und jeder empfindet sie mehr oder weniger stark. Angst ist eine der vielen BewohnerInnen im unendlichen Land unserer Seele. Sie kann schreckliche Abgründe haben, dann wenn sie ganz groß wird, so groß, dass sie das Leben zum Gefängnis macht. Dann wird sie zu einem reißenden Wolf, der die Seele auffrisst. „Angst essen Seele auf“, lautet ein afrikanisches Sprichwort.
Wenn das geschieht empfinden wir den totalen Weltverlust, es reißt uns ins Bodenlose – wir trudeln ins Nichts. Die Daseinsangst führt geradewegs ins existenzielle Vakuum. Kommt es soweit braucht der Mensch dringend Hilfe. Er kommt an eine Grenze, in der alle Selbsthilfe versagt. So weit soll es nicht kommen. Wir müssen auf uns achten.

Um die Angst nicht größer als uns selbst werden zu lassen gibt es Hilfen.
Beginnen wir mit der Wahrnehmung.
Wie gehe ich mit meiner Angst um? Immer dann wenn unbekannte Situationen auftreten. Immer dann, wenn die Erinnerung mich triggert. Immer dann wenn ich in die nicht fassbare Zukunft blicke.
Ich kann wählen.
Mich fragen: Wähle ich Angst oder Neugier?
Sehe ich die Gefahr oder die Chance?
Welche Selbsthilfemöglichkeiten habe ich?
Ich kann die Angst abatmen. Durch Atemübungen, die ich lerne und anwende, wenn die Angst kommt.
Ich kann mich bewegen, wenn sie kommt. Ich kann laufen, singen, tanzen.
Ich kann den Realitätscheck machen, wenn sie kommt.
Ich kann Mediation erlernen, Achtsamkeit, Progressive Muskelentspannung, Autosuggestion und vieles mehr.

Das Elementarste aber ist: Ich muss meine Angst um ihr auf Augenhöhe begegnen zu können, radikal akzeptieren.  Ja ich habe Angst! Und so ist es. Und das ist okay. Und das heißt nicht, das ich meine Angst BIN. Ich habe Angst, ein Teil in mir hat vielleicht sogar große Angst, aber andere Teile sind mutig und bewältigen das Leben. Und das ganze bin ich. Und wieder: Ich bin okay auch mit der Angst. Und jetzt gebe ich der Angst einen Namen. Meine heißt Frau Klein.
Und ich gehe mit ihr. Aber ich gehe nicht dahin, wohin die Angst will, sondern ich gehe dahin wo ich hin will, trotz und mit der Angst. Und wenn ich gegangen bin, belohne ich mich, dann bin ich stolz auf mich, weil ich es wieder geschafft habe.
Jeden Tag. Schritt für Schritt. Und ich nutze meine Selbsthilfemöglichkeiten. Angst, die nicht zum Wolf geworden ist, damit lässt sich leben. Ist sie dabei die Seele aufzuessen, ist sie krankhaft und das ist sie dann, wenn sie den Boden des Nachvollziehbaren verlässt, brauchen wir professionelle Hilfe.
Aber bis dahin gilt: Es ist okay Angst zu haben.

„Wer keine Angst hat, hat keine Fantasie.“ (Erich Kästner).

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