Mittwoch, 10. Juni 2020

Aus der Praxis: Der eingebildete Kranke – Hypochondrie verstehen


 
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Le Malade imaginaire, Der eingebildete Kranke ist eines der berühmtesten Theaterstücke von Moliere und zugleich sein letztes Werk. Die Komödie wurde im Februar 1673 uraufgeführt und Moliere selbst spielte darin die Hauptrolle des Argan. Argan ist besessen: er ist davon überzeugt krank zu sein, aber außer seinen Ärzten glaubt ihm das niemand. Mehr noch - alle lachen ihn aus. Es scheint wie eine Ironie des Schicksals, dass Moliere bei der letzten Vorstellung einen Blutsturz erlitt. Der Dichter starb in Kostüm und Maske nur wenige Stunden später.
Heute würde man Argan einen Hypochonder nennen. Menschen mit einer Hypochondrie werden sich in ihm und seiner quälenden Krankheitsangst wiederfinden, vorausgesetzt sie sind sich ihrer Störung bewusst.

Hypochonder gelten als hysterisch. Man sagt ihnen nach, dass sie sich ohne Grund verrückt machen. Für die Betroffenen selbst ist die Hypochondrie, auch „Krankheitsangst“ genannt, jedoch eine starke psychische Belastung mit hohem Leidensdruck. Hypochondrie ist ein ständiger Tanz gegen die Angst.
 
In der Psychologie zählt die hypochondrische Störung zu den somatoformen Störungen. Eine ausgeprägte Krankheitsangst geht häufig mit Ängsten, Panikattacken und einem zwanghaftem Überprüfen des Körpers nach Krankheitsanzeichen einher, was dazu führen kann, dass die Empfindungen noch unangenehmer werden oder dass Krankheitssymptome erst entstehen oder verstärkt werden. Die Krankheitsangst wird zwischen somatoformen Angst-, Panik- und Zwangsstörungen angesiedelt. 

Hypochonder haben eine übersteigert große Angst vor Krankheiten. Ständig kreisen ihre Gedanken sorgenvoll um ihre Gesundheit. Die Angst vor körperlichen Schmerzen, Leiden, Sterben und Tod beherrscht ihren Alltag und legt sich wie eine schwere Nebeldecke über alles andere. Sie sind besetzt von dem Gedanken, eine Krankheit wolle ihnen ans Leben und es ihnen nehmen.  
Die Angst des Hypochonders bezieht sich auf alle möglichen Köperteile und die dort potentiell entstehenden oder schon bestehenden Krankheiten, die er selbst diagnostiziert. Er betreibt intensive Recherchen im Internet oder in medizinischen Fachbüchern in Bezug auf die von ihm gefürchteten Krankheiten. Jedes kleine Wehwehchen kann für ihn Schlimmes bedeuten. Hypochonder achten übersteigert auf jedes noch so kleine Signal ihres Körpers, und nehmen es  bereits in geringer Intensität wahr.  Sie sind felsenfest davon überzeugt an einer Krankheit zu leiden oder demnächst krank zu werden und das immer ernsthaft. Sie rennen ständig zum Arzt um sich zu versichern, dass sie doch nicht so schwer krank sind wie sie glauben und, werden sie ob ihrer Angst und ihren Symptomen, die sie ja haben, nicht ernst genommen, wechseln sie Ärzte und Notfallambulanzen. Andere Betroffene wiederum vermeiden es zum Arzt zu gehen, obwohl sie Beschwerden haben, aus Angst, ihre Befürchtung krank zu sein, könnte sich bestätigen. 

Im Kopf des Hypochonders kreist ein Katastrophen-Karussell. Ein Karussell, das in Wahrheit weniger eine Krankheit als eine große Lebensangst am Kreisen hält. Diese Lebensangst ist bei vielen Betroffenen der Urgrund der Hypochondrie.
 
Der Hypochonder ist davon überzeugt, dass es ihm nicht gut gehen darf, dass er nicht gesund sein darf, dass er leiden muss. Und er leidet ja auch in seiner sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Hypochonder sind von der Persönlichkeit her oft depressiv-melancholische Menschen. Man schreibt ihnen narzisstische und hysterionische Verhaltensweisen zu, weil sie dramatisieren und nach Aufmerksamkeit schreien. So wie der Junge in der Geschichte mit dem Wolf, den er jede Nacht im Dorf ankündigt und der nie kommt, sondern erst dann, als dem Jungen keiner mehr glaubt: Der arme Junge wird schließlich vom Wolf gefressen. 

Das Leben mit einem Hypochonder ist anstrengend und es ist noch anstrengender selbst ein Hypochonder zu sein. Seine Krankheitsangst ist ein Drama in unzähligen Akten.  

Gefangen in seiner Angst produziert er jedoch unbewusst das Drama selbst. Immer mit einer Hybris und ohne Katharsis. Erlösung hat er nicht verdient, weil er tief im Innersten glaubt ein gutes und gesundes Leben nicht verdient zu haben oder weil er der Überzeugung ist, dass das Leben Leiden und Tod bedeutet.Diese destruktiven Überzeugungen sitzen wie eine Krebsgeschwulst in seinem Unterbewusstsein. Wer davon überzeugt ist kein gutes gesundes Lebens verdient zu haben, glaubt unbewusst von sich, dass er ein schlechter Mensch ist, dass er nicht wertvoll genug ist um leben zu dürfen und wenn, dann nur leidend und unter Schmerzen. Oder er glaubt, dass er für Etwas bestraft wird, was er einmal getan hat. Meist kommt dieser Glaube aus Introjektionen der Kindheit. Gefühle wie Scham und Schuld spielen bei der Hypochondrie eine nicht unwesentliche große Rolle. Wohlgemerkt all das ist dem Betroffenen nicht bewusst. In sein Bewusstsein schießt nur die seelische Angst – die sich in der Krankheitsangst einen Platz sucht, weil ihr wahrer Grund unbekannt ist. 

Die Ursachen der Hypochondrie sind noch wenig erforscht. Man geht jedoch davon aus, dass eine genetische Disposition und das Persönlichkeitsmerkmal „Neurotizismus“ eine Rolle spielen. Auch ein unsicher, ein unsicherer oder ablehnender Bindungsstil in der Kindheit und Alexithymie können eine Rolle spielen.  
Alexithymie ist ein Konzept der psychosomatischen Krankheitslehre.
Der Begriff wurde 1973 von den amerikanischen Psychiatern John Case Nemiah und Peter Emanuel Sifneos geprägt. Alexithymie bezeichnet die Unfähigkeit mit somatisierten Beschwerden umzugehen, Gefühle adäquat wahrzunehmen und sie zu beschreiben. Mit anderen Worten: Gefühle werden auf seelischer Ebene verdrängt und auf die körperliche Ebene verlagert. Beispielsweise werden Beschwerden wie Herzrasen nicht als Ausdruck von Angst erkannt, sondern als rein körperlich gedeutet.  

Die Hypochondrie ist ein Symptom, das selbst zur Krankheit wird und ein eigenes Krankheitsbild herausbildet, wenn tiefverdrängte Gefühle nicht erkannt und nicht verarbeitet werden konnten.  
Die meisten Hypochonder sind hochsensible Menschen. Sie besitzen ein geringeres Selbstbewusstsein verbunden mit erhöhter Empfindsamkeit für alles was verletzend ist und haben eine hohe Vulnerabilität. Der tiefenpsychologische Erklärungsansatz in Bezug auf die Hypochondrie geht von einem traumatischen Erleben in der Kindheit oder auch im späteren Erwachsenenalter als Auslöser für die spätere Neurose aus. Es ist kein Zufall, dass die Krankheiten, vor denen sich der Hypochonder besonders fürchtet, bei genauer Betrachtung in Beziehung zu früheren Erlebnissen in seiner Biografie steht. Bei Herzangst z.B. kann es sein, dass ein nahe Angehöriger herzkrank war oder früh daran gestorben ist. Auch eine frühe Konfrontation mit dem Tod eines geliebten Menschen in der Kindheit, die nicht verarbeitet werden konnte, kann so nachhaltig prägen, dass sich im späteren Leben eine Hypochondrie entwickelt.

Im Grunde können wir die Hypochondrie als die vom Betroffenen einzig mögliche Bewältigungs- und Selbstheilungsstrategie anderer unbewusster Probleme verstehen.  
Sie ist der unbewusste Versuch Kontrolle und Sicherheit in einem Leben herzustellen, das als unsicher und bedrohlich erfahren wurde und wird. Sie ist das Leiden eines Menschen, der sich selbst, dem eigenen Körper und dem Leben, nicht vertraut, weil sein Urvertrauen an einem Punkt in seinem Leben radikal erschüttert wurde. Sie ist ein Schrei nach Zuwendung und Aufmerksamkeit, die schmerzlich vermisst wird und keinen anderen Weg findet diese zu erhalten, als den über die Neurose.

Ein Hypochonder leidet wirklich und wenn er Schmerzen hat fühlt er sie wirklich. Man sollte ihn nicht verlachen wie den Argan in Molieres Komödie. Vielmehr braucht er Annahme, Verständnis und Mitgefühl für seine Lebens- und Todesangst. Er braucht Zuwendung, Trost und Liebe und vor allem einen guten Therapeuten, der ihm hilft seiner wahren Angst auf die Spur zu kommen, damit  diese nicht mehr auf den eigenen Körper projizieren werden muss. 
Die Behandlung der Krankheitsangst verfolgt mehrere Ziele. Sie soll dem Patienten helfen, alternative Erklärungen und Deutungen für seine Missempfindungen zu finden, die Wahrscheinlichkeit der Krankheitsannahmen zu verändern und das nach Sicherheit suchende Verhalten zu reduzieren. Ein wichtiger, edukativer Bestandteil der Therapie besteht darin, dem Betroffenen zu vermitteln, welche Körperempfindungen normal sind, wie zum Beispiel sein Herzschlag oder die Bewegungen des Magen-Darmtraktes. Darüber hinaus wird vermittelt, zu welchen körperlichen Reaktionen Stress und Angst führen, denn diese kommen unter anderem als Erklärung für sein Missempfindungen infrage. Der Betroffen lernt sich selbst neu zu beobachten und seine Symptome auf gesunde Weise zu deuten. Es geht besonders darum zu lernen, realistisch die Wahrscheinlichkeit abzuwägen, ernsthaft krank zu sein. Dazu gehört auch die Aversivität von Körperempfindungen und Krankheitsängsten zu reduzieren, indem beispielsweise angstbesetzte oder Gedanken von Trauer zugelassen und hinterfragt werden. Auch Achtsamkeitsübungen sind hilfreich. Achtsamkeitsübungen wirken erwiesenermaßen sehr gut gegen alle Arten von Angstzuständen. Da die Komorbidität mit Depressionen, Angst-, Panik- Zwangs- und Somatisierungsstörungen hoch ist, sollten diese Störungen unbedingt mit einbezogen werden.
Es ist ein langer Weg, aber es kann gelingen, die Krankheitsangst zumindest auf ein Maß zu reduzieren, dass sie nicht das ganze Leben beherrscht.

Findet der Hypochonder keinen Ausweg lebt er sein einsames Drama weiter – ohne Katharsis wie gesagt, denn auch wenn er ständig mit dem Tod spielt, die Angst vor dem Tod verliert er trotzdem nicht.

www.wende-praxis.de




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