Mittwoch, 24. Juni 2020

Aus der Praxis – Heimatlos

 
Malerei: A. Wende


Anna erzählt:
"Ich habe oft Gedanken der Zerstörung. Mich selbst zerstören und mir ausmalen wie ich es tun könnte. In den zerstörerischen Gedanken finde ich kurzzeitig eine Art Befriedigung, aber keine Erlösung. Im Leben bin ich nicht fähig zerstörerisch, brutal oder gewalttätig zu sein, nicht auf der körperlichen Ebene. Ich kompensiere meine Aggression indem ich diesen Gedanken nachhänge. Das wirkliche Ausmaß an Gewaltbereitschaft, das ich besitze und verdränge, ist mir nicht bekannt. Ich habe als Kind viel Aggression erlebt. Ich habe mich nicht wehren können gegen die verbale und körperliche Gewalt, die ich erleben musste. Ich habe nicht gelernt, wie man sich wehrt, ich habe nicht gelernt wie man sich abgrenzt, aber wie man überlebt, das habe ich gelernt. Wenn du als Kind misshandelt und missbraucht wirst, sei es körperlich oder emotional, oder beides, hast du keine Waffen, die dir helfen könnten. Du bist absolut wehrlos. Du bist fassungslos. Du hast nur diesen Gedanken: Ich verstehe das nicht!"

Anna ist über Fünfzig. Sie lebt allein. Ihre Beziehungen halten nicht lange. Meist sind sie zerstörerisch, geprägt von Abhängigkeit und einem ständigem On und Off.
Sie ist zu mir gekommen um zu verstehen.

 ...

Wie soll ein Kind verstehen, dass Menschen, die es liebt und von denen seinen Überleben abhängt, fähig sind es zu verletzen. Das versteht ein Kind von vier oder fünf Jahren nicht. Es beginnt zu glauben, dass es schlecht ist, dass es böse ist, dass es verdient hat, was man ihm antut. Um eine Entschuldigung für den oder die Täter zu finden, macht es sich selbst für sein Lied verantwortlich.
Es intojiziert das Böse der Täter, es verinnerlicht das Fremde als eigenes. Auf diese Weise wird das fremde Böse zum eigenen Bösen. Hier beginnt die Spaltung des Inneren. Das Kind muss das tun, um die Eltern weiter als gut empfinden zu können. Indem es selbst die Ursache des Bösen ist, gelingt es ihm die lebensnotwenige Beziehung zu den Eltern zu erhalten. Es sagt sich: Sie haben mich lieb, aber ich bin böse, darum haben sie einen guten Grund mich schlecht zu behandeln. Wenn sie mir wehtun, habe ich es verdient. Ich bin schlecht, nicht sie. Sie weisen die Schuld ja auch von sich und sagen, du bist ein böses Kind. Die Eltern haben immer Recht.
Die Tragik des Kindes liegt darin, dass es sich zum einen selbst aufgibt und zum anderen das Böse als Eigenschaft in sich selbst aufnimmt. Dort bleibt es, lebenslang, wie ein Dämon, der ihm sagt, was es tun muss, um sich selbst zu schaden. Das geschieht unbewusst.   


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Anna erzählt:
„Mein Vater hasste sich selbst, er hasste seine Arbeit, seinen Körper, sein Leben. Er hasste uns Kinder und er hasste sich wohl selbst für seinen Hass. Er war immer aggressiv. Er sagte, ich sei schlecht, ich sei an seinem Unglück schuld. Er sagte ständig solche Dinge zu mir. Er hat mir damit Angst gemacht. Ich blieb verwirrt, verängstigt und mit einem schlechten Gefühl zurück. 
Ich habe meine Mutter gefragt, was ist mein Fehler, was habe ich dir getan? 
Sie sagte, der Fehler ist, dass du überhaupt da bist. Du bist ist das Unglück. Sie sagte, ohne dich hätte ich deinen Vater niemals geheiratet, wegen dir habe ich meine Träume begraben müssen, wegen dir habe ich ein ungelebtes Leben. Das kannst du auf meinen Grabstein schreiben, wenn ich tot bin. 

Ich hatte immer eine Bringschuld, ich musste ihnen und mir selbst beweisen, dass ich es doch in irgendeiner Weise wert war zu leben. Die Grundschuld, überhaupt am Leben zu sein, die ist da nch heute es darf mir nichg tu gehen. Wenn es mir gut geht, kommt die Angst. Ich empfinde dann Todesangst. Da ist immer der gedanke: Du darfst eigentlich nicht leben, aber wenn du schon lebst, dann fühle dich schlecht und schuldig! Irgendwie denkst du immer es wäre besser nicht da zu sein und entwickelst Selbstzerstörungstriebe. Man muss da sehr aufpassen auf sich selbst, dem nicht nachzugeben.

Mein Vater war ambivalent. Einerseits hatte ich das Gefühl, er mag mich, weil er mich manchmal auf den Schoß nahm und mir Dinge erklärte, andererseits war da dieses Vernichtende in seinen Worten und Blicken. Irgendwie fühlt es sich an als sei mein Empfinden für mich selbst in zwei Teile gespalten – der eine, der sich selbst zerstören will, weil er glaubt schlecht zu sein und kein Recht auf ein Leben zu haben, der andere, der rebelliert, weil er leben will, weil der Vater ihn doch irgendwie zu mögen schien. Leben, aber wie? Wie geht leben? Wie fühlt sich das an? Es gibt da keine Erlösung und immer bist du gefühlt schuldbeladen. Und dann ist da eben auch diese Aggression. Mich kaputt machen, damit es enlich aufhört weh zu tun.
Es war vollkommen egal, was ich machte, alle Versuche Liebe oder Anerkennung zu gewinnen, alle Anpassungsversuche bewirkten nichts. Ich konnte diese Ablehnung nicht ändern. Ich führe ständig Krieg in meinem Inneren, die Eine kämpft gegen die Andere. Ich will eine Identität finden, ein klares umrissenes Ich. So ist das kein Leben mehr."
...

Annas Leben – das ist die Suche einer Frau, die in dieser Welt noch keinen sicheren Ort gefunden hat, die nicht weiß, wohin sie gehört, weil sie nicht weiß, wer sie ist. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Wenn ein Mensch keine Heimat sich selbst hat, ist er heimatlos. Er ist immer auf Besuch, niemals angekommen. Wie auch? Er sucht ja sich. Das ist ein ewiges Getriebensein. Das ist der Identitätszweifel, der verzweifelt macht, ein ewiges Schwanken, ein Gefühl von unvollständig sein, von falsch sein, ein Gefühl der Spaltung. Existenzschuld, die das Leben zur Qual macht.
Wer gelernt hat, dass er kein Recht auf Leben hat, hat auch kein Gefühl für Autonomie, denn das würde ja bedeuten für sich selbst zu stehen. Und wie soll ein Mensch wie Anna zu sich selbst stehen, wenn man ihr Selbst vernichtet hat? Autonomie erlangen, das ist die Herausforderung für die, die nicht wissen, wer dieses Selbst ist.
Ein langer Weg.
Auf diesem Weg begleite ich Anna.

2 Kommentare:

  1. ja, passt ganz gut..habe auch Selbst-und Fremdzerstörungstriebe. Meine Suizidgedanken nehmen ständig zu..kann nicht mal vernünftig sprechen und möchte kaum noch aus meiner Wohnung, die ich überhaupt nicht mag...wie muss das sein, wenn man eine Sprecherausbildung absolviert hat, kann ich mir gar nicht vorstellen..Mein Bruder und eine Bekannte sagen, ich solle mich dringend um eine Therapie kümmern..welche soll denn was leisten? Es kann sowieso nirgendwo mehr hingehen.
    Guten Tag, ich möchte nicht mehr leben..achso, ja dann..vor allem meine Eltern habe ich schon stark in Mitleidenschaft gezogen..am liebsten will ich nicht mehr sein, nicht mal eine grundständige Ausbildung kann ich vorweisen mit Ende 30

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  2. Nicht mehr leben oder SO nicht mehr leben?

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