Sonntag, 26. November 2023

Das Ganze und seine Einzelteile

 

                                                           Malerei: Angelika Wende


Der Mensch ist ein soziales Wesen, das heißt nicht nur, dass wir ein soziales Umfeld und soziale Kontakte brauchen und haben, das heißt ebenso, dass das soziale Umfeld in dem wir leben uns stark beeinflusst. Viele Probleme mit denen Menschen zu kämpfen haben resultieren aus dem Umfeld in dem sie leben. Sie hängen sehr oft auch mit sozialen Umbrüchen zusammen.
Die Coronakrise, Kriege, Flüchtlingsflut, Klimakrise, radikale Veränderungen in der Arbeitswelt, hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, steigende Inflationsrate, die Medien mit ihrer Informationsflut, der Verlust sozialer Bindungen, das Auflösen haltgebender familiärer Beziehungen, eine hohe Scheidungsrate, zunehmende Vereinzelung, Altersarmut, Kinderarmut, Zukunftsangst und vieles mehr beeinflussen nicht nur die Gesellschaft sondern jeden Einzelnen von uns, der in dieser Gesellschaft lebt.
Die Folgen des gesellschaftlichen Wandels, der sich seit Beginn der Coroankrise vollzieht sind unübersehbar: Wir haben eine steigende Zunahme von psychischen Störungen, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, Verhaltensstörungen (besonders bei Kindern und Jugendlichen) Anpassungsstörungen, Angststörungen und affektive Störungen zu denen Depressionen zählen.
Die Stapelkrisen und der Wandel, der sich immer schneller vollzieht und immer herausfordernder wird, verlangt vom Einzelnen eine hohe Anpassungsleistung. Dies führt zu großen persönlichen Herausforderungen. Immer mehr Menschen aber schaffen die Anpassung nicht mehr. Sie sind emotional überfordert. 
 
Die Gesellschaft krankt und erzeugt in Folge Krankheit beim Individuum. 
So sind heute psychische Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Jeder Vierte ist häufig gestresst. Hauptbelastungen sind die Arbeit, Selbstansprüche und die Angst um Angehörige. Das zeigt die Stressstudie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2021. Laut der Studie leidet ein Großteil der Menschen unter Erschöpfung (80 Prozent), Schlafstörungen (52 Prozent), Kopfschmerzen und Migräne (40 Prozent), Niedergeschlagenheit bzw. Depressionen (34 Prozent).
 
Die Psyche vieler Menschen streikt.
Eigentlich eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde Umwelt. Aber hilft uns das weiter?
Und wo führt das hin?
Wie wollen so viele psychisch angeschlagene Menschen eine kranke Gesellschaft gesunden lassen? Wie sollen in einem derart ungesunden Kollektiv gesunde Kinder aufwachsen, sich entwickeln und entfalten? Wie sieht die Zukunft einer Gesellschaft aus, die krankt ?
Ich will mir das gar nicht ausmalen. 
 
Viele Menschen gehen in Therapie, falls sie denn das Glück haben einen Therapieplatz finden, um seelisch zu gesunden oder ihre Probleme zu lösen. Es ist jedoch ein Mythos zu glauben, man brauche nur eine Therapie oder ein Coaching um sein Leben zu verbessern. Bessern sich die äußeren Umstände nicht oder ist das soziale Umfeld ungesund, ist beides nicht von Erfolg gekrönt.
Daher ist wichtig, außer dem Klienten selbst, auch die Lebensumstände zu erkennen, die hinter seinen Problemen liegen und diese aufrechterhalten. 
 
Nun kann man natürlich nicht die ganze Gesellschaft als Einzelner ändern, aber man kann sich als Einzelner bewusst machen, was die Seele zusätzlich krank macht und es ändern.
Je mehr Einzelne das tun, desto größer die Wirkung auf das Ganze.
So hilft es z.B. überhaupt nicht, wenn ein co-abhängiger Mensch in die Therapie geht und nach den Sitzungen zuhause täglich Kontakt mit seinem alkoholkranken Partner hat. Es hilft nichts, wenn einer an der Beziehung arbeitet und der andere nichts tut. Es hilft nichts, wenn man Tag für Tag einen Job macht, der ausbrennt und man einmal pro Woche in Therapie geht um den Stress besser aushalten zu können. Es hilft nichts, wenn ein Kind, das unter Zwängen leidet, therapiert wird und das Familiensystem nicht mitbehandelt wird.
Wir müssen umdenken, wenn wir mit Menschen arbeiten, wir müssen uns ein Bild von ihren Lebensbedingungen machen und das Problem nicht allein im Einzelnen suchen, sondern auch den Kontext beleuchten in dem ein Mensch lebt um das ganze System zu begreifen, um zu erfassen, was, außer der eigenen Psyche, Probleme macht und vor allem – was diese Probleme weiter aufrecht hält und füttert. 
 
Was kann der Einzelne tun?
Beobachten, sich selbst und sein nahes Umfeld.
Genau hinschauen und identifizieren, was da an Unheilsamen vom Außen auf das Eigene wirkt, wie stark es destruktiv wirkt, wie sehr es dem eigenen Seelenheil schadet und es ernst nehmen und zu lösen versuchen, oder Abstand nehmen, oder sein lassen oder loslassen.
Hört sich einfach und radikal an, ich weiß, aber bisweilen ist die Wahrheit einfach und radikal. Auch wenn es eine große Herausforderung ist sie zu akzeptieren und danach zu handeln. Hier ist jeder von uns gefragt: Was kann ich Heilsames tun?
Für mich selbst und die Gemeinschaft. 
 
 
“When a flower doesn't bloom, you fix the environment in which it grows, not the flower.”
Alexander Den Heijer


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen