Dienstag, 31. Januar 2023

Loslassen und „es sein lassen“ - das ist doch das Gleiche. Oder?

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Loslassen und „es sein lassen“ - das ist doch das Gleiche. Oder?
Ich sehe das anders. Es ist nicht das Gleiche.
Warum?
Ich kann etwas sein lassen.
Zum Beispiel kann der Alkoholiker das Trinken sein lassen. Das bedeutet noch lange nicht, dass seine Gedanken, der Suchtdruck und das Suchtgedächtnis den Alkohol los gelassen haben. Ich kann mich von einem Menschen trennen und die Beziehung und ihn sein lassen. Das bedeutet noch nicht, dass ich ihn nicht vermisse, nicht an ihn denke und nicht um die Beziehung trauere. Ich kann einen Traum sein lassen, das bedeutet nicht, dass ich, obwohl ich ihn aufgegeben habe, nicht um den Verlust trauere und ihm weiter nachhänge.
Im „es sein lassen“ befinde ich mich emotional weiter in der Verstrickung.
Etwas sein lassen bedeutet lediglich: Ich lasse davon ab. Ich mache das nicht mehr(mit).
Meist ist dies eine rationale Entscheidung, deren Konsequenzen mir bewusst sind. Ich bin bereit sie in Kauf zu nehmen und damit zu leben. Wie auch immer das aussieht.
Etwas loslassen bedeutet: Ich gebe keine Gedanken, keine Gefühle und keine Energie mehr in etwas oder in Jemanden hinein. Es löst sich aus meinem Energiefeld. Es löst sich auf allen Ebenen – Körper, Geist und Seele.
Im Loslassen habe mich aus der Verstrickung gelöst.
Ich bin sie los. Sie hat sich aufgelöst. Ich bin frei davon.
Genau deshalb ist das Loslassen so schwer. Einfach loslassen funktioniert nicht, wenn die Seele nicht bereit ist.
Loslassen geschieht, ohne dirigistische Eingriffe.
Da helfen keine Tipps, keine Ratschläge, keine Pro und Contra Listen und schon gar keine Forderungen an uns selbst.
Loslassen ist ein komplexer, innerer, emotionaler Prozess, den ich mit dem Verstand nicht vorantreiben kann. Loslassen ist ein intensiver Prozess, der mit dem „es sein lassen“ beginnt.

Sonntag, 29. Januar 2023

Aus der Praxis: Mit der Angst umgehen lernen

  


Der Wunsch Angst loszuwerden führt zu den verschiedensten, meist unangemessen und wenig hilfreichen Lösungsmustern. Vom Versuch der Verdrängung über Betäubungsversuche mit Alkohol und Tabletten, bis zur Vermeidung. Ängste werden so nur stärker. Aber wie kann man den Umgang mit Angst verändern? Wie ihr angemessen begegnen?

Ein Patentrezept gibt es nicht, aber viele Möglichkeiten um einen angemessenen Umgang mit der Angst zu lernen.
Dazu gehört: Die Angst nicht mehr bekämpfen. Leicht gesagt und schwer getan. Es geht im ersten Schritt um:
Akzeptanz
Es ist hilfreich, wenn wir unsere Angst zunächst einmal akzeptieren. Akzeptanz führt dazu, dass man den Druck rausnimmt. „Es ist okay, Angst zu haben.“
Das bedeutet nicht, dass die Angst kleiner wird, es bedeutet mit der Angst besser zurechtzukommen, obwohl man sie hat und sie ein wenig zu entkräften.Je mehr wir gegen die Angst ankämpfen, desto mächtiger bäumt sie sich nämlich auf.
Mit der Angst gehen, anstatt gegen sie angehen. Sie darf da sein, aber ich mache es trotzdem - mit der Angst.

Die Realität prüfen
Angst wird weniger bedrohlich, wenn wir unterscheiden lernen, ob sie realistisch ist oder irrational. Heißt: zu unterscheiden, ob sie begründet oder unbegründet ist, also ob eine echte oder eine eingebildete Gefahr oder Bedrohung besteht.

Angst wird oft von einer inneren Stimme gefüttert und aufrechterhalten. Diese Stimme gilt es zu identifizieren. Also herauszufinden, was der Urgrund der Angst ist. Wie alt sie ist, aus welcher Zeit sie stammt. Viele erlebte Gefühle im Jetzt stammen aus unserer Kindheit und ziehen uns wie in einem Sog nach Hinten in die alte Gefühlswelt, die mit dem Jetzt nichts zu tun hat. Jetzt sind wir keine Kinder mehr und haben ganz andere Möglichkeiten mit Angstgefühlen umzugehen. Dies gilt es bewusst zu machen. Das ist oft ein langer Prozess. Wenn wir den Grund gefunden haben, heißt es noch nicht, dass diese alte innere Stimme aufhört uns Angst zu machen.
Hilfreich ist es dann diese Stimme jedes Mal zu hinterfragen:
Was will sie? Was will sie mir sagen? Was genau ist die Bedrohung? Wovor will sie mich schützen? Wozu ist die Stimme der Angst vielleicht gut?, im Sinne von: Was muss ich nicht tun, waskann ich vermeiden, wenn ich ihr glaube? Und dann: Was braucht mein ängstlicher Teil jetzt um sich zu beruhigen?

Gesunde innere Anteile erkennen
Auch wenn wir Angst haben, es gibt, außer bei extrem pathologischen Angststörungen, immer noch einen inneren Anteil, der klar denken kann und handlungsfähig ist, sonst wären viele Angstpatienten schon längst verrückt geworden.
Diesen inneren Anteil gilt es zu stärken indem wir erkennen: "Ich bin nicht meine Angst, ich habe Angst". Sobald wir begreifen, dass das Gefühl der Angst nur ein Teil unserer inneren Anteile ist und es auch noch einen gesunden Anteil gibt, kann dies die beiden Teile aneinander rücken und die inneren Machtverhältnisse in eine gewisse Balance bringen. Das bedeutet: Wir erkennen, wir sind nicht kleiner als unsere Angst. Das macht Mut.

Ungewissheit aushalten
Ungewissheit aushalten lernen ist ein weiterer Faktor um mit Angst besser umzugehen.
Ungewissheit ist eine Realität des Lebens. Wir haben nicht alles unter Kontrolle. Die Dinge geschehen, auch wenn wir es nicht wollen. Krieg, die Corona Pandemie, Unfälle, Krankheiten, Verluste, Sterben und Tod sind Teile des Lebens auf die wir keinen Einfluss haben. Wer meint alles kontrollieren zu können ist mit dem Leben und all dem, was es ausmacht, nicht verbunden.
Wir sind nicht alleinige Schöpfer unseres Lebens, das ist menschlicher Größenwahn. Diese Sichtweise führt dazu, dass wir Ungewissheiten immer weniger tolerieren, und damit entfernen wir uns vom Menschsein. Wenn wir dann merken, dass wir doch nicht alles unter Kontrolle haben, spüren wir Hilflosigkeit und dann kommt Angst.
Leben bedeutet auch: mit Unsicherheit und bedrohlichen Situationen umgehen zu lernen. Das sollten wir verinnerlichen. Um mit dem Unwägbaren umzugehen hilft es sich selbst zu vertrauen, dass man im Falle des Falles damit umgehen kann.

All das sind nur einige Möglichkeiten angemessener mit Angst umzugehen. Wie bei anderen psychischen Gesundheitsproblemen kann Angst nicht immer durch Ändern der Denkmuster überwunden werden, und es ist wichtig zu erkennen, dass verschiedene Behandlungsmethoden wiederum bei verschiedenen Menschen funktionieren. 

Grundsätzlich aber geht es bei der Angst immer darum die Angst vor der Angst loszulassen, die Vermeidung sein zu lassen, mit der Angst auf Augenhöhe zu kommen und ihr ihre Übermacht zu nehmen, damit sie nicht weiter am Leben hindert. Und: Letztlich kann Angst auch eine Chance sein uns zu entwickeln und zu wachsen, denn sie hat auch positive Seiten: Sie zeigt uns wo in unserem Leben etwas nicht stimmt und dass wir das ändern dürfen.

"Angst wurde im selben Moment wie die Menschheit geboren. Und da wir sie niemals meistern können, müssen wir lernen, mit ihr zu leben - so wie wir gelernt haben, mit Stürmen zu leben."
Paul Coelho

Mittwoch, 25. Januar 2023

Aus der Praxis: Krankheitsangst

 

                                                                       Foto: A. Wende
 

Angst steht am Beginn vieler neurotischer Störungen wie z.B. Phobien, soziale Ängste, Zwangserkrankungen, Krankheitsangst, Hysterie, Borderline u.a.

Die Reduktion der Angst durch Vermeidungsverhalten hält diese Störungen aufrecht.

Dasselbe gilt für psychosomatische Störungen, deren gemeinsame Ursache eine lang anhaltende erhöhte Aktivierung durch unkontrollierbare und/oder belastende Lebensbedingungen- und Ereignisse darstellt. Auch am Beginn vieler Süchte, besonders der Alkoholsucht, steht die angstreduzierende Funktion. Im Rahmen der Verhaltensmodifikation wurden einige Behandlungsverfahren zur Reduktion verschiedener Formen der Angst entwickelt. Allgemein geht dabei vom Konzept der Angst als Reaktion auf psychologischer, physiologischer und der Verhaltensebene aus. Ziel jeder Angstbehandlung ist das Herunterfahren des erhöhten zentralnervösen vegetativen Erregungsniveaus. Bei vielen Angsterkrankungen gelingt das. Schwer behandelbar allerdings sind Zwänge und Krankheitsangst. Letztere, auch Hypochondrie genannt, wird oft verlacht. Dabei leidet jeder Mensch irgendwann einmal unter der Angst krank zu werden. Man denke an die Corona-Pandemie, die eine nahezu zwanghafte Massenkrankheitsangst ausgelöst hat. 

 

Angst vor Krankheit ist ein normales gesundes Phänomen. Erst wenn diese Angst über mindestens ein halbes Jahr bestehen bleibt und trotz ärztlicher Untersuchungen und positiver Rückversicherung weiter anhält, es also aus medizinischer Sicht keinen akuten Grund gibt, dass der Betroffene krank ist, spricht man von Krankheitsangst.  

Wer sie  kennt, weiß, sie ist die ganz und gar nicht zum Lachen. Sie ist eine ernstzunehmende psychische Störung, die das ganze Leben beherrschen und destruktiv beeinflussen kann.  Typische Gedanken bei Krankheitsangst sind beim kleinsten Unwohlsein oder einer körperlichen Missempfindung: „Es könnte etwas Schlimmes sein. Ich könnte ernsthaft krank sein oder es werden.“ Je bedrohlicher die angenommene Erkrankung scheint, desto mehr steigert sich die Angst der Betroffenen. Das geht bis hin zum Katastrophisieren, das mit den Gedanken an ein qualvolles Leiden, Sterben und Tod endet. Das Fatale ist, Betroffene können die Gedanken nicht abstellen. Es gelingt ihnen nicht gelassen das Verschwinden der Symptome abzuwarten oder der Diagnose eines Arztes zu vertrauen, dass es nichts Schlimmes ist, sie zweifeln und grübeln weiter. Sie fühlen ja etwas im Körper, was sonst nicht da ist. Sie haben eine kleine Verletzung, Magenprobleme oder Herzrythmusstörungen und sie wissen nicht, was daraus entstehen kann.  Sie fühlen sich ohnmächtig und hilflos bei der Vorstellung, es könnte so kommen wie sie befürchten.

Die Angst ist ja nicht ausgedacht, sie stellt sich bei dem meisten Betroffenen als emotionale Reaktion auf ein unbekanntes oder ein schmerzhaftes Körpergefühl ein.

Nur, die Angst ist meist nicht angemessen, was aber einem Menschen mit Krankheitsangst, auch wenn er das kognitiv weiß, nicht hilft die Angst herunter zu regulieren oder die Überzeugung schlimm krank zu sein rational zu entkräften.

Manche Betroffene haben diese Ängste ständig, bei anderen treten sie in belastenden Lebenssituationen, in Phasen von emotionalem Stress und/oder in seelischen Krisen auf.

 

Das typische Verhalten bei der Krankheitsangst ist die Suche nach absoluter Sicherheit.  

Was wir wissen: Der tiefe Grund der Krankheitsangst ist, ähnlich wie bei der Zwangsstörung, das Verlangen nach absoluter Sicherheit und eine niedrige Toleranzschwelle gegenüber Unsicherheit. Darum ist die Sicherheitssuche für Betroffene so wichtig. Diese besteht darin: Zum Arzt gehen, eine Bezugsperson um Versicherung bitten, dass es nicht so schlimm ist, in der Recherche der Symptome bei Dr. Google und in Selbstuntersuchungen.

Krankheitsangst beinhaltet ein komplexes System der Selbstbeobachtung. 

In der Folge kommt es bei vielen Betroffenen zu Angst, Zwängen, Rückversicherung, Vermeidung, Rückzug und gar zu Isolation. Alle Aufmerksamkeit wird auf den Körper gelenkt und von den eigenen äußeren Empfindungen und inneren Zuständen absorbiert. Es ist ein ständiger Versuch den Körper im Gleichgewicht zu halten. Immer ist da das diffuse Gefühl der Bedrohung von Leib und Leben, verbunden mit dem Erleben von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Kontrollverlust über den eigenen Körper. Die Körperwahrnehmung verändert sich. Das sympathische Nervensystem ist dauerhaft auf einem hohen Erregungsniveau und bildet dann tatsächlich körperliche Symptome aus. Daraus folgt die Überzeugung, dass wirklich etwas nicht stimmt. Alle Aufmerksamkeit wird für Stunden darauf ausgerichtet, getreu dem Motto: Alles, dem wir Aufmerksamkeit widmen, wächst, wachsen die Symptome. Es wird recherchiert bis eine passende Diagnose gefunden ist. Dabei geraten Betroffene in einen Sog mit dem Ziel sich von der Angst zu befreien, werden dabei aber immer weiter in das Angstsystem verstrickt. Die Selbstdiagnose z.B. Darmkrebs bei häufigen Darmproblemen, so erschreckend sie ist, hat paradoxerweise eine angstbindende ordnende Funktion, indem sie für den Moment das Gefühl von Kontrolle herstellt. Das diffuse Gefühl hat jetzt einen Namen. Die Selbstbeobachtung und die Diagnose wirken wie ein inneres Ordnungssystem, das die befürchtete Katastrophe in Schach hält, der letzte Versuch noch irgendwie Kontrolle und Sicherheit zu erlangen und so das innere psychische Gleichgewicht, angesichts einer existentiellen Bedrohung zu halten. Das Gefühl von Sicherheit („Ich weiß jetzt, was es ist“) wirkt dann für den Moment angstreduzierend. Genau diese Sicherheit wird bei der Recherche gesucht. Ein Teufelskreis, der aufgrund der momentanen angstlösenden Wirkung nicht aufgegeben werden kann und wiederholt werden muss. In selteneren Fällen kann Krankheitsangst auftreten, wenn überhaupt keine körperlichen Probleme vorliegen. Es reicht allein die Vorstellung einer Erkrankung aus, um Ängste zu erzeugen. Dann spricht man von einer Krankheitsphobie.

Die Ursachen der Krankheitsangst

Die Forschung zum Thema Krankhietsangst ist noch nicht ganz dahintergekommen, wodurch sich eine solche Störung entwickelt. Vermutlich spielen Persönlichkeitsmerkmale wie hohe Ängstlichkeit sowie die Erziehung eine Rolle. Viele Therapeuten sind davon überzeugt, dass Krankheitsangst etwas Übernommenes oder Erlerntes ist, z.B. von der Mutter, die ständig krank war, oder durch einen Todesfall, der nicht verarbeitet werden konnte, das Aufwachsen in einem Umfeld, das ein unangemessenes Umgehen mit Krankheiten hatte, überbehütende Eltern oder alles zusammen. Eine weitere Annahme: Krankheitsangst ist eine Ablenkung von anderen Problemen und Gedanken an Bedrohliches. Mein Supervisor meinte neulich, als wir darüber sprachen: Wenn man sich damit beschäftigt, dass man möglicherweise schwer krank ist, muss man sich nicht mit anderen Problemen auseinandersetzen. Die Angst krank zu sein fungiert dann wie eine Art Abwehr oder Kompensation um nicht anschauen zu müssen, was wirklich schlimm im eigenen Leben ist. Auch von Langeweile könne man sich unterbewusst ablenken, indem man sich mehrere Stunden am Tag mit möglichen Krankheiten beschäftigt.

Bei jedem Betroffenen ist der Auslöser, sind die Gründe und Ursachen zur Entstehung der Störung andere. Weil jeder Mensch anders ist und keiner auf das gleiche Ereignis gleich reagiert und emotional darauf antwortet.

Eine typische allgemeingültige Ursache gibt es nicht um eine Krankheitsangst zu entwickeln. Aber es gibt eine sehr tief liegende, die die Psychoanalyse als solche erkennt. Die Annahme ist hier: Die befürchtete Krankheit ist der Behälter für das Unerträgliche, das ein Mensch sich trägt. Im Kern geht es bei der Krankheitsangst um die Angst vor der eigenen Auslöschung,  dem Ich-Verlust, um Todesangst. Eine Krankheit kommt bei Betroffenen dem psychischen Zusammenbruch gleich. In jedem Symptom, in jeder Befürchtung steckt gefühlt der Kern des totalen Ausgeliefertseins, des totalen Kontrollverlustes, der Auslöschung. Im Grunde ist die Angst und die Beschäftigung damit der untaugliche Versuch ein Gefühl von Sicherheit herzustellen, das nie erfahren wurde. Mit anderen Worten: Krankheitsangst ist, nach der psychoanalytischen Auffassung, der sich wiederholende Versuch der nachträglichen Bewältigung eines sehr frühen psychischen Zusammenbruchs.

Was Menschen mit starker Krankheitsangst in der Kindheit fehlte ist die Erfahrung einer Halt und Sicherheit gebenden Bindungsperson. Das, was in der Krankheitsangst befürchtet wird, ist längst passiert: Die Erfahrung existentieller, katastrophisch-traumatischer Verlassenheit, die Erfahrung von Auflösung und Todesangst. Die Erfahrung mit Bezugspersonen, die das Kind in seiner inneren Not alleingelassen haben, Bindungspersonen, die emotional abwesend und/oder emotional nicht erreichbar und haltgebend waren, oder im schlimmsten Falle - das Kind emotional vernichtet haben. 

 

Eine emotionale Regulierung über die Zuwendung einer Bindungsperson ist nie gelungen. Stattdessen - Verlassenheitserfahrung durch fehlenden Halt, mangelnde Zuwendung und Liebe.  

Die unbewusste innere Überzeugung ist: Ich bin ganz allein. Ich muss mich auf mich selbst verlassen können und dazu brauche ich einen gesunden, starken, funktionierenden Körper (als schützendes Gefäß für meine fragile Seele). Kann ich mich auf ihn nicht verlassen, kann ich mich auf nichts verlassen. Dann bin ich verloren. Ich muss gesund sein, sonst bin ich abhängig von Fremden, denen ich ausgeliefert bin und von denen ich nicht weiß, ob sie es gut mit mir meinen. Dann muss ich im Zweifel sterben. Wahr ist: Die Seele dieses Menschen ist als Kind längst gestorben. Sprich: Der Teil, der erfahren hat: Ich bin in meiner Not mutterseelenallein.

In der Krankheitsangst bildet sich dann als Bewältigungsversuch des kindlichen Traumas ein inneres System der Selbstregulation, das auf Autonomie setzt. Die Verlassenheitsängste sind quasi in die Krankheitsangst verbaut, wo Gefühle wie Ohnmacht, Hilflosigkeit und die existentiell bedrohliche Erfahrung von Getrenntsein und existentieller Vernichtung, mittels Selbstbeobachtung und Kontrolle in Schach gehalten werden. Der tiefe Grund der Krankheitsangst ist wie bei der Zwangsstörung, das Verlangen nach emotionaler Sicherheit, allerdings mit den falschen Mitteln. Was Menschen mit Krankheitsangst wieder und weder befürchten, ist längst geschehen, aber nicht verarbeitet worden.

Wenn Krankheitsangst als psychische Störung vorliegt, schaffen es Betroffene in den meisten Fällen nicht alleine sie zu überwinden. Was sie vor allem brauchen ist das Erleben einer sicheren, haltgebenden Beziehung, die ihnen als Kind gefehlt hat. Darum ist es empfehlenswert eine Therapie zu beginnen um im Nachhinein die Erahrung einer sicheren Bindung zu machen. Ziel jeder Art von Therapie ist: Einen angemessenernUmgang mit dem Körper und Körpersymptomen zu etablieren, um das Vertrauen in den eigenen Körper und in die eigenen Bewältigungsstrategien zu erlangen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 23. Januar 2023

Was kann ich beinflussen?

 


„Ich habe das Gefühl ich kann nichts beeinflussen“, das höre ich des Öfteren in der Praxis.

Und dann frage ich: Ist das wirklich wahr?

Es ist natürlich nicht wahr.

 

Es gibt viel, was wir beeinflussen können. Es gibt viel, was in unserem Einflussbereich liegt. 

 

Was kann ich beeinflussen?

Meine Werte.

Meine Lebensweise.

Meine Gewohnheiten.

Meine Einstellungen.

Mein Bewusstsein.

Meine Denkweise.

Meine Sichtweise.

Meine Gedanken.

Meine Gefühle.

Meine Überzeugungen. 

Meine Glaubensmuster.

Mein Verhalten.

Meine Handlungen.

Meine Angst.

Meine Freude.

Meinen Humor.

Meinen inneren Frieden.

Meine Gelassenheit.

Meine Zufriedenheit.

Meine Geduld. 

Meine Akzeptanz.

Meine Bereitschaft.

Meine Philosophie.

Mein Wissen.

Meine Selbstfürsorge.

Meine Selbstwahrnehmung.

Mein Selbstwertgefühl.

Meine Selbstachtung.

Meine Selbstliebe.

Meine Prinzipien.

Meine Energie.

Meine Kraft.

Meine Güte.

Meine Wahrhaftigkeit.

Meine Dankbarkeit.

Mein Gottvertrauen.

Meine Ziele.

Meine Vision.

Die Art und Weise, wie ich spreche und mich bewege.

Die Art und Weise, wie ich mit mir selbst und anderen umgehe.

Die Art und Weise, wie ich mit meiner Vergangenheit umgehe.

Die Art und Weise, wie ich mein Jetzt gestalte.

Die Art und Weise, wie ich mich in Beziehungen verhalte.

Die Art und Weise, wie ich Werte für mich definiere und lebe.

Die Art und Weise, wie ich auf das, was mir begegnet reagiere.

Die Art und Weise, in der ich mich orientiere.

  

Das ist doch eine Menge!

 

Denke und handle im Kern deines Einflussbereiches und du wirst staunen, wie viel möglich ist, von dem du nicht einmal wusstest, dass es möglich ist.

 



Freitag, 20. Januar 2023

Bedeutung

 

                                                                  Foto: www
 

Unsere Handlungen gewinnen an Bedeutung, 
wenn wir achtsam und im Kontakt mit uns selbst sind.
Sonst sind sie leer.
Ich kann Wasser auf eine Pflanze gießen.
Dann ist es inhaltsleeres Tun.
Ich kann eine Pflanze mit Wasser versorgen.
Dann ist es fürsorgliches Tun.
Der Unterschied liegt in der Absicht in der ich handle.
Fehlt es der Handlung an Essenz, ist sie ohne Bedeutung.

Donnerstag, 19. Januar 2023

Aus der Praxis: Bedürfnisse

                                                       

Unsere tiefsten Bedürfnisse sind im Grunde genommen ganz simpel:
Ich möchte geliebt werden.
Ich möchte gesehen werden.
Ich brauche Kontakt. 
 

Bedürfnisse, die unerfüllt sind, sind nur schwer auszuhalten.

Es nutzt nichts, sie von Außen einzufordern.

Es nutzt nichts, meinen Frust über meine unerfüllten Bedürfnisse auszuagieren und das, was mir fehlt, von anderen einzufordern, letztlich aber nie zu bekommen, was ich will. Es nutzt nichts, andere in meinem Umfeld wegen meiner unerfüllten Bedürfnisse zu manipulieren, unter Druck zu setzen oder sie schuldig zu sprechen. Schuldzuweisungen führen in die Opferhaltung und nicht heraus, wenn ich bereits drin stecke.

 

Es nutzt nach Innen zu gehen und mich zu fragen:

Was ist mir nicht bewusst?

Was ist mein Anteil daran, dass meine Bedürfnisse unerfüllt sind?

Was habe ich nicht erlöst?

Was habe ich noch nicht unternommen um mein Trauma zu verarbeiten?

Wofür übernehme ich keine Verantwortung?

Worum kümmere ich mich nicht?

Wovon bin ich nicht genesen?

Woran darf ich noch arbeiten?

Woran, an welcher Überzeugung, an welcher Geschichte, die ich mir über mich selbst erzähle, halte ich fest?

Kann ich die Dinge anders bewerten?  

Kann ich mir selbst geben, wonach ich bedürftig bin?

Kann ich anderen geben, wonach ich bedürftig bin?

Wenn ich keine Lösungen finde: Bin ich bereit mir Hilfe zu suchen?

 

Wenn Du Unterstützung suchst, schreib mir jetzt eine Mail unter: aw@wende-praxis.de

 


Mittwoch, 18. Januar 2023

Wandel

 

                                                                       Foto: www

 

„Ich mache ein bisschen Yoga, dann meditiere ich ab und zu. Dann mache ich noch mein ein Coaching neben meiner wöchentlichen Therapiestunde und meine Heilpraktikerin besuche ich regelmäßig ein Mal im Monat. Ach ja, und dann frage ich noch meine Astrologin wie die Sterne stehen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Und nichts wird anders. Ich finde einfach nicht zu mir selbst. Dabei mache ich doch so viel.“

 

Zu viel. Du machst zu viel!

Du probierst herum. Nimmst da ein Häppchen und dort ein Häppchen und wirst nicht satt. Dieses Verstreuen deiner Energie und deiner Aufmerksamkeit kann dir nichts bringen.

Selbstfindung hat nichts damit zu tun viel zu machen.

Es hat damit zu tun einen Weg zu wählen und ihn kontinuierlich zu gehen.

Der Weg zum Wandel verlangt Klarheit und Konsistenz. Konsitenz – dran bleiben -  ist der wichtigste Motor des Wachstums.

Wachstum ist schwer. Das weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung. Es ist voller Phasen des Zweifels, der Unsicherheit, der Ängste und der Rückschläge und es bedeutet Anstrengung. Es ist anstrengend dabei zu bleiben. Und es erfordert viel Geduld mit uns selbst und ja, auch Disziplin. Aber genau das ist der Weg.

Er beginnt mit einer klaren Entscheidung. Er braucht einen klaren Fokus, ein klares Verfolgen eines konkreten Zieles, bewusste Konzentration und nicht: Zerstreuung der Kräfte. Entscheidend ist das Erleben des prozesshaften Geschehens auf diesem einen gewählten Weg.

Geh ihn allein oder wähle einen Begleiter.

Wähle nicht viele Begleiter.

Wähle einen Begleiter, dem du vertraust.

Wählst du viele Begeiter von denen jeder einen anderen Weg verfolgt, führt der Weg in die Verwirrung.


Klarheit und Konzentration auf einem Weg.

So geht Wachstum und Wandel.

 

 



 

 

Dienstag, 17. Januar 2023

Dont give up – before you felt it.

 

                                                                     Foto: Pixybay

 
„Ich bin liebenswert, nicht für das, was ich tue. Ich bin liebenswert für das, was ich bin“
Dieser Satz ist ein großer Schritt hin zu dir selbst.
Dieser Satz nützt dir nichts, wenn du ihn aufsagst, morgens vorm Spiegel zum Beispiel. Du kannst ihn dir hundert Mal, tausend Mal vorsagen, wie ein Mantra vor dich hersingen, dir dabei in die Augen sehen und ihn nicht fühlen.
Wenn du ihn nicht fühlst, fühlst du es nicht.
 
Es gibt Menschen, die sagen: „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich“, ist ein heiliger Satz für mich.
Glaubst du ihnen? Glaubst du ihren Worten?
Ja, du willst ihnen glauben. Denn es ist das Schönste, was ein Mensch dir sagen kann.
Aber glauben ist nicht fühlen.
Du fühlst, dass dieser Satz wahr ist, wenn ihm Taten folgen. 
Wenn du erlebst, dieser Mensch fühlt, was er sagt, er will, dass es dir gut geht und er tut dir Gutes. Er tut dir gut. Dann fühlst du seine Liebe. Dann glaubst du nicht, dann weißt du, dass seine Liebe wahrhaftig ist. Und so ist es mit der Liebe zu dir selbst: Wenn du sie fühlst, weißt du es.
 
 
„Dont give up – before you felt it.“
Stuart Alpert

Sonntag, 15. Januar 2023

Kummer

                                                      


                                                         Aquarell: Alexander Szugger 

 

„Ich habe Kummer. Ich hab so großen Kummer, dass ich es nicht mehr aushalte. Ich traue mich kaum es zu sagen, aber ich habe das Gefühl, das Leben ist gemein. Es behandelt mich unfair. Ich weiß, das klingt undankbar, aber ich fühle es so. Das habe ich nicht verdient. Alles kaputt. Beziehung kaputt, Vertrauen kaputt, niemand mehr mit dem ich mich verbunden fühle. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage: Was habe ich getan, dass mich Gott verlassen hat?“

 

Was meine Klientin sagt, kann ich nachfühlen. Ich kenne Kummer und ich kenne auch diese Gedanken, die dann hochkommen. Das Gefühl selbst schuld zu sein, dass mir das passiert. Das Gefühl von Gott verlassen zu sein, wenn zerbröselt, was mir lieb ist. Das Gefühl vom Leben ungerecht behandelt zu werden.

 

Aber es hilft nichts, wenn wir glauben, dass uns Ungerechtigkeit wiederfährt. Es hilft nichts, wenn wir glauben von Gott verlassen zu sein oder, dass wir selbst Schuld daran sind wennn uns Leid widerfährt. Wenn wir aus dem Tal der Tränen mit klarem Blick auf das schauen was ist, dann wissen wir das tief drinnen. Dinge geschehen. Auch leidvolle Dinge geschehen, jedem von uns. Das ist Leben. Wissen heißt nicht glauben. Wissen heißt nicht: Ich komme damit super klar. Wissen heißt auch: Ja, es gibt Dinge, mit denen komme ich nicht klar. Jedenfalls nicht ohne weiteres. 

Das ist okay.

 

Wie oft dachte ich, ich bin stärker, als ich es war. Ich habe mir etwas vorgemacht um meine eigene Schwäche nicht spüren zu müssen.   

Ich habe mir gesagt, mein Anspruchsdenken und meine Erwartungen an das Leben führen mich in die Falle des Egos. Stimmt auch. Aber mein Ego ist auch ein Teil von mir. Und dann ist da noch dieses Kind in mir, das will, dass es endlich glücklich sein darf, das es satt hat zu leiden, das sich als ewiges Opfer fühlt. Wenn beide Kummer haben, ist all mein gescheites Rationalisieren erst einmal wirkungslos, dann tut es einfach verdammt weh.

Und das ist okay. 

 

Mein Ego darf jammern und wollen, mein Inneres Kind darf sich mutterseelenallein und verlassen fühlen. Die Erwachsene darf sich schwach fühlen. All das darf sein. 

Ich darf meine Gefühle fühlen und sie ausdrücken, den Kummer und die Enttäuschung zulassen. Ich darf weinen. Tränen sind ein heilsamer Regen, der die verkümmerte innere Landschaft zu neuem Leben erweckt.

Und es wird sein – Neues in meinem Leben. Bis dahin bin ich am wachsen. An allem kann ich wachsen. Wir alle können wachsen. Wie groß der Verlust auch sein mag.

Aber ich wachse nicht, wenn ich krampfhaft an der Auffassung festhalte, dass das Leben ungerecht zu mir ist und mich all den anderen Gedanken, die mich in den emotionalen Sumpf ziehen festkralle. Irgendwann darf ich loslassen. Tue ich es nicht, lastet der Alpdruck weiter auf meiner Brust und hindert mich daran frei zu atmen. Irgendwann darf ich die Opferhaltung aufgeben, mein Jetzt, egal wie beschissen es gerade ist, wieder in die Hand nehmen und die Verantwortung übernehmen für meinen Anteil. Ich bin kein Opfer, ich bin eine Heldin unterwegs auf dem Weg meines Lebens. Und eines Tages, wenn der Kummer kleiner geworden ist, werde ich auf diese Erfahrung zurückblicken und wissen: Auch das ging vorüber. Ich bin da durch gegangen. Ich kann mich auf mich verlassen. Wenn ich das erfahren habe, bin ich niemals verlassen.

Samstag, 14. Januar 2023

Aus der Praxis: Das Warum des Warum bringt uns nicht unbedingt weiter

 


 

Das Warum des Warum bringt uns nicht unbedingt weiter.

Jede Antwort auf das Warum ist eine Deutung, an die ich glauben kann oder nicht.

Die Tatsache, dass ich als Kind nicht geliebt wurde, ist von klärender Bedeutung, aber sie hilft mir nichts, um von der Lieblosigkeit zu genesen. Sie hilft mir nicht, meinen Schmerz kleiner zu machen. Sie hilft mir nicht, um zu genesen. Verstehen ist gut, aber bringt noch keine Genesung.

 

Wenn ich um das Warum weiß, dass ich nicht geliebt wurde, frage ich mich weiter: Warum wurde ich nicht geliebt?

Ich suche weiter nach Antworten, die ich nicht finden kann, weil die, die mich nicht liebten sie mir nicht geben können oder geben wollen. Wieder versuche ich zu deuten. Ich mache Konstruktionen. Die Fragen lassen mich nicht los. Ich stelle weiter Fragen. Ganz gleich wie lange ich das tue: Eine wirkliche Antwort werde ich nicht finden. Die Wahrheit werde ich nie erfahren.

Irgendwann lasse ich es gut sein. Ich lasse es gut sein, weil ich mir bewusst werde, dass ich sinnlose Energie und Kraft auf Vergebliches verschwende.

Ich wende mich dem zu, was ich fühle. Ich lasse zu, was ich fühle. Ich bedauere, dass ich nicht geliebt wurde und trauere darum. Das braucht Zeit und das bringt viel blockierten Schmerz nach Oben.

Das ist der Punkt an dem viele Menschen eine Therapie abbrechen. Es ist genau der Punkt an dem eine Veränderung sattfindet. Es fällt ihnen schwer das aufzugeben, was ihnen bisher bei allem Leid, paradoxerweise eine Art Sicherheit gegeben hat. Ja, das aufzugeben ist schwer. 

 

Dont push the river – it flows by itself,  sagt Fritz Pearls. 

Wenn ich aber weiter mache, wenn ich dem heilsamen Prozess Vertraue schenke und mir erlaube: Der Schmerz darf sein, endlich darf er da sein, wird er sich auflösen, wenn er lange genug sein darf. Ich warte geduldig bis er kleiner wird. Ich warte bis die Blockade sich auflösen will. Ich trete mir selbst mit Mitgefühl und Güte entgegen.

Und dann treffe ich eine Entscheidung: Ich bin bereit es zu akzeptieren, was ich nicht nicht ändern kann. Ich bin bereit, es zunächst einfach so hinzunehmen wie es ist, auch wenn es widersinnig erscheint und meinen gewohnten Gedanken widerspricht. Ich erkenne an, dass das, was ich mit meinem "Warum" fassen will, nicht zu fassen ist. 

Ich lasse los.

Ich lasse los, denn ich habe gelernt, wie hilfreich es ist, meinen Verstand mit seinen Geschichten, Interpretationen und Gedanken ebenso loszulassen wie die Unterdrückung, die Kompensation oder die Abspaltung meiner Gefühle. Stattdessen habe ich gelernt wie sinnvoll und heilsam es ist mich auf mein inneres Empfinden zu konzentrieren, ohne diesen Prozess voranzutreiben oder zu unterdrücken. Ich habe gelernt mich selbst anzuehmen und mir die Liebe zu geben, die ich einst nicht bekommen habe. 

Warum auch immer.

 

 

 

 

Donnerstag, 12. Januar 2023

Aus der Praxis: Angst ist keine Entscheidung!

 

                                                                  Foto: A. Wende

 

Angst ist eine Entscheidung!

Immer wieder lese ich das und eine Menge Leute versprechen Menschen die Heilung von Angst  mittels der Macht der Gedanken. Oder sie behaupten: Wenn du in der Liebe bist, hast du keine Angst. Krass, was man damit einem Menschen, der unter Ängsten leidet suggeriert: Lieblosigkeit und falsches Denken. Leute, denke ich dann, ihr habt leider einen sehr begrenzten, ignoranten Blick. 


Angst ist keine Entscheidung. Angst ist ein Gefühl und zwar eines unserer Grundgefühle.

Gefühle treten wie andere Reaktionen unseres Organismus als Reaktionen

auf äußere oder innere Reize, wie z. B. Vorstellungen, Wahrnehmung von Reizen im Körperinneren, auf und benötigen zur vollen Ausprägung ein funktionierendes vegetatives Nervensystem, zusätzlich zum Zentralnervensystem und zum peripheren Nervensystem. Angst stellt wie jede andere Emotion ein bestimmtes Reaktionsmuster auf drei Ebenen dar (physiologisch, motorisch, subjektiv) und ist durch die Summe der Veränderungen auf allen drei Ebenen in einer umschriebenen Reizsituation definiert. Durch die Hirnforschung wissen wir, dass dem subjektiven Erleben von Angst ein spezifisches Muster neurophysiologischer und vegetativer Vorgänge zugrunde liegt. 

 

Angst ist ein mehrdimensionales System. Sie hat immer eine Vor-und Entwicklungsgeschichte.

Wir alle kennen Ängste. Sie sind uns angeboren und in unserer menschlichen Entwicklung notwendig, denn Ängste helfen uns in gefährlichen Situationen angemessen zu reagieren. Evolutionsgeschichtlich hat Angst eine wichtige Funktion als ein die Sinne schärfender und Körperkraft aktivierender Schutz- und Überlebensmechanismus, der in Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet. Angst funktioniert quasi wie eine natürliche Alarmanlage. Sie ist ein Wächtersystem, das die Sensibilität für mögliche Gefahren schärft.

 

Jeder Mensch hat Angst, hat Angst erlebt und erlebt Angst. Und jeder von uns bringt eine bestimmte Angstdisposition mit.  

Wir wissen längst, die Tendenz zu ängstlichem Verhalten kann genetisch weitergegeben werden. So haben frühe Erfahrungen im Mutterleib, wie z.B. eine gestresste Mutter in der Schwangerschaft, perinatale und postnatale Ereignisse, die Mutter-Kind-Beziehung, die Dauer der Stillzeit, einen grundlegenden Einfluss auf die Art und den Grad der Angst, die wir entwickeln. Eine intensive Angsterfahrung in frühen Entwicklungsphasen kann zu bleibenden Verhaltens- und Funktionsstörungen führen. Wie sich diese dann im Laufe des Lebens weiter entwickeln hängt von vielen Faktoren ab.

 

Jede Erfahrung, die wir machen, bildet im Gehirn neuronale Muster. Je früher und je häufiger wir sie machen,  umso tiefer prägen sich diese ein.

Ein lerntheoretisches Modell von Angstentstehung und Angstaufrechterhaltung ist die Zwei-Faktoren-Theorie des amerikanischen Psychologen Orval Hobart Mowrer.

Dabei geht Mowrer von Folgendem aus:

Zum einen: Die Klassische Konditionierung, die besagt, Angst entsteht, indem ein ursprünglich neutraler Reiz durch zeitgleiches Auftreten mit einer gefühlten Angstreaktion zum konditionierten Angstreiz wird.

Zum anderen: Die Operante Konditionierung, die besagt, dass es durch die Vermeidung des klassisch konditionierten Angstreizes zur Reduktion von Angst und Anspannung kommt und dadurch zur negativen Verstärkung und Aufrechterhaltung des Vermeidungsverhaltens und der Erwartungsangst. Mit anderen Worten: Angst ist eine erworbene Störung, die durch eine Kombination dieser beiden Faktoren entsteht und persistiert. Ein unkonditionierter Stimulus wird durch die Assoziation mit einer unkonditionierten Reaktion zu einem konditionierten Stimulus, also zum Angstauslöser. 

 

Angst steht am Beginn vieler neurotischer Störungen wie z.B. Phobien, soziale Ängste, Krankheitsangst, Zwangserkrankungen, Tics, Hysterie, Borderline, Panikattacken. Die Reduktion der Angst durch Vermeiden hält diese Störungen aufrecht. Dasselbe gilt für psychosomatische Störungen, deren Ursache lang anhaltende erhöhte Stressaktivierung durch unvorhersagbare oder unkontrollierbare Lebensumstände darstellt. Auch am Anfang vieler Abhängigkeiten und Süchte, besonders des Alkoholismus, steht die angstreduzierende Funktion des Suchtmittels. 

 

Vier Grundängste, die uns viel über uns selbst sagen. 

1961 schrieb der Psychologe und Psychoanalytiker Fritz Riemann die Erfahrungen und Erkenntnisse aus seiner analytischen Arbeit zum Thema Angst in dem Buch „Grundformen der Angst“ nieder. Dieses Buch ist ein psychologischer Klassiker, dessen Wahrheiten heute durch die Hirnforschung gestützt werden. Riemann erkannte vier Grundängste, die jeder von uns als Kleinkind durchlebt und die unsere späteren Ängste und unseren typischen(Angst)Charakter formen. 

Diese vier Grundängste charakterisiert er wie folgt:

  • Der schizoide Charakter: Angst vor der Hingabe. Diese Angst führt dazu, Nähe zu meiden. Die schizoide Persönlichkeit strebt nach Distanz.
  • Der depressive Charakter: Angst vor der Selbstwerdung. Diese Angst lässt Menschen ständig die Nähe zu anderen Menschen suchen. Die depressive Persönlichkeit strebt nach Zuneigung und Verbundenheit.
  • Der zwanghafte Charakter: Angst vor Veränderung. Diese bedingt, dass ein Mensch Chaos und Veränderung nur schwer ertragen kann. Alles soll genau so bleiben wie es ist. Die zwanghafte Persönlichkeit strebt nach Dauer und Beständigkeit.
  • Der hysterische Charakter: Angst vor der Notwendigkeit. Sie bedingt, dass die Angst verhindert Verantwortung im Leben zu übernehmen. Die hysterische Persönlichkeit strebt nach Wechsel und Neuerung.

 

Wir sehen: Angst ist keine Entscheidung. Unsere Fähigkeit Angst zu empfinden, ist zum Teil angeboren und zum Teil konditioniert. Der Umgang mit unserer Angst nicht. Wie ein Mensch mit seiner Angst lebt und umgeht, hängt davon ab, was er wann und wo erlebt, gefühlt und erlernt hat. Je angstauslösender es war, desto tiefer sitzt die Angst. Diesem Menschen zu sagen: Angst ist eine Entscheidung!, ist weder hilfreich noch zielführend, sondern vielmehr Ausdruck des Nichtwissens über das mehrdimensionale System Angst. 

 

Sind wir nun unserer Angst machtlos augeliefert? 

Nein. Alles Erlernte kann man verlernen. Auch das stimmt so nicht ganz. Die Amygdala vergisst nichts. Auch die beste Therapie kann nichts löschen, sie kann aber helfen umzulernen. Jedes Umlernen ist ein Überlernen. Das braucht Bereitschaft, Geduld, Übung und Zeit. 

 

„Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Lieben. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinander zu setzen, sie immer neu zu besiegen.“ 

 

Fritz Riemann