Foto: A. Wende
Angst ist eine Entscheidung!
Immer wieder lese ich das und eine Menge Leute versprechen Menschen die Heilung von Angst mittels der Macht der Gedanken. Oder sie behaupten: Wenn du in der Liebe bist, hast du keine Angst. Krass, was man damit einem Menschen, der unter Ängsten leidet suggeriert: Lieblosigkeit und falsches Denken. Leute, denke ich dann, ihr habt leider einen sehr begrenzten, ignoranten Blick.
Angst ist keine Entscheidung. Angst ist ein Gefühl und zwar eines unserer Grundgefühle.
Gefühle treten wie andere Reaktionen unseres Organismus als Reaktionen
auf äußere oder innere Reize, wie z. B. Vorstellungen, Wahrnehmung von Reizen im Körperinneren, auf und benötigen zur vollen Ausprägung ein funktionierendes vegetatives Nervensystem, zusätzlich zum Zentralnervensystem und zum peripheren Nervensystem. Angst stellt wie jede andere Emotion ein bestimmtes Reaktionsmuster auf drei Ebenen dar (physiologisch, motorisch, subjektiv) und ist durch die Summe der Veränderungen auf allen drei Ebenen in einer umschriebenen Reizsituation definiert. Durch die Hirnforschung wissen wir, dass dem subjektiven Erleben von Angst ein spezifisches Muster neurophysiologischer und vegetativer Vorgänge zugrunde liegt.
Angst ist ein mehrdimensionales System. Sie hat immer eine Vor-und Entwicklungsgeschichte.
Wir alle kennen Ängste. Sie sind uns angeboren und in unserer menschlichen Entwicklung notwendig, denn Ängste helfen uns in gefährlichen Situationen angemessen zu reagieren. Evolutionsgeschichtlich hat Angst eine wichtige Funktion als ein die Sinne schärfender und Körperkraft aktivierender Schutz- und Überlebensmechanismus, der in Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet. Angst funktioniert quasi wie eine natürliche Alarmanlage. Sie ist ein Wächtersystem, das die Sensibilität für mögliche Gefahren schärft.
Jeder Mensch hat Angst, hat Angst erlebt und erlebt Angst. Und jeder von uns bringt eine bestimmte Angstdisposition mit.
Wir wissen längst, die Tendenz zu ängstlichem Verhalten kann genetisch weitergegeben werden. So haben frühe Erfahrungen im Mutterleib, wie z.B. eine gestresste Mutter in der Schwangerschaft, perinatale und postnatale Ereignisse, die Mutter-Kind-Beziehung, die Dauer der Stillzeit, einen grundlegenden Einfluss auf die Art und den Grad der Angst, die wir entwickeln. Eine intensive Angsterfahrung in frühen Entwicklungsphasen kann zu bleibenden Verhaltens- und Funktionsstörungen führen. Wie sich diese dann im Laufe des Lebens weiter entwickeln hängt von vielen Faktoren ab.
Jede Erfahrung, die wir machen, bildet im Gehirn neuronale Muster. Je früher und je häufiger wir sie machen, umso tiefer prägen sich diese ein.
Ein lerntheoretisches Modell von Angstentstehung und Angstaufrechterhaltung ist die Zwei-Faktoren-Theorie des amerikanischen Psychologen Orval Hobart Mowrer.
Dabei geht Mowrer von Folgendem aus:
Zum einen: Die Klassische Konditionierung, die besagt, Angst entsteht, indem ein ursprünglich neutraler Reiz durch zeitgleiches Auftreten mit einer gefühlten Angstreaktion zum konditionierten Angstreiz wird.
Zum anderen: Die Operante Konditionierung, die besagt, dass es durch die Vermeidung des klassisch konditionierten Angstreizes zur Reduktion von Angst und Anspannung kommt und dadurch zur negativen Verstärkung und Aufrechterhaltung des Vermeidungsverhaltens und der Erwartungsangst. Mit anderen Worten: Angst ist eine erworbene Störung, die durch eine Kombination dieser beiden Faktoren entsteht und persistiert. Ein unkonditionierter Stimulus wird durch die Assoziation mit einer unkonditionierten Reaktion zu einem konditionierten Stimulus, also zum Angstauslöser.
Angst steht am Beginn vieler neurotischer Störungen wie z.B. Phobien, soziale Ängste, Krankheitsangst, Zwangserkrankungen, Tics, Hysterie, Borderline, Panikattacken. Die Reduktion der Angst durch Vermeiden hält diese Störungen aufrecht. Dasselbe gilt für psychosomatische Störungen, deren Ursache lang anhaltende erhöhte Stressaktivierung durch unvorhersagbare oder unkontrollierbare Lebensumstände darstellt. Auch am Anfang vieler Abhängigkeiten und Süchte, besonders des Alkoholismus, steht die angstreduzierende Funktion des Suchtmittels.
Vier Grundängste, die uns viel über uns selbst sagen.
1961 schrieb der Psychologe und Psychoanalytiker Fritz Riemann die Erfahrungen und Erkenntnisse aus seiner analytischen Arbeit zum Thema Angst in dem Buch „Grundformen der Angst“ nieder. Dieses Buch ist ein psychologischer Klassiker, dessen Wahrheiten heute durch die Hirnforschung gestützt werden. Riemann erkannte vier Grundängste, die jeder von uns als Kleinkind durchlebt und die unsere späteren Ängste und unseren typischen(Angst)Charakter formen.
Diese vier Grundängste charakterisiert er wie folgt:
- Der schizoide Charakter: Angst vor der Hingabe. Diese Angst führt dazu, Nähe zu meiden. Die schizoide Persönlichkeit strebt nach Distanz.
- Der depressive Charakter: Angst vor der Selbstwerdung. Diese Angst lässt Menschen ständig die Nähe zu anderen Menschen suchen. Die depressive Persönlichkeit strebt nach Zuneigung und Verbundenheit.
- Der zwanghafte Charakter: Angst vor Veränderung. Diese bedingt, dass ein Mensch Chaos und Veränderung nur schwer ertragen kann. Alles soll genau so bleiben wie es ist. Die zwanghafte Persönlichkeit strebt nach Dauer und Beständigkeit.
- Der hysterische
Charakter: Angst vor der Notwendigkeit. Sie bedingt, dass die Angst
verhindert Verantwortung im Leben zu übernehmen. Die hysterische
Persönlichkeit strebt nach Wechsel und Neuerung.
Wir sehen: Angst ist keine Entscheidung. Unsere Fähigkeit Angst zu empfinden, ist zum Teil angeboren und zum Teil konditioniert. Der Umgang mit unserer Angst nicht. Wie ein Mensch mit seiner Angst lebt und umgeht, hängt davon ab, was er wann und wo erlebt, gefühlt und erlernt hat. Je angstauslösender es war, desto tiefer sitzt die Angst. Diesem Menschen zu sagen: Angst ist eine Entscheidung!, ist weder hilfreich noch zielführend, sondern vielmehr Ausdruck des Nichtwissens über das mehrdimensionale System Angst.
Sind wir nun unserer Angst machtlos augeliefert?
Nein. Alles Erlernte kann man verlernen. Auch das stimmt so nicht ganz. Die Amygdala vergisst nichts. Auch die beste Therapie kann nichts löschen, sie kann aber helfen umzulernen. Jedes Umlernen ist ein Überlernen. Das braucht Bereitschaft, Geduld, Übung und Zeit.
„Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Lieben. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinander zu setzen, sie immer neu zu besiegen.“
Fritz Riemann
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