Samstag, 15. Mai 2021

Aus der Praxis – Der Sündenbock oder das "böse" Kind

 

                                                                       Malerei: A. Wende 

 

Die Jagd nach dem Sündenbock ist die einfachste. Dwight D. Eisenhower

 

Das Gefühl von Schuld ist schwer aushaltbar und sucht daher immer nach einem Ventil.

Da ist es eine Entlastung für die Seele, wenn dieses schwer aushaltbare Gefühl auf einen vermeintlich Schuldigen abgewälzt oder verlagert werden kann - auf den Sündenbock, der an allem schuld ist. Kein Mensch und kein Kollektiv will sich schuldig fühlen. Das Abwälzen von Schuld auf andere ist so alt wie die Menschheitsgeschichte, es ist eine menschliche Konstante, die sich durch alle Gesellschaften und Religionen zieht.

 

Sündenbock-Rituale sind uralt und dennoch gehören sie nicht der Vergangenheit an, bis heute werden sie gelebt.

Die Geschichte ist reich an Beispielen für die Suche nach Schuldigen, denen man alles Übel anhängen kann. In den Medien begegnen sie uns Tag für Tag. So postuliert der Kulturanthropologe René Girard, der sich dem Thema Sündenbock in seinem Werk ausgiebig gewidmet hat, gar die Existenz einer fundierenden Erfahrung, die gezeigt hat, dass die Gewaltspirale eines Kollektives durch die Opferung eines Sündenbocks unterbrochen wird. 

 

Zitat: „Wenn die Gewalt in einer Gruppe einen Punkt erreicht, in dem alle die Gewalt aller nachahmen und das Objekt, das die Rivalität ausgelöst hat, „vergessen“ ist, stellt das Finden eines als schuldig empfundenen Individuums eine einheitsstiftende Polarisierung der Gewalt dar. Die Tötung oder die Ausstoßung des zum „Schuldigen“ erkorenen Sündenbocks reinigt die Gruppe von der Gewaltseuche, weil diese letzte – gemeinsam vollbrachte – Gewaltanwendung keine Rache mit sich bringt. Da auch das Objekt, das die Krise ausgelöst hat, vergessen ist, ist die Reinigung durch die Opferung des Sündenbocks vollständig. Insofern die Auswahl des Sündenbocks eine mutwillige oder auch zufällige ist, ist der Sündenbock austauschbar: Seine Bedeutung für die Gruppe besteht in der durch ihn wiederhergestellten Einmütigkeit. Gleichzeitig ist aber der vernichtete Sündenbock in seiner „heilbringenden Abwesenheit“ einzigartig und unaustauschbar.“

 

Kulturanthropologisch gesehen stammen wir also aus Zeiten, die Sündenböcke benötigt und benutzt haben.

Bedauerlicherweise haben wir nichts dazu gelernt. Die Geschichte lehrt: Der Mensch ist auch hier unveränderbar. Er ist nicht fähig und nicht willens Verantwortung für die eigene Fehlbarkeit und die eigene Schuld auf sich zu nehmen, weil er nicht fähig ist diese Gefühle auszuhalten. Er braucht den Sündenbock als Objekt der Abwehr des Unaushaltbaren in sich selbst.

 

So schreibt der Neurologe und Psychiater Ulrich Bahrke, stellvertretender Leiter der klinischen Ambulanz am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt: „Grundsätzlich braucht es in menschlichen Gruppen ab und an Sündenböcke, damit auf diese Weise die erlittene Aggression durch eine Gegenaggression gemildert oder gesühnt werden kann. Immer dann, wenn besondere Schmerz- oder Leidsituationen auftreten, kommen bei den Betroffenen Aggressionen und Schuldgefühle auf, die irgendwo verortet werden müssen.“ 

 

Auf den auserwählten Sündenbock wird alles Schlechte des Eigenen projiziert.

Im richtigen Leben heißt das, wer einmal als Sündenbock auserkoren wird, hat schlechte Karten. So neigen auch Familien dazu sich, bewusst oder unbewusst, einen Sündenbock zu erwählen und das ist das eigene Kind. Dieses Kind, oft ein schwieriges Kind, das irgendwie „anders“ ist, dient als Projektionsfläche für negative Seelenzustände und traumatischen Erfahrungen der Erwachsenen, die diese nicht bearbeitet und gelöst haben. Das Kind wird funktionalisiert um das eigene Verdrängte „Schlechte“ nicht anschauen und aushalten zu müssen. Es wird zum Sündenbock. Dem schwächsten Glied werden somit Gedanken, Gefühle, Eigenheiten und negative Verhaltensweisen eines oder mehrerer Familienmitglieder übertragen.

 

Nicht erst seit C.G Jungs Theorie der Schatten wissen wir: Was uns an anderen missfällt oder was wir an anderen hassen ist fast immer das, was wir selbst uneingestanden sind oder haben. Verdrängtes hat die Neigung von außen zu uns zurückzukehren, mehr noch, wir ziehen dies geradezu an. Zitat Jung: „Wir sind überzeugt, dass gewisse Leute alle jene schlechten Eigenschaften haben, die wir in uns selbst nicht finden, oder dass sie alle jene Laster leben, die natürlich niemals unsere eigenen sein könnten. Wir müssen immer noch äußerst vorsichtig sein, um nicht unseren eigenen Schatten allzu schamlos zu projizieren, und sind immer noch überschwemmt von projizierten Illusionen.“

 

So ist es, wie die Praxis zeigt, möglich, dass das Kind stellvertretend für die das verdrängten Schatten eines oder mehrerer Familienmitglieder diese Schatten auslebt und fatalerweise damit unbewusst die ihm auferlegte Sündenbockrolle erfüllt.

 

In Wahrheit aber ist das „böse“ Kind das Symptom eines kranken Familienkonstruktes.

Je mehr das Konstrukt das „Böse“ verdrängt, desto mehr erfüllt das Kind dieses. Es hält dem Konstrukt den Spiegel vor. Ohne Worte, durch seine Taten und Verhaltensweisen schreit es: "Schaut hin, schaut in den eigenen Spiegel und tut etwas! Helft mir!“

Der stumme Schrei bleibt meist ungehört. Die Spiegelfunktion wird nicht erkannt, sondern führt vielmehr dazu das „böse“ Spiel zu steigern. Der kindliche Spiegel wird „zerschlagen“, durch Stigmatisierung, Demütigung und/ oder Ablehnung. Im schlimmsten Falle durch emotionale oder körperliche Misshandlung. 

So bekämpft mancher Vater seine eigene Schwäche im Sohn, indem er ihn klein macht oder als schlecht bezeichnet, so kritisiert manche Mutter genau die Untugend an ihrer Tochter, die sie in sich selbst verachtet. Auch Erwartungen, die Eltern ihren Kinder gegenüber hinsichtlich der Schullaufbahn oder hegen, beruhen nicht selten auf der Projektion eigener Wunschträume, die sich nicht erfüllt haben.

 

Wer seinem Kind immerfort Lügen vorwirft, der nimmt es selbst mit der Wahrheit nicht genau.

Wer in seinem Kind nur Schlechtigkeit sieht, trägt Schlechtigkeit in sich.

Wer ständig moralisierend über das eigene Kind den Stab bricht, dem fehlt es selbst es an Moral.

Wer sich ständig durch das aggressive Verhalten des Kindes angegriffen fühlt, trägt Aggression in sich selbst.

 

Der kindliche Sündenbock wird überflutet von stetiger Vorverurteilung, Schuldzuweisungen, Ablehnung und Missgunst. Das Kind kann sich nicht wehren und wehrt sich auf seine kindliche Art, indem es sich selbst verurteilt, sich für schlecht hält und so handelt. Das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung beherrscht sein Leben. Es empfindet sich als Sünder und entwickelt einen Sündenbock-Komplex. Egal was es tut, es erlebt sich durch die Reaktion und die Behandlung der Eltern immer wieder als das "schwarze Schaf",  das an allem die Schuld hat und es trägt die Schuld auf seinem kleinen Rücken, im Zweifel, bis er bricht. Es schämt sich seiner selbst, weil es den Erwartungen der anderen nicht genügt. Es ist einsam und verzweifelt. Es fühlt sich schlecht, schuldig und wertlos. Soziale Kontakte zu Gleichaltrigen werden nicht gelebt, denn es hält sich für nicht wertvoll genug um mit den anderen sein zu dürfen. Manche dieser Kinder werden zum Klassenkasper um wenigstens überhaupt wahrgenommen zu werden.

 

In manchen Fällen entwickelt sich so mit zunehmendem Alter ein delinquentes Verhalten.  

Der Sündenbock beginnt dann z.B. die gefühlte innere Leere mit Gegenständen zu füllen. Er beginnt zu stehlen oder er schlägt zu, weil er unbewusst versucht die unterdrückten Aggressionen gegen die übermächtigen Eltern durch Gewalt zu kompensieren, oder er entwickelt den Drang sich selbst auf die verschiedensten Arten zu verletzen um das von den Eltern konditionierte Muster von Schuld und Sühne an sich selbst zu vollziehen.

 

Alle diese unheilsamen Reaktionsweisen und Handlungsmuster sind der verzweifelte Versuch, die unerträgliche Ohnmacht gegenüber den übermächtigen Eltern und das unaushaltbare Gefühl von Schuld zu wandeln um auf unheilsame Weise die eigene Macht wieder zu erlangen.

Die Folge: Das „Problemkind“ wird zum massiven Problem der Familie.

In Wahrheit aber hat es ein Problem, das die Eltern ihm aufgeladen haben und symptomatisiert so das kranke Konstrukt. Fatalerweise gießt es damit Wasser auf die Mühlen seiner „Richter“.  Es erfüllt und bestätigt die ihm übertragene und erwartete Funktion des Sündenbocks. Es erfüllt sie, weil es nicht anders kann. Die Folge: Die anderen behalten Recht und müssen nicht bei sich selbst schauen und an sich selbst arbeiten, denn: Das Kind ist doch das Problem, was sie ja schon immer wussten.

 

Das Böse, in den Sündenbock evakuiert, der als Behälter dient und entgiftend und reinigend wirkt, entledigt die anderen bei sich selbst zu beginnen und ihre eigenen Komplexe zu bearbeiten. Und es hält sogar durch die Übertragungsprojektion ein eigentlich zerstörtes Familienkonstrukt, das sich ohne den Sündenbock längst aufgelöst hätte, zusammen. 

 
Wann aber endet das böse Spiel?

Es endet dann, wenn die Erwachsenen sich sich selbst zuwenden, dann, wenn sie bereit sind zur Einsicht, dass das Problem bei ihnen liegt und das "schlechte" Verhalten des Kindes nur die Folge einer oder mehrerer Ursachen ist, für die es nicht verantwortlich zu machen ist. Es endet dann, wenn Erwachsene beginnen Verantwortung für ihre Schatten zu übernehmen.

Und der Sündenbock?

Ein Sündenbock ist dann kein Sündenbock mehr, wenn die Menschen sich seiner Unschuld bewusst sind.


 

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