Sonntag, 13. März 2011

Blauer Dunst

Die Frau saß in der Nähstube der kleinen Pension, in die sie sich eingemietet hatte und rauchte. Die Wirtin hatte es ihr erlaubt. Sie war freundlich, die dicke Wirtin, die ihr das Frühstück serviert hatte, das sie dann nicht angerührt hatte. Nur den Kaffee hatte sie genommen aus der roten Plastikkanne.

Die Frau dachte daran, wie schwer es ihr selbst fiel freundlich zu sein an diesem Morgen und all den anderen Morgen, an denen sie nicht freundlich sein konnte, auch nicht zu sich selbst. Die Frau war die Mutter eines Sohnes. Sie war in der fremden Stadt, weil der Sohn sie zu seinem Geburtstag eingeladen hatte. Am Tag zuvor war sie angereist mit einer Fahrkarte, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte und einem Geschenk, dass sie sich nicht leisten konnte und dem Gedanken, dass alles zu wenig war. Zu wenig, was sie ihm geben konnte. Der Sohn hatte sich Geld gewünscht.

Sie wünschte sich etwas anderes für den Sohn und das hatte nichts mit Geld zu tun. Was sie sich für ihren Sohn gewünscht hatte war nicht in Erfüllung gegangen. Das Unerfüllte lag auf ihr wie ein Stein und machte das Atmen zur Anstrengung.

So ging es der Frau und wie es dem Sohn ging, wusste sie nicht.

Die Frau rauchte und trank den Kaffee, der stark und bitter war, obwohl sie Milch dazugegeben hatte. Sie fühlte eine so grenzenlose Enttäuschung, dass sie am Liebsten geschrien hätte in dieser kleinen Nähstube zwischen den bunten Stoffballen, die sich in Regalen stapelten, zwischen Bauernstühlen, einer alten Nähmaschine und verstaubten Stoffblumen.

Die Frau dachte, dass sich ihr Leben in diesem Moment genauso anfühlte wie die Stoffblumen, verstaubt und tot. Sie dachte, dass diese Stoffblumen es besser hatten als sie, weil sie niemals gelebt hatten, weil sie immer schon tot gewesen waren und ohne Wünsche, die sterben konnten im Leben.

Die Frau fragte sich, was nach dem Wünschen kam, die unerfüllt geblieben waren. Ihr fiel das Wort Hoffnung ein. Ein Wort, wie ein billiger Ersatz für das sinnlose Wünschen, ein noch sinnloseres Wort als das Wünschenwort, das Hoffnungswort, das bleibt, wenn nichts mehr ist ausser der Traurigkeit.

Sie zog den Rauch der Zigarette in die Lungen, ganz tief, als könne er dieses Loch füllen, das sie spürte, das Loch, das sich anfühlte, als habe sich ein Messer hineingebohrt in ihr Innerstes. Es schmerzte.

Sie fühlte wie das Hoffnungswort sich mit dem Ausstoßen des Nikotins in Rauch auflöste, sah dem blauen Dunst nach, der sich zu den Stoffballen hinzog, sich verflüchtigte, kaum angekommen und auch das tat weh, weil da nichts blieb. Nichts woran sie sich halten konnte. Das Nichts war das Unerträglichste oder auch nicht, denn, wenn da nichts war, konnte auch nichts mehr weh tun. Sie wusste, dass das Nichts auch nur ein Wunsch war, dessen Erfüllung ihr versagt blieb.

Sie nahm einen letzen Zug und sah dem blauen Dunst nach, während sie die Nummer des Sohnes wählte. Der Sohn nahm ab. Die Frau lächelte, als sie seine Stimme hörte.